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1. Die letzten Tage

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Statt eines ausgedehnten Spazierganges oder eines Sonnenbades auf der Terrasse blieb mir schon während des gesamten Tages nicht viel anderes übrig, als den gewohnten Platz am Fenster einzunehmen, um dem Treiben auf der Straße zuzusehen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich aus reiner Gewohnheit in Gedanken den Begriff „Spaziergang“ benutzt hatte, der in meinem Fall absurd war, wenn man wie ich an einen Rollstuhl gefesselt ist. Auch die Aussage ausgedehnt, ist relativ, wenn man bedenkt, dass es sich, wenn überhaupt, um kaum mehr als eine halbe Stunde handelt. Für einen 126jährigen, der sich möglichst aus eigener Kraft bewegt, ist dies doch eine erhebliche Anstrengung. Deshalb sind die Ausfahrten mit reiner Muskelkraft in den letzten Jahren auch immer seltener geworden. Stattdessen übernimmt immer öfter der kleine Elektromotor die Aufgabe, mich in meinem Gefährt über die mittlerweile bestens bekannten Wege zu befördern. Nun, heute fiel diese auch nicht mehr ganz abwechslungsreiche Tätigkeit der Wetterlage zum Opfer. Es regnete seit dem Vormittag und dies kräftig. Mittlerweile ist Dunkelheit eingekehrt und in den Regentropfen am Fenster spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen. Eine Vielzahl von Lichtpunkten, ein Ersatz für die fehlenden Sterne, die sich hinter der dichten Wolkendecke verborgen halten. Diese Laternen waren ein Relikt der Vergangenheit, unverändert in der Form, den alten Gaslaternen des 20. Jahrhunderts nachempfunden. So wie sie heute dort unten stehen, so kenne ich sie schon von Fotos aus frühen Kindheitstagen. Die einzige Änderung, der Wirtschaftlichkeit geschuldet, war die jetzige Energieversorgung mit Strom.

So unwirtlich wie das Wetter da draußen, so muss ich wohl auch das Zimmer bezeichnen, welches ich bewohne. Es beschränkt sich auf das Wesentliche, lässt mir aber genügend Raum für die Fortbewegung. In der Mitte ein Tisch, an der Wand ein Schrank, nein, eigentlich mehr eine Kommode oder ein Sideboard, in dem ich das, was ich benötige, in erreichbarer Höhe verstaut habe. Ein paar Teller, Tassen, Gläser. Ansonsten Überbleibsel der Vergangenheit, kaum Dinge die ich wirklich benötige. Ein paar Fotos auf Papier; Bilder aus der Kindheit, Bilder meiner Eltern. Sehr altmodisch in einem digitalen Zeitalter mit moderneren Speichermedien. Trotzdem hänge ich an ihnen. Es ist bestimmt schon ein paar Jahrzehnte her, dass ich Sie mir angeschaut habe. Aber ich bin froh, dass sie einfach da sind; eine jederzeit greifbare Erinnerung. Etwas, was man nicht fortwirft. Ein Andenken an die Vergangenheit, die aus dem Jetzt betrachtet immer unwirklicher wird.

Das Zimmer hat zwei Fenster. Eines ist nach Osten gerichtet, das andere weist nach Süden. Hier befindet sich auch der Zugang zu einer, man kann sagen, großzügig bemessenen Terrasse. Für einen in der Bewegung eingeschränkten Menschen ein großartiger Ort, besonders im Frühjahr, wenn die Sonne an Kraft und Wärme gewinnt und es mich hinauszieht. So wie ein trockener Schwamm das Wasser aufsaugt, so giert auch dieser alte Körper, diese, ich kann es nicht verhehlen, doch schon faltige Haut nach Licht und Wärme. So sitze ich dort manchmal stundenlang, die Augen geschlossen, dösend, allen Hautkrebsgefahren zum Trotz. Hautkrebs! Ein Witz! Soll sich ein 126jähriger davor fürchten? Aber selbst wenn, dann würde dies bei der nächsten Routineuntersuchung erkannt und behandelt werden. Natürlich hat man heute solche Dinge im Griff. Krebs, diese Volksseuche, so wie auch viele andere Krankheiten, die in früheren Jahrhunderten, ja selbst noch in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts Angst und Furcht verbreiteten, weil sie nur bedingt als heilbar galten und auch vor dem reichsten Mann nicht Halt machten, sind ausgerottet. Leider ereilte das gleiche Schicksal auch die Menschen. Fast alle. Es ist wahr, all diese neuen medizinischen Errungenschaften waren und sind ein Segen. Selbst meine Zähne brauchen einen knackigen Apfel nicht zu fürchten. Im Falle eines Falles lässt man sie einfach nachwachsen. Der Gentechnik sei Dank! Selbst Greise könnten für jede Zahnpasta Werbung machen; ein strahlenderes Weiß gibt es nicht. Diese Zähne würden für sich allein betrachtet jedem Hochglanzmagazin zur Ehre gereichen. Es hatte nur einen Nachteil: der Berufsstand der Zahnärzte wurde stark reduziert. Dafür gab es aber mehr Zahn-Gen-Implantologen.

Das Wichtigste in meinem Zimmer, in dem ich mich mittlerweile am meisten aufhalte, ist der riesige Bildschirm an der westlichen Wand. Daran schließt sich an der nördlichen Wand die Tür zum Flur an sowie die besagte Kommode. Darüber ein Gemälde. Nichts besonderes, aber dekorativ. Über den Bildschirm, man kann auch sagen: das Kommunikationszentrum eines jeden Haushalts, bin ich mit der Welt außerhalb meiner vier Wände verbunden. Hierüber tätige ich meine Einkäufe, lade ich Literatur, Musik und Filme herunter und erhalte all die anderen Informationen, die ich benötige. Wirklich von Vorteil ist aber das programmierte Kochen. Entgegen allen Unkenrufen ist heute jede Fertigmahlzeit von höchster Qualität und könnte sich mit kulinarischen Kreationen eines 3-Sterne-Kochs messen. Nun, dies ist kein Wunder, sind diese Mahlzeiten doch von eben diesen 3-Sterne-Köchen komponiert und programmiert, die Zutaten von auserlesener Frische. So kann man, wenn man will, tagtäglich die unendliche Vielfalt der edelsten Küche genießen. Aber nicht nur abgehobene Kochkunst wird geboten, auch der altbackene Eintopf kann abgefordert werden, wenn es einem nach etwas Ursprünglichen gelüstet. Mich gelüstet es allerdings nicht mehr allzu sehr nach irgendetwas, was wohl mit meinem Alter zusammenhängen mag. Ich esse mittlerweile nur noch wie ein Spatz. Zumindest haben dies immer meine Eltern gesagt, wenn die von mir vertilgte Portion nicht ihren Erwartungen entsprach. Das war in der Regel dann der Fall, wenn es mir einfach gesagt, nicht schmeckte. Meine erste und letzte Äußerung dieser Art, ich stand gerade in der Mitte meines vierten Lebensjahres, hatte zur Folge, dass meine Mutter zuerst tödlich beleidigt und danach immer noch schlecht genug gelaunt war, um meinen Vater für den Rest des Tages darunter leiden zu lassen. Da ich meinen Vater mochte, vermied ich zukünftig solche Aussagen und erntete damit den Dank meines Vaters, was sich in späteren Jahren in Form eines heimlich zugesteckten zusätzlichen Taschengeldes auswirkte. Man muss aber dazu sagen, dass meine Mutter zwar eine sehr patente und liebenswerte Frau war, nur kochen konnte sie nicht. Dies wurde von ihr jedoch völlig ignoriert und so versuchte sie sich mit immer größerem Einsatz selbst an der Haute Cuisine. Von wirklich denkwürdigen Ausnahmen abgesehen, endeten diese Versuche zumeist in einem Desaster und damit tränenreich. Mein Vater und ich gaben unser Bestes, die Situation zu bereinigen, wobei oft genug eine ordentliche Lüge die beste Medizin darstellte, die von meiner Mutter äußerst dankbar geschluckt wurde. Unglücklicherweise versuchte sie auch unsere Gäste mit ihren Kochkünsten zu beglücken. Gottseidank wurden diese Versuche wegen der sichtlich geringen positiven Resonanz eingestellt, und stattdessen ein Cateringunternehmen beauftragt oder ein Restaurantbesuch vorgeschlagen. Ich gebe zu, dass ich meiner Mutter nicht so viel Einsicht zugetraut hatte. Diese regelmäßig auftretenden Ereignisse rund ums Essen schweißten zumindest in diesem Fall meinen Vater und mich zu einer lange anhaltenden Zweckgemeinschaft zusammen, deren Interesse es war, das Essen möglichst außerhalb der heimischen Küche einzunehmen. Mein Vater und ich waren dabei in der vorteilhaften Situation, uns zu diesem Zweck der Kantinen zu bedienen, die uns in unserem Arbeitsumfeld zur Verfügung standen. So gehörte der Arbeitgeber meines Vaters zu den Menschen, die daran glaubten, dass ein gutes Essen nicht nur das Betriebsklima, sondern auch noch die Motivation zu einer höheren Leistung befördern würde. Ob die durchaus erfolgreiche Karriere meines Vaters Folge des guten betrieblichen Essens war oder auf der Dankbarkeit beruhte, den heimischen Kochkünsten entronnen zu sein, konnte ich nie ergründen. Ich selbst nutzte zunächst die Möglichkeit der allgemeinen Schulspeisung, die zwar bekanntermaßen keine Offenbarung war, aber immer noch besser … Während der Studienzeit besuchte ich zunächst die Mensa, wobei sich fatalerweise das Essen dort nicht allzu sehr von dem Unterschied, was meine Mutter unter Kochen verstand! Dies war aber nur für kurze Zeit der Fall, da ich meine universitäre Ausbildung bald in einer anderen Stadt fortsetzte, die nicht nur über eine bessere Mensa, sondern auch über eine Vielzahl hübscher kleiner Lokale verfügte, die mit ihren Speisenangeboten die Geschmacksnerven durchaus verwöhnten.

