Читать книгу Die Taube, die nicht hören wollte & Ruhe in Unfrieden! - Rolf Bidinger - Страница 6
ОглавлениеWie alles begann ...
Als ich das Licht der Welt erblickte, verdunkelte sich der Himmel! So schrieb es meine Großmutter liebevoll in mein Poesiealbum. Sie war eine weise und vorausschauende alte Dame.
Ich war ihr erster Enkel und dabei sollte es auch bleiben. Das war die einzige Freude in ihrem Leben. Sie war ein mürrisches altes Weib. Erst als die Demenz völlig von ihr ergriffen war, was sie selbst ja nie war, lächelte sie vor sich hin. Sie schien mich wohl auch vergessen zu haben. Unser Verhältnis war, zeit ihres Lebens, nicht ungetrübt. Ihr Tod war für lange Zeit meine einzige Freude. Sie war damals bei meiner Geburt dabei und nichts hätte mich davon abhalten können, ihr einen Gegenbesuch abzustatten. Der Pfarrer fand auch ganz rührende und wohlmeinende Worte. Und ich dachte immer, die dürften nicht lügen. Da gibt es doch irgendein Gebot.
Muss ich mal googeln!
Aber der Pfarrer erreichte immerhin, mich zum Weinen zu bringen. So sehr musste ich lachen. Beim Schlusssatz des Pfarrers drohte ich fast ins offene Grab zu fallen. Der schwänzte offenbar einen anderen Beruf. Als Komiker war er echt eine Granate. Er beendete seine sicher gut gemeinte Lobhudelei mit den Worten: „Sie war ein Mensch voller Güte!“ Und dieses: „Güte“ war auch das erste Wort, das ich von meiner Großmutter mitbekam. Ich hörte es direkt nach meiner Entbindung. „Meine Güte, das ist ja ein hässliches Kind!“ Sie sagte es zwar leise, kaum zu hören, aber ich glaube, ich bekam es mit. Jedenfalls erzählte es meine Mutter immer gerne. Kein Weihnachten ohne diese Anekdote. So blieb dieser inbrünstige Ausstoß von ihr für immer in mein Hirn einzementiert. Wahrscheinlich verpasst man mir diesen Spruch auch noch als Grabinschrift.
Also, da ist man kaum zwei Minuten auf dieser schönen Welt, dann so ein Spruch und einem wird schlagartig klar: „Wärst du besser mal drin geblieben!“, denn auf so eine Begrüßung war ich nicht vorbereitet. Ich wollte auch sogleich dagegen protestieren, ich war ein frühentwickelter Revoluzzer, aber ich war damals sprachlich noch nicht ganz ausgereift. Also blieb mir nur eine Form, um mich auszudrücken.
Als der Arzt mich in die Hände meiner Großmutter geben wollte, nahm sie mich genauso angewidert an, wie der Arzt mich auch angewidert loswerden wollte. Da zeigte ich ihnen, was in mir steckt und pieselte beide in hohem Bogen an.
Strike! Eins zu null für mich.
Meine Mutter bestreitet heute noch, dass die Schwester, die mich Waschen musste - sie soll beim Streichholzziehen den Kürzeren gezogen haben - mich fallen ließ.
Ich hätte auch vorher schon so ausgesehen! Gewundert hätte es mich allerdings nicht. Ich war und bin von jeher ein Pechpilz. Der legitime Nachfahr von Hiob! Hiob kennen sie nicht? Dann müssen sie in der Bibel nachschlagen. Der hat noch kein Facebook-Profil.
Zu meinem Vater entwickelte ich auch keine wirkliche Beziehung. Das Band der Liebe hatte er sehr früh zerrissen, noch im Kreißsaal. Er hat aus Enttäuschung über das Ergebnis seines Ejakulats, die Nabelschnur durchgebissen. Noch am gleichen Tag unterzog er sich einer Vasektomie!