Während also meine Lust am Essen in letzter Zeit nachgelassen hat, verstärkte sich doch die Lust, noch einmal etwas Außergewöhnliches zu probieren. Klein, aber fein. Und das alles quasi auf Knopfdruck, das Kommunikationszentrum macht es möglich. Auch an besten Weinen und Spirituosen ist kein Mangel. Wenngleich auch hier der Bedarf nicht mehr so groß ist, was ich manchmal bedauere. Aber es ist ja oft so: wenn man möchte, sind die Mittel zumeist begrenzt. Wenn man es sich dann leisten kann, kann oder will man nicht mehr so recht. Die Bedienung des Bildschirms erfolgt über Spracheingabe. Ich unterhalte mich also mit einer Maschine. Meine Anweisungen werden in der Regel brav befolgt. Sollte ich für längere Zeit den Wunsch nach Stille verspüren, so wird diese zu meinem Leidwesen allzu oft unterbrochen, indem ich nach meinen Wünschen befragt oder an einen Termin erinnert werde.

Die Gedanken, die Worte, die sich wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht hatten, brachen ab. Der Kopf des alten Mannes in seinem Rollstuhl sank langsam nach vorn auf seine Brust. Die Stille im Zimmer wurde nur durch das unregelmäßige, leicht rasselnde Geräusch des Atmens des Alten unterbrochen. Von den bis zum Boden reichenden Fenstern war nur selten ein kurzes Pochen zu hören, wenn ein Hagelkorn, das sich unter die Regentropfen gemischt hatte, vom Wind gegen die Scheiben getrieben wurde. Ansonsten unterdrückte die gute Isolierung das Prasseln des Niederschlags, der sich, zuvor nur mäßig stark, mittlerweile zu einem heftigen Sommerschauer entwickelt hatte. Die aufziehende Dunkelheit wurde durch die tief hängenden dunklen Wolken noch verstärkt. Das ohnehin nicht allzu starke Treiben auf der Straße hatte noch weiter abgenommen und beschränkte sich nun nur noch auf einen gelegentlichen Passanten, der zumeist mit einem Regenschirm versehen versuchte, so schnell wie möglich und halbwegs trocken sein Ziel zu erreichen. Selten erhellte ein Auto mit seinen Scheinwerfern, deren Licht sich deutlich von dem warmen Leuchtton der Laternen abhob, ein wenig das Zimmer und streifte den Mann in seinem weißen Pyjama. Zunächst unmerklich begannen seine Hände immer mehr zu zittern. Schließlich schlugen die Handflächen mit einem sanften Klatschen fast gleichförmig auf die Armlehnen des Rollstuhls.

Durch die zum Flur geöffnete Tür schwebte lautlos eine kleine, silbrig schimmernde Halbkugel herein. Die flache Seite, mit einem Durchmesser von vielleicht 5 cm, war zum Boden ausgerichtet. So, als wüsste sie genau, was ihr Ziel und ihre Aufgabe war, steuerte sie mit gleichmäßigem Flug den Mann im Rollstuhl an und ließ sich auf dem Handrücken nieder. Unbeirrt von dem auf und ab der Hand folgte sie der Bewegung. Ein kurzes, leises Zischen, kaum wahrnehmbar in der Pause zwischen zwei klatschenden Schlägen der Hände, dann löste sich dieses Ding wieder vom Handrücken und verschwand auf dem gleichen Weg wie es gekommen war, geräuschlos und zielstrebig. Die silbrige Halbkugel hatte noch nicht einmal die Tür erreicht, als das Zittern der Hände unvermittelt abbrach. Der Atem des alten Mannes war bis auf ein leichtes Rasseln kaum wahrnehmbar und gleichmäßig. Dem kurzen Anfall, der augenscheinlich Kraft gekostet hatte, folgte nun ein erholsamer Schlaf.

Es war bereits fast acht Uhr als er erwachte. Die Augen noch geschlossen begann sich der Kopf von der Brust zu heben. Es war eine unendlich langsame Bewegung, losgelöst von seinem Körper, der völlig bewegungslos blieb. Langsam hoben sich seine Augenlider und eine graugrüne Iris wurde sichtbar. Anders als bei vielen betagten Menschen, deren Augen trübe erscheinen, waren diese Augen von einer Klarheit und kräftigen Farbe und passten gut zum leicht gebräunten Teint seiner Haut, die weitaus weniger Spuren seines hohen Alters aufwies, als man erwarten würde. Jetzt wandte er den Kopf zum Fenster, um kurz inne zu halten. Ein Moment der Orientierung und der Konzentration. Er fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht, die trotz der frühen Stunde schon weit über dem Horizont stand. Nun ja, es war Mitte Juni.

„Mein Gott, was mache ich hier. Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es? Es ist schon verdammt warm. Es wird wohl ein heißer Tag. Mein Gott, wie spät ist es?“ Seine kräftige Stimme hob die Stille des Zimmers auf. „Wie spät ist es?“ Der Klang der Worte war noch nicht einmal erloschen, als auf dem Bildschirm die Uhrzeit erschien und eine angenehme Frauenstimme die angezeigte Zeit auch verbal verkündete. Nach einer kurzen Pause fühlte sich die Stimme befleißigt, einen guten Morgen zu wünschen und sprach die Hoffnung aus, einen erholsamen Schlaf gehabt zu haben. Der alte Mann schien diesen Worten keine weitere Bedeutung beizumessen, sondern mit größtem Interesse die Vorgänge vor seinem Fenster zu verfolgen. Allerdings kann man vermuten, dass ihm das morgendliche Ritual wohl bekannt war und ihn eher langweilte. Regungslos akzeptierte er die nun erklingende klassische Musik; ein Stück, das ihm unbekannt war. Aber das war immer schon ein Problem für ihn, der durchaus der klassischen Musik, insbesondere der Oper, zugeneigt war. Er wusste nur selten, um was für ein Stück es sich handelte und wer dessen Schöpfer war. Es hatte ihn immer geärgert, aber er hatte auch nie die Zeit und Kraft gefunden, sich intensiv damit auseinander zu setzen. Also hatte er sich damit abgefunden und genoss sie einfach. Außerdem war es ein Leichtes, den Namen des jeweiligen Musikstückes und seines Schöpfers zu erfahren. Das Kommunikationszentrum erteilte auch auf derlei Anfragen höflich und schnell Auskunft. Aber das eigene Erkennen war etwas anderes, deutete das doch auf Sachkenntnis hin. Und die fehlte ihm, das konnte er nicht bestreiten. Der alte Mann schien zu wissen, was nun kommen würde, denn er wendete seinen Kopf in Richtung des Bildschirms. Kaum das sein Kopf die Bewegung abgeschlossen hatte, erklang wieder fast schmeichelnd die Frauenstimme: „Möchten Sie zunächst frühstücken oder erst die Morgentoilette erledigen?“ „Mein Gott, dieses Wort. Morgentoilette!“ dachte er. Aus unerklärlichen Gründen löste dieses Wort bei ihm Heiterkeit aus. Obwohl ihm bisher keine Alternative dazu eingefallen war, fand er es einfach lächerlich, irgendwie unpassend, der jetzigen Zeit nicht angemessen. Plötzlich öffnete sich sein Mund und ein krächzendes Geräusch drang aus seiner Kehle, es wiederholte sich mehrfach als wollte es kein Ende nehmen. Es sollte ein fröhliches Gelächter sein, aber angesichts dieses weit davon entfernten Geräusches wurde ihm bewusst, dass seine Kehle „furztrocken“ war. Er wollte der Maschine mitteilen, dass er dringend ein Glas Wasser benötigte, aber dies zwanghafte „Gelächter“ ließ ihn nicht zu Wort kommen. Zu allem Überfluss erkundigte sich die in diesem Fall mitleidsvolle Stimme, ob denn alles in Ordnung sei? „Sie haben wohl wieder die Luft geimpft“ dachte er, „Ausgerechnet jetzt!“ Noch während er verzweifelt darüber nachdachte, wie er sich aus dieser Situation krampfhaften Lachens und dem Wunsch, ein Glas Wasser zu ordern, befreien könnte, schwebte auf einem runden, weißen Tablett eben dieses in sein Zimmer und auf ihn zu. Bei ihm angekommen verharrte das Tablett neben seiner rechten Hand. Er ergriff das Glas und führte es an seine Lippen. Es war recht groß und nur zur Hälfte gefüllt. Und das war gut so, denn so wurde nichts von der dringend benötigten Flüssigkeit, die bedrohlich im Gleichklang mit den durch das Lachen ausgelösten Zuckungen des Arms in dem Glas hin und her schwappte, verschüttet. Trotzdem wäre es schwierig gewesen, das Wasser zu trinken, wenn nicht die Heiterkeit, die ihn so über alle Maßen und ohne wirklich triftigen Grund übermannt hatte, genauso schnell, wie sie gekommen war, abgeklungen wäre. Er spürte Erleichterung, als das kühle, leicht perlende Nass seine Kehle befeuchtete. Er fühlte sich wirklich besser.

Das Tablett war so geisterhaft mit dem geleerten Glas verschwunden, wie es gekommen war. „Verdammt, wie machten sie das nur? Wie konnten sie wissen, was er dringend benötigte?“ Wieder diese Frage, die er sich bereits so oft gestellt hatte. Dass man ihn beobachtete, war unzweifelhaft. Es mussten mikroskopisch kleine Kameras sein, die mit dem Medi-Zentrum verbunden waren. Sie waren über seinen Zustand augenscheinlich zu jeder Zeit bestens informiert. Sie hatten sozusagen permanent die Hand an seinem Puls. Er war eigentlich nie ernsthaft krank gewesen, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Ja, mal eine leichte Erkältung, aber eben nichts Dramatisches. Er hatte es auskuriert, das wars. Dass das Medi-Zentrum allgegenwärtig war, hatte er erst wahrgenommen, als er einen Schlaganfall hatte. An das Datum konnte er sich noch genau erinnern: es war der 13.06.2171 gewesen; ein heißer Tag, ähnlich dem Heutigen. Es war kurz nach 20:00 Uhr und er hatte sich gerade die abendliche Nachrichtensendung angesehen, neben der täglichen Körperpflege ein Ritual, auf das er nur selten verzichtet hatte. Er fand es spannend zu sehen, wie sich die Welt veränderte. War es ihm doch vergönnt, einen großen Zeitraum zu überblicken und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Plötzlich hatte er ein Kribbeln in seinem linken Arm verspürt, das sich schnell verstärkte. War es zunächst eine fast angenehme Erscheinung, entwickelte es sich zügig zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Das Bild von den Nadeln, die in die Haut stechen, war genau das, was er fühlte. Dazu gesellten sich Sehstörungen, ihm wurde schwindlig. Er wollte um Hilfe rufen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Er war in die Bewusstlosigkeit gefallen.

Als er aufwachte, lag er in seinem Bett. Das Erste, was er wahrgenommen hatte, war die an die Decke projizierte Uhrzeit: 20:23 Uhr. Erst später, als er sich daran zurück erinnerte, wurde ihm bewusst, welch kurze Zeitspanne zwischen der Ohnmacht und dem Aufwachen vergangen war. Dann bemerkte er, dass er nackt war. Da er nur einen kleinen Bauchansatz hatte, war sein Oberkörper eine fast ebene Fläche und über dieser schwebte eine silbrig glänzende Halbkugel mit einem Durchmesser von schätzungsweisen 20 Zentimetern. Er hatte von anderen bereits davon gehört, man nannte sie MediRobs. Er selbst hatte sie aber noch nie gesehen. Es schien prüfend über seinen Oberkörper zu gleiten, in langsamen kreisenden Bewegungen, absolut lautlos, um an einer scheinbar beliebigen Stelle kurz anzuhalten. Nach einiger Zeit des Kreisens und Pausierens schwebte die Halbkugel hinauf zu seinem Kopf, um über seinem Gesicht zu verharren. Er hatte nun die Gelegenheit sich die flache Seite von unten zu betrachten; sie war makellos glatt, keine Auswölbung, keine Vertiefung. Nachdem die Untersuchung seines Organismus wohl zur vollsten Zufriedenheit des MediRobs abgeschlossen war, glitt er zur Tür hinaus. Er war immer noch leicht benommen, so, als ob er gerade aus dem Schlaf gerissen worden war. Trotzdem hatte er auf ein Geräusch gewartet, so wie bei einem Gast, der beim Gehen die Tür hinter sich ins Schloss zieht. Doch es blieb still. Stattdessen plötzlich diese Frauenstimme, die sich nach seinem Befinden erkundigte. Sie kam aus den kleinen Lautsprechern in den Ecken der gegenüber liegenden Wand. Ein bisschen kraftlos hatte er „Gut, ja gut, den Umständen entsprechend“ gesagt, nicht wissend, in welchen Umständen er sich eigentlich befand. Aber man sagte es halt so und irgendwie war es auch zutreffend.

„Wunderbar!“ sagte die Frauenstimme und es hatte den Anschein, sie meinte es ernst. „Wir tun alles im Rahmen unserer Möglichkeiten, um ihre Gesundheit sicher zu stellen. Aber auch uns sind Grenzen gesetzt. sie hatten …“ Die Stimme machte tatsächlich eine Pause und sie klang plötzlich besorgt. So, als müsste sie ihm etwas schonend beibringen. Die eingetretene Stille machte ihn augenblicklich nervös und veranlasste ihn zu einem ungeduldigen „Ja, was?“ Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die besorgte Stimme fortfuhr: „ … einen Schlaganfall. Wir haben aber unverzüglich Maßnahmen ergriffen, um die Folgeschäden in solch einem Fall möglichst gering zu halten.“ Die folgenden Erläuterungen rauschten im wahrsten Sinne des Wortes an ihm vorbei. Nur das Wort Schlaganfall hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, wiederholte sich ständig und blockierte alle weiteren Gedanken, während die Stimme als permanentes Hintergrundgeräusch die durchgeführten Sofortmaßnahmen erläuterte. „Ist Ihnen nicht gut?“ Diese Frage riss ihn aus der Phase der ständigen Wiederholung, was daran gelegen haben konnte, dass die Stimme nun einen anderen Klang hatte; sie erschien lauter und beinahe aggressiv. „Ja, ja!“ hatte er fast beiläufig in Richtung der Lautsprecher geantwortet. Etwas Besseres fiel ihm in diesem Moment auch nicht ein, war ihm doch unvermittelt klar geworden, dass er sich um seinen Zustand kümmern musste. Wie hatte sich der Schlaganfall ausgewirkt? Sprechen konnte er augenscheinlich noch. Das hatte die Kommunikation mit den Lautsprechern bewiesen. Er hob seinen rechten Arm, kein Problem. Die gleiche Aktivität mit dem linken Arm zeigte das gleiche Ergebnis; alles bestens. Danach konzentrierte er sich darauf, das rechte Bein anzuziehen. Keine Reaktion, das Bein war nicht willens, seiner Anordnung zu folgen. Es erfasste ihn ein Gefühl, dass er bisher nicht kannte. Er begann seinen Herzschlag zu spüren, der ständig an Tempo zulegte. „Ruhe“, ordnete seine innere Stimme an, allerdings schien das sein heftig pochendes Herz nicht im Geringsten zu beeindrucken. Resigniert, dass sein Herz augenscheinlich nicht bereit war, seinen Anordnungen zu folgen, versuchte er nun sein linkes Bein anzuziehen, allerdings genauso erfolglos. Noch einmal rechts, noch einmal links. Unbeeindruckt von seinen Bemühungen blieben die Dinger einfach liegen. Nicht einmal ein zaghaftes Zucken, kein Wackeln der Zehen, einfach nichts! So, als hätte ein unsichtbares Augenpaar seine vergeblichen Versuche beobachtet und hielt die Zeit für eine Erklärung gekommen, meldete sich die nun beschwingt klingende Frauenstimme zurück. Ihm war bis zu diesem Augenblick nicht aufgefallen, dass die Stimme Ihre Tätigkeit eingestellt hatte. Er hatte den Eindruck, dass der unsichtbare Beobachter erkannt hatte, dass er sich mehr um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte und wenig geneigt war, den Ausführungen der Stimme zu lauschen. Nun schien der Moment gekommen, dass der Patient wieder ein offenes Ohr für weitere Erläuterungen haben würde. Die Bestätigung für seine Annahme erhielt er postwendend. „Wie Sie festgestellt haben, konnten wir, trotz des schnellen Einsatzes der medizinischen Abteilung, leider nicht alle Folgen des Schlaganfalls beseitigen. Ihre Beine sind gelähmt, aber wir gehen davon aus, dass wir in der nächsten Zeit durch geeignete Rehabilitationsmaßnahmen zumindest einen kleinen Teil der Bewegungsfähigkeit wieder herstellen können. Dies ist in Anbetracht Ihres hohen Alters ganz beachtlich.“ Er fühlte sich in diesem Moment, obwohl es absurd erschien, geschmeichelt. „Es werden zwar nur geringfügige Verbesserungen sein, aber sie werden doch Ihre Lebensqualität steigern. Im Übrigen werden Sie sich damit abfinden müssen, dass der Rollstuhl ab heute Ihr ständiger Begleiter sein wird.“ Obwohl der Klang der Stimme versuchte, Optimismus zu verbreiten, war das alles andere als tröstlich.

Der Ausflug seiner Gedanken in die Vergangenheit fand ein jähes Ende, als die gleiche Stimme, die ihm gerade noch eine Zukunft im Rollstuhl vorausgesagt hatte, ihn aufforderte, sich zwischen Morgentoilette und Frühstück zu entscheiden. Wie viel Zeit war vergangen? Er schaute zum Bildschirm hinüber, der unverändert die Zeit anzeigte: 08:23 Uhr. Er hatte wohl vor sich hin gedöst. Er fand es sehr rücksichtsvoll, dass man ihm die Zeit eingeräumt hatte, Erinnerungen nachzuhängen. Nun jedoch sollte eine Entscheidung getroffen werden, um einer weiteren Wiederholung der Frage zu entgehen. „Ich gehe zuerst ins Bad“ teilte er den unsichtbaren Beobachtern mit. „Und zum Frühstück hätte ich gerne knusprigen Speck und ein Spiegelei. Ansonsten das Übliche.“ Rasch fügte er noch an: “Auf der Terrasse!“ Er verspürte heute Morgen einen mächtigen Appetit.

Er fuhr mit seinem Rollstuhl in das Badezimmer. Praktischerweise gab es keine Tür, sondern nur einen breiten Durchgang, was das Manövrieren mit dem Gefährt erleichterte. Die Intimsphäre, die durch eine Tür geschützt würde, hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Selbst wenn, was selten genug war, Besuch kam, hatte es nie Probleme gegeben. Er hatte eigentlich nie die Toilette aufsuchen müssen, als Besuch da war. Gleiches galt, wenn er sich recht erinnerte, auch für die Besucher. Die Blase war intakt, Prostatabeschwerden kannte er nur vom Hörensagen. Dank der hervorragenden medizinischen Betreuung waren all die Leiden verschwunden, die er nur aus alten Filmen kannte. Das Bad war rundum gefliest, selbst die Decke bestand aus dem Material, welches auch die Wände schmückte. Allerdings unterschieden sich die Fliesen an der Decke ebenso wie die am Boden in Ihrer Größe von den Fliesen an den Wänden. Handelte es sich bei der Deckenbekleidung um Platten von ca. einem mal einem Meter, insgesamt sechzehn Stück, quadratisch angeordnet, so dass das Bad vier mal vier Meter maß, waren die Bodenfliesen nur ein Viertel so groß wie die Deckenfliesen. Selbstverständlich verfügte auch das Bad, so wie die gesamte restliche Wohnung über eine Fußbodenheizung. Leuchtkörper suchte man allerdings vergeblich. Die Wände selbst sorgten für die gewünschte Beleuchtung. Eine von ihm als gelungen bezeichnete Ausnahme stellten die Lichtpunkte an der Decke des Badezimmers dar, die einem, sobald man die Wandbeleuchtung abgeschaltet hatte, einen Sternenhimmel vorgaukelten. Helligkeit und Farben konnte er mit seiner Steuereinheit an seinem Rollstuhl regeln. Allerdings war auch die Steuerung durch das gesprochene Wort möglich. Er hatte gelernt mit dieser Möglichkeit umzugehen und nutzte sie dementsprechend.