Erst mit dreiundvierzig Jahren erfuhr ich, dass er das bei mir auch gleich hat machen lassen. Die hatten wohl grade ein Angebot. „Nehmen sie zwei und zahlen sie nur eins!“ Die Enttäuschung meines Vaters bezog sich nicht vordergründig auf mein Aussehen, sondern vielmehr auf mein Geschlecht.
Die Ärzte versicherten ihm, ich sei ein Junge, auch wenn man es auf den ersten Blick nicht erkennen könnte. Sie deuteten auf eine bestimmte Stelle und erklärten ihm, woran man sieht, dass es sich hierbei um einen Jungen handelt. Der Anblick enttäuschte ihn noch mehr. Eine Krankenschwester versuchte ihn mit den Worten: „Das entwickelt sich noch“ zu trösten, doch hörte man aus ihrer Stimme heraus, dass sie wohl selbst nicht daran glaubte. Meine Mutter meinte, diese Krankenschwester hätte sich mehr als rührend um meinen Vater in seiner schwersten Stunde gekümmert. Näheres zu der Schwester, die mich ja angeblich fallen ließ, weiß ich nicht.
Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich nur, dass es sich wohl um eine Frau Luder handeln muss. Jedenfalls soll mein Vater, zwei Tage nach meiner Geburt, mit dieser Frau Luder abgehauen sein. Sie sollen irgendwo in Schwarz- oder Weißafrika eine Elefantenaufzuchtstation betreiben.
Er muss wohl irgendwas kompensieren. Mehr kann ich über meinen Vater nicht sagen.
Was mein ... na ja, sie wissen schon ... - wie bringt man das literarisch wertvoll zum Ausdruck, ohne dass Karasek und Reich-Ranicki gleich im Grab rotieren - angeht, hat es sich im Laufe der Jahre doch noch herausgebildet.
Könnte mehr sein, aber man muss auch mit Kleinigkeiten zufrieden sein.
Zwar funktionstüchtig, dafür aber dank Vater wirkungslos.
Wenn ihnen der Begriff Attrappe etwas sagt?!
Frauen erzählen ja auch immer gerne, es käme nicht auf die Größe an.
Aber wahrscheinlich erzählen sie es nur, um uns Unterprivilegierten noch einen Funken von Selbstachtung zu lassen. Ich denke, Münchhausen muss doch eine Frau gewesen sein.
Aber meine Erfahrung auf dem Gebiet sollte mich ja auch erst später beunruhigen. Viel später ...! Jahre später...! Jahrzehnte später...! Aber dazu später!
Meine weitere Kindheit verlief relativ normal! Masern, Mumps und Gelbsucht. Irgendwas war immer. Schon im Kindergarten war ich sehr beliebt. Mit Vorliebe spielten die anderen Kinder mit meinen Spielsachen, die sie mir wegnahmen. Meine Pausenbrote waren die Beliebtesten überhaupt. Sie fütterten mich mit Sand oder warfen mich von der Schaukel. Kein anderes Kind stand so sehr im Mittelpunkt wie ich. Als ich dann in die Schule kam, stand ich nicht mehr im Mittelpunkt, dafür aber meist in der Ecke. Manche Lehrer erkannte ich nur an der Stimme, so selten sah ich sie. Immer, wenn jemand seine Hausaufgaben vorlesen musste, zeigten alle auf mich. Natürlich hatte sie mir vorher irgendeiner aus dem Ranzen geklaut. Immer, wenn die Lehrer sagten: „Wer war das?“, kam es aus vierunddreißig Kehlen: „HaGü!!!!!