Das Badezimmer war zwar großzügig geschnitten, ansonsten aber spartanisch eingerichtet, man hatte sich auf das Notwendige beschränkt, dies aber behindertengerecht. Ein WC an der rechten seitlichen Wand, gegenüber ein tiefhängendes Handwaschbecken sowie von der Tür aus gesehen hinten rechts, praktisch neben dem WC, eine Duschecke. Dazu die Utensilien, die für die Körperhygiene erforderlich sind. Als angenehm empfand er es, dass das Bad links neben der Dusche über ein Fenster verfügte. Das Glas war zwar satiniert und erlaubte keinen Blick nach draußen, aber das Fenster war groß genug, um das Bad am Tage mit ausreichender Helligkeit zu versorgen, insbesondere wenn die Sonne schien, so wie heute.

Ich fuhr mit meinem Rollstuhl an den Waschtisch und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Der blütenweiße Pyjama kontrastierte mit dem gebräunten Gesicht, eine Folge der doch bereits oft genommenen Sonnenbäder. Nein, für einen 126-jährigen war das, was ich da im Spiegel sah, nicht übel. Zudem konnte ich mich an einer Haarfülle erfreuen, die noch nicht einmal im Ansatz auf eine zukünftige Glatze hindeutete. Ganz im Gegenteil, hatte ich früher einen Kurzhaarschnitt bevorzugt, fiel diese Haarpracht nun in leichten Wellen bis auf die Schultern hinab. Zwar hatte sie schon vor langer Zeit ihre ursprüngliche Farbe verloren und war mittlerweile schlohweiß, aber auch das hatte seinen Reiz. Im Moment mangelte es meiner Frisur an der gewohnten Ordnung, aber das würde sich ändern, sobald es gewaschen war. Vorrangig war zunächst die Beseitigung der doch ein wenig ungepflegt anmutenden Bartstoppeln, die sich seit der letzten Rasur wieder zu einem Stachelfeld ausgewachsen hatten. Das Rasieren war mir doch eher eine Last als eine Lust, da es der Haut an der Spannung fehlte, die eine Rasur erleichtert hätte. Und die Falten, wenngleich nicht gerade üppig, stellten ein Hindernis für die Klinge dar, das erst durch ein energisches Glattziehen der jeweiligen Hautpartien beseitigt werden konnte. Ich nahm die Dose mit dem Rasierschaum von der Ablage, zog die Kappe ab und sprühte eine kastaniengroße Menge des Schaums auf meine linke Handinnenfläche. Anschließend verteilte ich ihn auf die zu bearbeitende Hautpartien. Das Gesicht in dem Spiegel hatte nun etwas clowneskes, vielleicht war das der unterschwellige Grund, weshalb ich von Anfang an ein Freund der Nassrasur war, genauso wie mein Vater. Alles Weitere war reine Routine.

Nach der Rasur putzte sich der alte Mann seine Zähne. Man hätte meinen können, dass mit dem problemlosen Ersatz schadhafter Zähne die Lust, sich der täglichen Zahnreinigung zu entziehen, stark nachlassen würde. Doch so, wie er sich weiterhin der Prozedur unterzog, hatte erstaunlicherweise auch bei den meisten Anderen die regelmäßige Zahnpflege eher zugenommen. Das mag zum Einen daran gelegen haben, dass der Ersatz nicht für umsonst zu haben war, zum Anderen, dass Dankbarkeit und die damit gewachsene Verantwortung für die „Dritten“ ausschlaggebend für das entsprechende Handeln waren. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel, wobei seine Zähne noch einmal Gelegenheit bekamen, sich in voller Schönheit zu präsentieren, wendete er seinen Rollstuhl und fuhr zur Dusche hinüber. Die Duschanlage nahm begrenzt durch zwei Wände sowie einen Aluminiumbügel, der von der Fensterwand in den Raum ragte, gut ein Viertel der Fläche des Bades ein. Nachdem er den Rollstuhl durch das Anziehen der Bremse zur Bewegungsunfähigkeit verdammt hatte, packte seine rechte Hand den Handlauf, der sich in Höhe der Armlehne des Rollstuhls an allen Wänden befand, abgesehen von den Stellen, an denen die Sanitärobjekte oder Ablagen angebracht waren. Mit einem kräftigen Ruck zog er sich aus dem Rollstuhl, um sich, nach einer kurzen Pause des Gleichgewichtsfindens, des Pyjamaoberteils zu entledigen. Danach streifte er die Hose ab. Nachdem er für sich beschlossen hatte, sich in der kommenden Nacht neu einzukleiden, nahm er erneut in seinem Rollstuhl Platz, sammelte die auf der Erde liegenden Kleidungstücke auf, drehte kurz nach rechts und stopfte sie in den hier befindlichen Schmutzwäschebehälter. Um alles weitere würden sich die Putz-Robbies, so beliebte er sie zu nennen, kümmern. Schon hatte er die Hand erneut auf den Handlauf gelegt, als ihm plötzlich die Stille bewusst wurde. Er hatte es tatsächlich versäumt, die von ihm so geschätzte musikalische Begleitung bei der morgendlichen Toilette anzufordern.

Ich rief einem unsichtbaren und unbekannten Empfänger meiner Worte zu: „Musik!“. So, als hätte man bereits darauf gewartet, verwundert, dass die allmorgendliche Aufforderung ausgeblieben war, erklang, eingeleitet von Streichern, ein Klavierkonzert. Ich lauschte dem Auf und Ab der Töne, während mein Blick auf meine Oberschenkel fiel, von dort die Unterschenkel hinab zu meinen Füßen, die auf den Fußstützen ruhten. Zum wiederholten Male stellte ich fest, dass die vormals so kräftigen, ja sportlichen Ober- und Unterschenkel erschreckend dünn geworden waren. Vermutlich, nein, mit Sicherheit eine Folge der Bewegungs-unfähigkeit seit dem Schlaganfall. Auch die regelmäßigen Massagen und Bewegungsübungen haben das Abmagern nicht verhindern können. Aber ich war froh, wenigstens ein paar Schritte machen zu können. So hatte ich mir meine Selbständigkeit bewahren können und war auf die Hilfe Dritter nur bedingt angewiesen. Es war ein Segen und machte das Leben trotz der Behinderung lebenswert und die Morgentoilette erträglich.

Er konnte sich angesichts des Begriffes Morgentoilette, den seine Gedanken geformt hatten, ein erneutes Lächeln nicht verkneifen. Diesmal blieb aber der Lachanfall aus, den er schon erwartet hatte und deshalb zunächst sitzen geblieben war. Nachdem klar war, dass sich seine Heiterkeit auf das Lächeln beschränkt hatte, griff er erneut nach dem Handlauf, zog sich aus dem Rollstuhl und ging in kleinen Schritten unter den Brausekopf. Dieser spendete bereits bereitwillig das wie immer angenehm temperierte Nass, wie er durch Prüfung mit seiner linken Hand feststellte. Nun stand er vollends unter der unablässig Unmengen von Wassertropfen produzierenden Dusche, die auf seiner Haut und dem Fußboden aufschlugen, sich teilten, um sich anschließend in einem Wasserlauf wieder zu vereinigen, der unablässig dem Ablauf zustrebte und darin ohne größere Geräuschentwicklung verschwand. Nachdem er eine Weile das herabstürzende Nass bewegungslos genossen hatte, begann er sein Haar zu shampoonieren, nicht ohne vorher die Brause aufzufordern, ihren Betrieb einzustellen. Wenn das Stehen zu anstrengend wurde, nahm er auf dem kleinen Sitz Platz, der sich in der Ecke der Dusche befand. Schließlich war das Einseifen der erreichbaren Körperteile vollbracht und er erhob sich, um sich nach entsprechender Aktivierung des künstlichen Regens die Seifen- und Shampooreste vom Leib zu spülen. Mit dem Ergebnis der morgendlichen Reinigung augenscheinlich zufrieden, stoppte er den Wasserfluss und nahm aus einer Ablage, die sich rechts neben der Dusche befand, ein frisches Handtuch, um sich abzutrocknen. Dies war eine Handlung, die ihm sichtlich schwer fiel, und ihm jedes Mal bewusst machte, was er an Bewegungsfähigkeit verloren hatte. Aber diesen Rest an Eigenständigkeit wollte er sich unbedingt so lange wie möglich bewahren. Nachdem er seinen Körper so gut es ging abgetrocknet hatte, setzte er sich, nackt wie er war, wieder in seinen Rollstuhl und fuhr, sein Gefährt fast lässig mit seinen Händen vorantreibend, zum Ausgang des Bades. Bevor er nach links in den Flur abbog, warf er einen Blick in die dem Bad gegenüberliegende Küche, in der der Kaffeeautomat gerade sein automatisches Reinigungsprogramm startete. Allem Anschein nach, war man bereit, ihm sein Frühstück zu servieren.

Ein paar Meter den Flur entlang befand sich auf der linken Seite sein Schlafzimmer. Hier stand auch ein größerer Schrank, in dem er seine Kleidung aufbewahrte. Als er vom Flur in das Zimmer abbog, wusste er bereits, was ihn erwarten würde. Insoweit war er auch nicht überrascht, einen jungen Mann auf dem Stuhl, der neben seinem Bett stand, sitzen zu sehen. „Heute ist also Sven wieder an der Reihe“ dachte er. Sie wechselten alle fünf Tage, insgesamt waren es drei verschiedene Pfleger, die ihm seit seinem Schlaganfall beim An- und Auskleiden behilflich waren. An die erste Begegnung mit einem seiner Helfer konnte er sich noch gut erinnern. Fast acht Wochen war er nach seinem Schlaganfall praktisch rund um die Uhr betreut worden bis er eines Abends für sich entschieden hatte, fit genug für den Versuch zu sein, das morgendliche Bad mit allem Drum und Dran alleine zu bewältigen. Dies hatte er der diensthabenden Schwester unverzüglich mitgeteilt. Sie hatte ihn, der da eher tatenlos als tatendurstig im Bett lag, eher mitleidig, so schien es ihm, angeschaut, sich dann aber doch zu einem: „Wenn du meinst!“ durchgerungen. Dass sie augenscheinlich an seiner Fähigkeit zweifelte, seinen Wunsch auch in die Tat umzusetzen, beflügelte ihn umso mehr. „Du wirst schon sehen, ich bekomme das hin“ hatte er ihren Worten entgegengesetzt. Er war davon überzeugt, dass sie ihn in diesem Moment unter der Rubrik „störrisches Kind“ verbuchte. Dann stolzierte sie aus dem Zimmer, wobei sie, wie er fand, aufreizend mit dem Po wackelte. Nun gut, insoweit waren seine Reflexe noch nicht ganz verkümmert. Am nächsten Morgen hatte er es tatsächlich geschafft, seinen Wunsch Realität werden zu lassen. Die damit verbundene Euphorie erhielt jedoch einen Dämpfer, als ihm klar wurde, dass er sich nach der Körperpflege nunmehr der Prozedur des Ankleidens unterwerfen musste. Noch in Gedanken, wie er das bewerkstelligen könnte, kurvte er in sein Schlafzimmer. Er hatte die Türöffnung noch nicht einmal vollständig durchfahren, als er fast beiläufig die Person erfasste, die dort auf einem Stuhl sitzend bereits auf ihn wartete. Den Kopf in Richtung des unbekannten Mannes drehend, entschlüpfte dem jetzt weit geöffneten Mund ein Laut des Erschreckens. Der Anblick des nackten alten Mannes im Rollstuhl mit einem Gesichtsausdruck des Entsetzens veranlasste den unbekannten Mann, der gerade mal das 20. Lebensjahr erreicht haben durfte, sich mit großer Geschwindigkeit aus dem Stuhl zu erheben. Wie zur Beschwichtigung hob er die Arme, die Handflächen nach vorne gerichtet, wobei er, statt in der Bewegung zu verharren, noch einen Schritt nach vorne machte. Er hatte allerdings nicht mit dem ausgeprägten Vorwärtsdrang des Rollstuhlfahrers gerechnet, der in Anbetracht der unerwarteten Situation das Bremsen vergessen hatte. Der rechte Fuß des jungen Mannes geriet also unter die Fußstütze des Rollstuhls und bremste damit das Gefährt. Obwohl man annehmen muss, dass diese Begegnung äußerst schmerzhaft gewesen war, drang kein Laut über seine Lippen. Vielmehr schien er sein ganzes Augenmerk darauf zu richten, dass sich sein Oberkörper ungebremst auf den nackten alten Mann in seinem Rollstuhl zu bewegte. Doch bevor das anscheinend unvermeidliche geschehen konnte, zog der junge Mann mit einer fast tänzerisch anmutenden Seitwärtsbewegung seinen rechten Fuß unter der Fußstütze hervor, um sich anschließend rücklings auf das Bett fallen zu lassen. Allerdings machte er keine Anstalten, es sich hier bequem zu machen, um seinen malträtierten Unterschenkel zu massieren. Mit einer geschmeidigen Bewegung begab er sich unverzüglich von der Vertikalen wieder in die Horizontale, dabei gleichzeitig ein freundliches Lächeln aufsetzend. „Entschuldige bitte vielmals, dass ich dich so erschreckt habe. Ich hätte mich doch vorher anmelden sollen.“ Daraufhin folgte eine kleine Pause, um den sichtlich um Fassung bemühten alten Mann ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. „Ich bin Robin…“, fuhr er dann fort „… und werde dir beim Ankleiden behilflich sein.“ Das muss man ihnen lassen, dachte der alte Mann, in Ihrer Wortwahl kann ihnen keiner das Wasser reichen.

Genau wie ihm damals Robin beim Ankleiden behilflich war, so war es heute Sven. Er hatte sich aus seinem Rollstuhl erhoben und stand im Adamskostüm neben seinem Bett. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, sich so nackt Dritten zu zeigen. Das mochte an seinem Alter, aber vielleicht auch an seiner Erziehung gelegen haben, die sich nicht gerade durch Prüderie ausgezeichnet hatte. Also hob er erst sein linkes Bein, dann sein rechtes Bein, um in die von Sven bereitgehaltene Unterhose zu steigen. Sven zog die Hose so weit hoch, dass er sie greifen und in die richtige Position bringen konnte. Das Unterhemd, das ihm der junge Mann bereits hinhielt, war schnell übergestreift. Er hatte in seinem Leben nur selten auf ein Unterhemd verzichtet; er mochte es nicht, wenn sich der Schweiß, insbesondere im Sommer, auf dem Oberhemd abzeichnete. Ausgenommen waren T-Shirts, aber die trug er nur, wenn es wirklich heiß war. Als hätte er die Gedanken des alten Mannes erraten, hielt Sven ihm ein kurzärmliges, dezent gestreiftes Hemd entgegen, das die ungeteilte Zustimmung erhielt. Nachdem er das Hemd angezogen und zugeknöpft hatte, stieg er in eine zum Hemd passende hellbeige Hose. Anschließend nahm er wieder in seinem Rollstuhl Platz, um sich von Sven die restlichen Kleidungsstücke und ein Paar leichte Lederschuhe anpassen zu lassen. Die ganze Prozedur hatte sich stillschweigend und routiniert vollzogen. Zum Abschluss reichte ihm Sven noch die Armbanduhr, die die Nacht auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Bett verbracht hatte. „Danke, Sven, das war‘s mal wieder!“, sagte der alte Mann, um dann noch hinzuzufügen: „Wird ein schöner Tag.“

„Das denke ich auch. Eine gute Zeit, für ein Frühstück auf der Terrasse“, antwortete Sven und deutete mit einer Handbewegung die Richtung an. Als ob er nur auf das entsprechende Stichwort gewartet hätte, rollte der alte Mann los, kurvte nach links auf den Flur und von da aus nach rechts in das Wohnzimmer. Dieses durchquerte er ohne weiteren Aufenthalt, um durch die weit geöffnete Tür auf die Terrasse hinaus zu fahren. In der Tat, ein herrlicher Morgen! Das üble Wetter von gestern war abgezogen, nur ein paar versprengte kleine Wölkchen zogen an einem ansonsten strahlend blauen Himmel dahin. Die Sonne stand bereits hoch genug, um über den Wipfel der mächtigen Eiche schräg links von ihm hinweg zu lugen. Auch der restliche Schatten, der sich noch über einen Teil der Terrasse legte, würde nicht mehr lange Bestand haben. Es war kühler, als der alte Mann erwartet hatte. Es musste nach den eher schwülen Tagen zuvor einen ordentlichen Wetterumschwung gegeben haben. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Wölkchen von Ost nach West zogen. Ja, er hatte recht! Üblicherweise kam hier das Wetter aus westlicher Richtung und brachte im Sommer mehr Feuchtigkeit mit. Bei einer Ostströmung kam um diese Jahreszeit eher trockene Luft von den Landmassen im Osten. Nun rollte er noch etwas näher an den kleinen, bereits gedeckten Tisch in der Mitte, der von Blumentrögen begrenzten Terrasse. Er arretierte die Bremse seines Rollstuhls und stemmte sich aus dem Sitz, um sich anschließend in einem der bereit gestellten Stühle niederzulassen. Der Tisch und die beiden Stühle waren aus Rattan gefertigt. Obwohl ansonsten geneigt, auch etwas Neues auszuprobieren, hatte er bei seinem Mobiliar keine Kompromisse gemacht. Hier legte er Wert auf natürliche Produkte. Er liebte Holz, obwohl die Kunststoffe mittlerweile kaum noch von dem Original zu unterscheiden waren, wenn es sich um eine Holzimitation handelte. Auf dem Tisch lag eine zartgrüne Decke. Also heute mal nicht weiß, dachte er, während er seinen Blick über das vor ihm stehende Gedeck schweifen ließ. Es war wie immer alles da: Teller, Tasse, Messer, Gabel und Teelöffel. Nicht zu übersehen, die kunstvoll gefaltete Stoffserviette auf seinem Teller in dem gleichen Farbton wie die Tischdecke. Das hatte Stil, davon war er fest überzeugt. Noch ganz im Anblick dieses Ensembles vertieft, nahm er zunächst nicht wahr, dass aus dem Wohnzimmer kommend ein Tablett heran schwebte. Einen Moment hielt es dann bewegungslos über dem Tisch inne, um dann mit einer sanften Abwärtsbewegung die endgültige Parkposition einzunehmen. Augenblicklich verbreitete sich der Duft gebratenen Specks, der seine Vorfreude auf das Mahl deutlich erhöhte. Auch der Anblick des Spiegeleis, das auf den Punkt gebraten war, genauso wie er es schätzte, ließ ihm, wie man so schön sagt, das Wasser im Munde zusammen laufen. Das Ganze wurde abgerundet durch ein Glas frisch gepressten Orangensaft, einem Kännchen Kaffee mit der dazugehörigen Kaffeesahne, einem Brötchen in einem kleinen Brotkorb sowie einem weiteren Teller mit jeweils einer Scheibe Wurst und Käse. Dazu ein Schälchen mit zwei Stücken Butter. Das sah alles wirklich gut aus. Um dieses Mahl mit einem i-Tüpfelchen zu versehen, rief er: „Musik“. Augenblicklich erklang der Sound einer Big-Band. Wie zu erwarten, war ihm auch dieses Stück unbekannt. Doch es gefiel ihm und er sah daher keine Veranlassung, eine andere Begleitmusik zu wählen. Also machte er sich ans Werk und goss als erstes eine Tasse Kaffee ein, dessen aromatischer Duft auch den allerletzten Rest von Müdigkeit vertrieb. Er hatte sich für heute noch einiges vorgenommen.