“ HaGü war ich! Eigentlich Hans-Günter. Aber den Namen fanden alle blöd. Ich auch. HaGü klingt, als wenn man ein Pferd anhalten möchte. Mit großer Leidenschaft und Strebertum habe ich die neun Schuljahre hinter mich gebracht. Am Tag meiner Volljährigkeit hielt ich voller Stolz mein Abschlusszeugnis in Händen. Dreizehn Jahre harter Arbeit und jetzt lag das Abschlusszeugnis der neunten Klasse vor mir. Meine Mutter nahm den Beweis meiner Intelligenz zitternd und schluchzend vor Stolz in ihre Hände und meinte mit brüchiger Stimme: „Ich habe es ja immer gewusst, dass du das Zeug dazu hast. Ich werde einen Rahmen kaufen und wir hängen es über den Fernseher, neben das Jesus-Bild und die beleuchtbare Venedig-Gondel.“ Dann lud sie mich ein zu Gerda. Gerda war die Besitzerin eines Speiserestaurants. Also fuhren wir zum Bahnhof und gingen in die Trinkhalle. Von dort hatte man immer einen wunderbaren Blick auf die gegenüberliegende Damenpension. Eigentlich war es keine Damenpension. Mutter nannte sie nur so. Was genau es war, habe ich nie erfahren, denn Mutter hatte mir strikt untersagt, dort hinzugehen. Ich habe nie verstanden, weshalb ich da nicht hindurfte. Tante Elfie geht dort täglich ein und aus. Anfangs dachte ich, da dürfen nur Frauen rein, aber einmal sah, ich wie unser Lehrer da rauskam. Na ja, irgendwann frag ich mal Tante Elfie.
Bei Gerda gab es zur Feier des Tages Schnitzel mit Pommes. Mutter erlaubte mir sogar etwas Alkohol. Gerda brachte mir das erste Kölsch meines Lebens. Gott war ich stolz. Dieses erste Kölsch war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die mein Leben entscheidend prägen sollte.
Voller Stolz zeigte meine Mutter in der ganzen Trinkhalle mein Zeugnis herum. Es wurden sogar zwei Lokalrunden geordert. Die musste ich dann später in der Spülküche abarbeiten, da man diese Runden in meinem Namen bestellt hatte. Aber egal, ich war im Mittelpunkt! Alle prosteten mir zu. Als eine La-Ola-Welle durch die Trinkhalle anhob, war ich zu Tränen gerührt. Eine ältliche Dame, nein, das wäre falsch formuliert, eine alte Frau, bekannt als Strip-Uschi, küsste mich überschwänglich und rieb ihre Hand an meiner Hose. War aber sicher ein Zufall. Sie musste sich sicher nur abstützen, da ihr Rollator draußen vor der Tür stand. Sie rülpste mir zärtlich und liebevoll ins Ohr und meinte, jetzt müsse ich nur noch ein richtiger Mann werden und zeigte auf das Pensionat, aus dem gerade zwei ehemalige Mitschüler von der Polizei herausgeführt wurden. Wieso durften die da rein und ich nicht? Wahrscheinlich antiautoritär erzogen. Einer der beiden Mitschüler machte später sogar Karriere. Der war neulich in der Zeitung, sogar mit Foto. Der sitzt jetzt wegen Bankbetrug. In Mathe war der immer gut gewesen. Ich wusste immer, mit dem muss man rechnen. Der andere hat sich selbstständig gemacht. Er ist Besitzer von fünf Wohnwagen und vermietet sie an junge Frauen. Die stehen auf Autobahnraststätten und bieten Autofahrern eine Ruhemöglichkeit. Heute fährt er einen dicken Ami-Schlitten und will sich jetzt angeblich von Prinz Frederik von Anhalt adoptieren lassen. Dabei hat der noch Eltern. Meine Karriere sollte sehr eng mit Gerdas Trinkhalle verbunden sein, aber davon wusste ich damals noch nichts. Mir wurde sehr schnell klar, dass mein Talent in der Wirtschaft zu finden ist. Und ich machte dann ja auch eine glänzende Karriere. Heute lebt Gerda leider nicht mehr. Aber ich vergesse es ihr nie, dass sie es war, die mir das erste Kölsch ausschenkte. Es war der Grundstein für mein weiteres Leben.