Als er sein Frühstück beendet hatte, stand die Sonne bereits so hoch am Himmel, dass auch der letzte Rest von Schatten auf der Terrasse vertrieben war. Zudem hatte sie an Kraft gewonnen und verbreitete zunehmend Wärme, die er allerdings noch nicht als unangenehm empfand. Trotzdem zeigten sich bereits erste kleine Schweißperlen auf seiner Stirn, die sich jedoch in Grenzen hielten, da ein leichter, kühler Wind ständig einen Teil der Feuchtigkeit mit sich nahm. Der alte Mann stapelte nun sein Frühstücksgeschirr auf das Tablett, das sich, nachdem der Tisch vollständig abgeräumt war, unverzüglich auf den Weg zur Küche machte. Während im Hintergrund die Big-Band in dezenter Lautstärke ihr Werk verrichtete, lehnte sich der alte Mann in seinem Sessel zurück, um so in entspannter Haltung die Aussicht auf den vor ihm liegenden Park zu genießen. Plötzlich überkam ihn das Verlangen nach einer Zigarette und so formulierte er seinen Wunsch dem unsichtbaren Dritten gegenüber. Er rauchte nicht viel, nur hin und wieder einmal und er genoss es. Gesundheitliche Aspekte waren für ihn kein Beweggrund mehr, darauf zu verzichten. Er war so alt geworden und bei bester Gesundheit, da spielten solche Überlegungen keine Rolle. Diesmal erschien nicht das schwebende Tablett, sondern Sven mit einem Aschenbecher, einer Packung Zigaretten und einem Feuerzeug und setzte sich auf den zweiten Stuhl zu seiner Linken. Er lächelte, kein kritischer Blick, keine hochgezogene Augenbraue, die getadelt hätte. Der alte Mann nahm sich eine Zigarette und zündete sie an. „Was möchtest du heute unternehmen?“, fragte Sven und mit einer Handbewegung zum Park hin fügte er hinzu: „Einen Spaziergang?“ Merkwürdig, dachte der alte Mann, auch Sven benutzte diesen Ausdruck, obwohl er, wie auch die anderen, bei ihrer Wortwahl immer sehr treffsicher waren. „Ja“, antwortete er, „ich werde ein Weilchen im Park herum rollern.“ Er konnte es sich nicht verkneifen, mit dem Begriff „herum rollern“ indirekt seine Missbilligung auszudrücken. Sven schien die versteckte Kritik nicht bemerkt zu haben oder er ignorierte sie geflissentlich, denn er behielt sein freundliches Lächeln bei. Im Gegenteil, das Lächeln schien sich in ein Grinsen zu verwandeln, was den alten Mann etwas irritierte. Dieser Zustand war allerdings nur von kurzer Dauer und seine bis dahin ärgerlich herabhängenden Mundwinkel bewegten sich zügig nach oben, um in einem vergnüglichen Lächeln zu enden. So saßen sie beide Seite an Seite und feixten um die Wette.

Nachdem ich meine Zigarette zu Ende geraucht hatte und die Kippe als stilles Denkmal eines vergangenen Genusses im Aschenbecher ruhte, beschloss ich nun die bereits geplante Ausfahrt zu unternehmen. Vorher erteilte ich Sven, der immer noch lächelnd neben mir auf seinem Stuhl saß und mich interessiert beobachtete, noch einen Auftrag. „Sven, besorge mir doch bitte ein Aufnahmegerät.“ Er schien nicht überrascht und gab nur ein bestätigendes „ok“ von sich. Ich fand das schon ein bisschen merkwürdig, ehrlich gesagt, ich war überrascht. Ich hatte schon erwartet, dass er mich fragen würde, was ich vorhatte. Er hätte ja wenigstens Neugierde vortäuschen können. Aber nichts dergleichen. Ich war tatsächlich ein wenig enttäuscht und versuchte durch ein Nachfassen ihn doch noch aus der Reserve zu lo cken. „Ich werde jetzt meine Runde durch den Park drehen, lege mir das Aufnahmegerät bitte auf den Tisch im Wohnzimmer. Ich möchte noch vor dem Essen loslegen.“ Ich beobachtete gespannt sein Gesicht, in der Hoffnung, dass das mit dem „Loslegen“ irgendeine Reaktion bei ihm auslösen würde. Aber nichts Derartiges. So, als wüsste er schon, was ich vorhatte und es damit keiner weiteren Fragen bedurfte, stand er auf und erklärte lapidar: „Wird erledigt. Viel Spaß bei der Rundfahrt. Da draußen blühen jetzt ein paar Büsche, die duften, dass es eine wahre Pracht ist. Es wird Dir gefallen.“ Scherzhaft fügte er noch hinzu: „Fahr vorsichtig und fall mir nicht in den Teich. Als Fischfutter taugst du nicht.“ Nach diesen Worten lachte er plötzlich in einer Lautstärke los, die ich überhaupt nicht von ihm kannte. Er musste wohl meine Überraschung erkannt haben, denn das Gelächter ebbte ab. Ich erhob mich nun ebenfalls von meinem Stuhl, um wieder in meinem Rollstuhl Platz zu nehmen. Sven unte rnahm nichts, um mich dabei zu unterstützen. Das hätte ich mir auch verbeten und er wusste das. Allerdings schien er jederzeit bereit, helfend einzugreifen, falls es erforderlich geworden wäre. Aber das war noch nie der Fall gewesen. Soweit hatten sie mich ganz gut hinbekommen.

Nachdem der alte Mann die richtige Sitzposition in seinem Rollstuhl gefunden hatte, ergriff er die Greifräder, positionierte den Stuhl in Fahrtrichtung, um sich dann zügig Richtung Park in Bewegung zu setzen. An der Südseite der Terrasse hatte man auf zwei der Blumenkübel verzichtet und so einen ca. zwei Meter breiten Durchgang zu einer leicht abfallenden Rampe geschaffen, die es ihm ermöglichte, ohne den Umweg durch seine Wohnung zu nehmen, direkt den vor dem Haus verlaufenden Parkweg zu erreichen. Er ignorierte die Möglichkeit links oder rechts abzubiegen, und bewegte sich, vom Schwung der Abfahrt angetrieben, auf dem Weg fort, der direkt auf ein kleines Wäldchen im Hintergrund zuführte. Die Wege des Parks waren mit hellbeigen, feinkörnigen Kies bestreut, der sehr schön mit dem gepflegten Grün des Rasens und den üppig blühenden Blumenrabatten harmonierte. Gerade passierte er einen Brunnen zu seiner Rechten, der einem Wasserfall nachempfunden war. Das Rauschen des fallenden Wassers war nun deutlich vernehmbar und veranlasste ihn, eine kurze Rast einzulegen. Was für ein schöner Tag! So etwas wie Hochstimmung erfasste ihn; seine Sinne registrierten die Geräusche der Natur, das Plätschern des Wassers, das Zwitschern der Vögel, die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht. Wenn es noch eines weiteren Anstoßes bedurft hätte, sein Projekt umzusetzen, dann war es dieser Moment.

Ich fühlte eine Kraft aufkommen, geradezu eine Lust, noch einmal alles für eine Aufgabe zu geben. Aber eine Zeit der Geduld wollte ich mir noch abringen, Zeit, um die Gedanken zu ordnen und eine Abfolge zu entwickeln. Und wo gab es einen besseren Ort, als den kleinen Teich, der sich hinter dem Wäldchen verbarg. Also nahm ich wieder Fahrt auf und entfernte mich vom Rauschen des unentwegt herabstürzenden Wassers. Der Kies unter den Reifen meines Rollstuhls knirschte und war somit eine ständige Begleitmusik meiner gemächlichen Fahrt. Zug um Zug näherte ich mich den Bäumen, die den südlichen Teil des Platzes mit dem Springbrunnen begrenzten. Sie standen hier dichter als auf der östlichen und westlichen Seite und bildeten so etwas wie einen kleinen Wald, der an heißen Tagen genug Schatten spendete, um den Eindruck von Kühle zu erwecken. In diesem Wäldchen änderte sich der Verlauf des Weges; hier war er nicht mehr schnurgerade, sondern schlängelte sich in sanften Schwüngen durch das Grün der Büsche zu Füßen der Bäume. Noch einmal öffnete sich das Wäldchen zu einer Lichtung, in deren Mitte sich eine Blumenrabatte befand. Rosen in allen Farbschattierungen umsäumten eine Säule, darauf eine Nachbildung der Venus von Milo. Allerdings war sie von hoher Qualität, entstammte doch der Marmor wie beim Original von den Steinbrüchen der Kykladeninsel Paros. Sie wurde von einem bekannten griechischen Künstler, der am Anfang des 22. Jahrhunderts für einige Jahre in Deutschland gelebt hatte, geschaffen. In der Tat unterschied sie sich in nichts von dem Original; selbst die kleinsten Schäden waren akribisch nachgearbeitet. Robin hatte mich auf einer meiner Spazierfahrten begleitet und mich an diesem Platz ungefragt ausführlich über die Entstehungsgeschichte dieser Statue unterrichtet und ich muss zugeben, dass ich ihr seit diesem Zeitpunkt deutlich mehr Interesse schenkte. Dies ging sogar so weit, dass ich sogar einen großformatigen Ausdruck des Originals mitnahm, um einen Vergleich vorzunehmen. Und ich musste Robin recht geben, es war alles an seinem Platz. Noch heute bewundere ich, wie die Statue aufgestellt worden war. Das Podest war aus schlichtem dunkelgrauen Marmor, darauf erhob sich die Venus von Milo, und zwar so, dass sie den Betrachter, der den Weg hinaufkam, direkt anschaute, leicht zurückgelehnt, distanziert, jedoch, wie ich fand, nicht unfreundlich. Je näher man herankam, umso abwesender wurde ihr Blick, ging ins Leere, in die Ferne, so, als hätte etwas Neues ihr Interesse geweckt. Also blieb ich stehen, um nicht aus ihrer Sichtweite zu geraten. Nun sah sie also mich, diesen alten Herrn in seinem Rollstuhl. Was hatte die Frau, die vielleicht Modell für die Venus gestanden hatte, zu ihrer Zeit gesehen? Sie konnte keine Geschichte mehr erzählen, obwohl das sicher interessant gewesen wäre. Ich dagegen konnte es noch und ich würde es tun.

Der alte Mann in seinem Rollstuhl schaute wie gebannt in das Antlitz der Venus von Milo. Erst ein lauter Vogelruf riss ihn aus der Bewegungslosigkeit. Für einen Abschied ist es wohl noch zu früh, dachte er, bevor er seine Hände wieder auf die Greifreifen legte und mit kräftigen Zügen seinen Rollstuhl wieder vorantrieb. Wiederholt blickte er hinauf, doch sie hatte sich von ihm abgewandt, blickte über ihn hinweg, den Weg hinunter, der nun wieder leer war. Er umrundete die kleine Rabatte und bemerkte, dass den Rosen ein kräftiger Duft entströmte, der sich jedoch verflüchtigte, als er abbog, um dem Weg in Richtung Teich zu folgen. Zunächst gerade, begann er nun wieder einen kurvigen Verlauf zu nehmen, sodass er den Teich, den er hier und da schon zwischen den Bäumen schimmern sah, erst viel später erreichte, als man es erwarten konnte.

Endlich war ich da und steuerte auf den Steg zu, der vom Ufer aus in den Teich ragte. Ein Weg über das Wasser, der zu einer großzügig angelegten Plattform führte. Alles war mit einem dem Teakholz nachempfundenen Kunststoff beplankt, was wohl der Umwelt und der leichteren Pflege geschuldet war. Die Planken waren dicht aneinander gelegt, so dass man auch als Rollstuhlfahrer keine Probleme hatte. Die Steganlage und die Plattform waren mit einem relativ niedrigen Geländer aus dem gleichen Material eingefasst, so niedrig, dass ich bequem darüber hinweg schauen konnte. In der Mitte der Plattform stand ein kleiner Pavillon, der nicht nur Schutz vor der Sonne bot, sondern auch Platz für eine runde Sitzbank, die zum Verweilen einlud. Da ich mit einer eigenen Sitzgelegenheit angereist war, schenkte ich ihr jedoch keine weitere Beachtung. Allerdings war ich dankbar dafür, dass das Dach des Pavillons ausreichend groß war, um mir ein schattiges Plätzchen zu bieten. Die Sonne war mittlerweile hoch in die Himmelskuppel gestiegen und es begann recht warm zu werden. Der Teich war relativ groß, bis zum gegenüberliegenden Ufer waren es aus meiner Warte sicherlich an die 100 Meter. Linker Hand war das Ufer relativ nah, nicht mehr als 50 Meter, während er sich zu meiner Rechten lang hinstreckte, schätzungsweise 300 Meter. Um den Teich herum war ein Uferweg angelegt, der immer neue Ausblicke auf den Teich und den Park gewährte. In der Tat, ich konnte mich glücklich schätzen, dass es mir vergönnt war, meine letzten Tage an einem solchen Ort verbringen zu können. Und ich genoss es, atmete in tiefen Zügen die von dem gestrigen Regen gereinigte Luft ein und spürte, wie sich mein Körper entspannte. Gerade landete eine Gruppe von Enten vor mir und begann mit viel Geschnatter das Wasser nach etwas Fressbaren abzusuchen. Mir fiel der Kinderreim ein: „Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh“. Nicht weit davon entfernt strebte eine Schwanenfamilie auf das gegenüberliegende Ufer zu, wo einige mächtige Weiden standen, deren Zweige tief bis zum Wasser hinab hingen. Um nicht weiteren Ablenkungen ausgesetzt zu sein, schloss ich die Augen. Ich wollte mich auf das konzentrieren, was der Grund für mein Herkommen war.

Es war mehr als eine Stunde vergangen, die Sonne stand bereits im Zenit, als der alte Mann, der bis dahin fast regungslos in seinem Rollstuhl gesessen hatte, so als wäre er eingeschlafen, seinen Oberkörper aufrichtete und die Arme nach oben streckte. Dann erhob er sich von seinem Sitz und ging ein paar Schritte zu einem der Pfähle, die das Dach des Pavillons trugen. Er sollte und musste sich häufig bewegen, er war den Ratschlägen der Ärzte weitestgehend gefolgt. Aber die Ausnahme bestätigt die Regel, so auch heute. Er hatte das Laufen vernachlässigt, hielt das aber für vertretbar. Nach einer kurzen Verschnaufpause machte er sich auf, den nächsten Pfahl anzusteuern. Auch hier verweilte er einen Moment, um sich anschließend wieder zu seinem Rollstuhl zu begeben. Er nahm Platz, löste die Bremsen und machte sich auf den Rückweg. Er spürte die Wärmestrahlung, die von dem Steg reflektiert wurde und empfand sie jetzt als unangenehm. Zeit nach Hause zu kommen. Er verspürte Durst, er musste etwas trinken. War die Fahrt zum Teich fast gemächlich gewesen, schien er jetzt von großer Eile getrieben. Der Verzicht auf das Einschalten des kleinen Elektromotors erfüllte ihn mit Genugtuung. Er fühlte sich stark genug, auch den Weg zurück aus eigener Kraft zu bewältigen. Bald hatte er die Venus von Milo vor sich, die ihm die kalte Schulter zeigte. Er lächelte bei der Absurdität dieses Gedankens, denn mit Sicherheit hätte man auf ihr ein Spiegelei braten können, so, wie sie da in der prallen Sonne stand. Er passierte den Duft der Rosen und rollte kurz darauf wieder im Schatten der mächtigen Bäume. Bis auf das gelegentliche Rufen oder Zwitschern eines Vogels, das aufkommende und wieder abebbende Summen eines größeren Insektes und das Knirschen der Räder auf dem Kies war kein weiteres Geräusch vernehmbar. Kein Blatt raschelte, da auch die leichte Brise des Morgens der Vergangenheit angehörte. Zügig durchfuhr er das Waldstück und erreichte den Platz mit dem kleinen Wasserfall, der unverändert sein Rauschen von sich gab. Vor ihm lag die Seniorenwohnanlage, in der sich auch seine Heimstatt befand. Schlichte weiße Bungalows, die jeweils zwei Wohneinheiten beherbergten. Sein Bungalow befand sich von ihm aus gesehen ganz rechts, nur durch eine niedrige Hecke von der Straße getrennt, die dank der elektrobetriebenen Fahrzeuge die Ruhe der Anlage nicht störten. Links von seinem Bungalow schlossen sich weitere neun gleichartige Gebäude an. Das gesamte Ensemble bestand aus zehn Reihen dieser Bungalows. Es war nicht gerade hässlich, war doch der einzelne Bungalow für sich betrachtet durchaus nach seinem Geschmack, über den man bekanntlich streiten kann, aber diese Gleichförmigkeit störte ihn dann doch. Er hielt an, sein Blick glitt hinüber zu der gegenüberliegenden Straßenseite, wo äußerst farbenfreudige dreistöckige Wohnhäuser durch großzügig geschnittene und gepflegt aussehende Vorgärten auf Abstand von der Straße gehalten wurden. Dahinter, einige Straßen weiter, gab es eine Fußgängerzone mit diversen kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants, wo man, wie er fand, gut und abwechslungsreich essen konnte. Dies war seine kleine Welt, im wahrsten Sinne des Wortes. Er seufzte und setzte dann seine Fahrt fort.

Als ich die kleine Rampe zu meiner Terrasse hinauffuhr, musste ich mir eingestehen, dass mich der Rückweg doch mehr beansprucht hatte, als ich dachte. Ich war gespannt, ob man mir das Aufnahmegerät gebracht hatte. Ich fuhr durch die weit geöffnete Terrassentür ins Wohnzimmer, den Blick auf den Tisch gerichtet, auf dem ein kleines Kästchen stand. Das musste es sein! Es war eine kleine Schachtel, weiß, ohne jeden Aufdruck, der auf den Inhalt hingewiesen hätte. Ich hob den Deckel an und legte ihn dann beiseite. Da war es, eingebettet in eine Hartplastikform, die das Gerät vor unsachgemäßer Behandlung schützte. Ich entnahm es der schützenden Hülle. Es hatte die Größe einer Scheckkarte, allerdings etwas dicker. Die Oberfläche war völlig eben und wies keinerlei Hinweise auf die Funktion auf. Als ich mich nach einem Aufnahmegerät erkundigt hatte, wurde ich auf dieses Gerät verwiesen. Man nannte es das „SuperOhr“, ein Aufnahmegerät der Spitzenklasse: aus einem organischen Material, dass aus jeder Position das gesprochene Wort aufnahm und es als solches sowie als schriftliches Dokument speicherte. Es wurde durch mündliche Befehle gesteuert und lieferte auf Wunsch auch einen Ausdruck über eine externe Druckerstation. Ich verkniff es mir, es sofort auszuprobieren und legte es wieder zurück auf den Tisch. Das Durstgefühl hatte sich wieder zurückgemeldet. Zudem verspürte ich wieder einen Appetit, den ich nach dem reichhaltigen Frühstück nicht so bald erwartet hätte. Den Tisch auf der Terrasse hatte man etwas mehr zum Haus geschoben und die Markise geöffnet. Man erwartete wohl, dass ich mein Mittagsmahl draußen einnehmen würde und ich wollte sie nicht enttäuschen. Also gab ich meine Bestellung auf: einen Salat mit Putenbruststreifen. Dazu Wasser und zur Feier des Tages ein Glas eines leichten Roséweins. Ich musste nicht lange warten und das Gewünschte stand auf dem Tisch.

Nachdem der alte Mann gegessen hatte, blieb er noch ein wenig sitzen, um noch den Rest des Glases Wein zu leeren. Er nutzte die Zeit, um sich zu überlegen, wie er seine Geschichte beginnen sollte. Der Gedanke, sie niederzuschreiben, war ihm erst vor kurzem gekommen. Er hatte die Idee jedoch gleich wieder als absurd verworfen; wer sollte das lesen? Wer sollte sich dafür interessieren? Doch der Gedanke war zurückgekehrt und hatte sich immer energischer gegen die Nichtbeachtung gewehrt. Und tatsächlich, er konnte sich immer mehr mit diesem Gedanken anfreunden; es wäre sein Lebenswerk, ein letztes Aufbäumen gegen das Unabänderliche. Schließlich hatte er den Entschluss gefasst, er würde es tun. Da er auch während seiner Berufstätigkeit viel diktiert hatte, stand fest, dass er sich eines Aufnahmegerätes bedienen würde. Das Schreiben hätte zu viel Zeit beansprucht und er wusste ja nicht, wie viel Zeit er noch hatte. Das Glas Wein war geleert und er fühlte sich beschwingt. Er war dem Alkohol nie abgeneigt gewesen, ein gutes Glas Wein hatte er immer geschätzt. Ehrlich gesagt, meistens waren es zwei. Aber in den letzten Jahren, hatte das Verlangen nachgelassen. Er trank nicht mehr regelmäßig, eher sporadisch; kurz gesagt: er trank regelmäßig sporadisch. Deshalb war er den Alkohol nicht mehr so gewöhnt, vielleicht lag es aber auch an der Wärme dieses Sommertages. Es wird Zeit, dachte er und stellte das geleerte Glas zu dem übrigen Geschirr auf das Tablett. Er nahm nur noch unbewusst wahr, dass sich das Tablett mit seiner Fracht auf den Weg in die Küche machte, da sich alle seine Sinne auf das Kommende richteten. Er erhob sich aus dem Stuhl, um sich wieder in seinen Rollstuhl zu setzen. Ohne weitere Verzögerung fuhr er ins Wohnzimmer und zu dem Tisch, auf dem das Aufnahmegerät unverändert an seinem Platz lag. Fast ungeduldig griff er danach, begutachtete es noch einmal von allen Seiten, doch er gewann keine neuen Erkenntnisse, es behielt seine Geheimnisse für sich. Er musste zugeben, dass der technische Fortschritt während seines Lebens eine erhebliche Entwicklung durchgemacht hatte. Und das „SuperOhr“ war das Ergebnis einer dieser Entwicklungssprünge. Zu seiner aktiven Zeit hatte es so etwas noch nicht gegeben.

Bevor ich mit meiner Geschichte begann, wollte ich das Gerät noch einmal testen. „Aufnahme“, rief ich, um gleich ein „Test“ folgen zu lassen. Als Nächstes versuchte ich es mit „Abspielen“, was das Gerät auch ohne größere Verzögerung tat: „Test“. Meine Stimme klang in meinen Ohren zwar ungewohnt, war aber klar und deutlich und in ausreichender Lautstärke. Ich wollte jedoch die Möglichkeiten des Gerätes ergründen und so sagte ich: „Lauter“. Unvermittelt erklang meine Stimme aus den Lautsprechern des Zimmers. Da für meine Zwecke die Lautstärke des Geräts ausreichend war, rief ich: „Leiser“. Tatsächlich kam das „Test“ wieder aus dem Gerät. Nachdem ich mich von der Funktionstüchtigkeit überzeugt hatte, machte ich mich ans Werk. Ich hatte nicht lange überlegen müssen, wie ich anfangen wollte, es bot sich geradezu an. Ich rückte noch einmal meine Sitzposition zurecht und begann:

„Mein Name ist Edvard Stendahl.“

Der alte Mann saß am Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Am Nachmittag hatte es einen Wetterumschwung gegeben. Die Luft hatte sich aufgeheizt und es war schwül geworden; er hatte die Terrassentür geschlossen und die Klimaanlage eingeschaltet. Am westlichen Horizont ballten sich bereits die ersten dunklen Wolken, die von dem am Nachmittag aufkommenden Wind Richtung Osten getrieben wurden. Gegen 18:00 Uhr war es so dunkel geworden, dass er Licht angefordert hatte. Die Wände selbst waren aus einem leitfähigen Material und hatten bestimmungsgemäß in einem warmen Licht zu Leuchten begonnen. Bis 19:30 Uhr hatte er, von kurzen Trinkpausen abgesehen, dem „SuperOhr“ seine Geschichte erzählt. Als er sein Abendbrot einnahm, ein paar kleine Schnittchen mit Wurst und Käse belegt, dazu ein Feldsalat mit einem delikaten Dressing sowie einem Glas Buttermilch, war er sehr zufrieden mit dem heute Geleisteten. Er hatte den Eindruck, nicht nur den ersten Schritt getan zu haben, sondern darüber hinaus ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Nach dem Essen stand die obligatorische Nachrichtensendung auf dem Plan. Danach hatte er überlegt, ob er noch ein wenig von seiner Geschichte nachlegen sollte; hatte dann aber doch darauf verzichtet, da sich ein erster Anflug von Müdigkeit breit machte. Er wollte aber vor dem zu Bett gehen noch etwas entspannen und hatte sich deshalb ans Fenster gesetzt. Seltsamerweise überkam ihn erneut die Lust nach einem Glas Wein. Dieses Mal wählte er einen Valpolicella, der ihn an Italien, an Verona gutes Essen und einige Opernaufführungen erinnerte, die er allesamt genossen hatte. Aber das war lange her. Draußen hatte der Wind stark zugenommen und es schien nur eine Frage der Zeit, bis das Unwetter, das sich erstaunlich viel Zeit gelassen hatte, losbrechen würde. Die wenigen Passanten auf der Straße schienen in Eile, was in Anbetracht des fernen Grummelns nicht weiter verwunderte. Hin und wieder der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos. Schließlich setzte der erwartete Regen ein, erst tröpfelnd, dann stetig zunehmend, bis selbst hinter den gut isolierten Fenstern ein beständiges Rauschen wahrnehmbar wurde. Blitze erhellten nun die Dunkelheit, denen ein Grollen in unterschiedlicher Lautstärke folgte. So verging die Zeit, während er das Glas Wein leerte und die mittlerweile menschenleere Straße betrachtete. Es war Zeit, sich zur Ruhe zu begeben.

Ich war mit meinem Werk gut vorangekommen. Seitdem ich mit der Aufzeichnung meiner Geschichte begonnen hatte, war es fortlaufend wärmer, man konnte schon sagen, unerträglich heiß geworden. Immer wieder zogen abends Gewitter auf, sodass ich in der letzten Zeit das Haus nur selten verlassen hatte. Ich bedauerte diesen Umstand nicht sonderlich, kam es doch meiner Arbeit entgegen. Heute war es jedoch bedeutend kühler und nur wenige kleine weiße Wolken kontrastierten mit dem intensiven Blau des Himmels. Ich hatte daher beschlossen, das Frühstück in einem der Bistros in der Fußgängerzone einzunehmen. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, wieder einmal unter Menschen zu sein. Die Vorstellung, Menschen zu begegnen, erheiterte mich zusehends und so machte ich mich auf den Weg. Ich verließ meine Wohnung über die Terrasse und rollte durch ein sich automatisch öffnendes Tor auf den Gehweg, der die Straße flankierte. Bereitwillig hielt ein Auto, als ich mit kräftigen Zügen auf dem Zebrastreifen dem gegenüberliegenden Bürgersteig zustrebte. Ich begegnete einer Gruppe junger Mädchen, für die es wohl nichts Aufregenderes gab, als den jungen Mann auf der anderen Straßenseite. Sie plapperten und kicherten, während der junge Mann sichtlich bemüht war, Desinteresse zu zeigen und eilig dahin schritt. Das Objekt ihres Interesses nicht aus den Augen verlierend, öffneten die jungen Damen eine Gasse, damit ich meine Fahrt ohne Verzögerung fortsetzen konnte. Hin und wieder traf ich einen Anwohner, den ich schon länger kannte. Allerdings beschränkte sich die Konversation in diesen Fällen auf ein „Guten Tag“ oder „Schönes Wetter heute“; was man eben so sagt, wenn man eigentlich keine Lust auf eine längere Konversation hat, aber auch nicht unhöflich erscheinen will. Eilig setzte ich meinen Weg fort, denn ich hatte Hunger. Die Mahlzeiten der letzten Wochen waren nicht gerade üppig ausgefallen und hatten sich auf das Notwendigste beschränkt. Fast rastlos hatte ich mich meiner Geschichte gewidmet, immer in Sorge, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Zumindest für heute hatte der Wetterumschwung auch zu einem Umschwung in meinem Kopf geführt, ich wollte eine Auszeit nehmen, mich zumindest für ein paar Stunden entspannen, um danach wieder mit frischer Kraft ans Werk zu gehen. Als ich nach gut zwanzig Minuten in die Fußgängerzone einbog, war ich annähernd am Ziel. Das Bistro mit dem charmanten Namen „Mon cher Ami“ befand sich noch rund fünfzig Meter weiter auf der linken Seite. Schon von meiner Warte aus konnte ich den Maître erkennen, der gerade ein paar Sonnenschirme aufstellte. Sein Name war Jean und er gab vor Franzose zu sein, was natürlich, trotz seines prächtigen französischen Akzents, bezweifelt werden durfte; gleichwohl hatte er die meiner Ansicht nach besten Croissants. Noch beim Zurechtrücken eines gerade aufgespannten Sonnenschirms erkannte er mich und winkte mir mit einem breiten Lächeln zu. Ich hatte gerade die Sushi-Bar erreicht, die vor dem Bistro lag und naturgemäß um diese Zeit noch geschlossen hatte, als er wie immer versuchte, mich vor seiner wahren Herkunft zu täuschen: „Bonjour, Monsieur Edvard! Ein schöner Morgen, um bei mir das Frühstück einzunehmen. Ich habe knusprige Croissants, sie sind gerade aus dem Ofen gekommen.“ Fragend breitete er seine Arme aus: „Wo möchten Sie Platz nehmen?“ Ich entschied mich für den mittleren Tisch in der ersten Reihe, um einen besseren Überblick über das Treiben zu haben. Die Fußgängerzone war etwas breiter als die übrigen Straßen der Umgebung und bot somit eine Menge Raum zum Flanieren. Der Boden war mit Naturstein gepflastert, immer wieder unterbrochen durch üppig bepflanzte Blumentröge und Bäume, die den Passanten Schatten boten. Das Bistro war nur mäßig besucht; von den neun Tischen waren nur drei besetzt. Abgesehen von mir, hatten sich noch ein älteres Paar und ein junger Mann niedergelassen, der noch auf das Bestellte wartete, während das Pärchen bereits speiste. Ich orderte bei Jean einen Cappuccino und ein mit Käse und Schinken gefülltes Croissant. Während Jean hineinging, um das Gewünschte zu besorgen, richtete ich mein Interesse wieder auf die Fußgängerzone. Ich war etwas enttäuscht, denn es war, anders als ich es erwartet hatte, wenig los. Allerdings wäre es wohl auch übertrieben gewesen, wenn es hier und jetzt ein heftiges Kommen und Gehen gegeben hätte, nur weil ich die Lust verspürt hatte, unter Menschen zu sein. Ich schmunzelte bei dieser Überlegung, was Jean, der gerade das Bestellte an den Tisch brachte, veranlasste festzustellen: „Ich sehe, es geht Ihnen gut“. Ich bestätigte dankend seine Vermutung und machte mich über mein Frühstück her.

Der alte Mann hatte gerade sein zweites Croissant, dem er nicht hatte widerstehen können, verspeist und den letzten Rest Cappuccino getrunken, als eine ältere Dame den Weg herunterkam und seinen Tisch ansteuerte. Es war Julia, eine Mitbewohnerin der Seniorenresidenz, die wohl etwas weiter oben das „Café zur Linde“ besucht hatte. Nachdem sie sich begrüßt hatten, fragte er sie, ob sie noch Lust auf einen Espresso hätte. Er war sich sicher, dass sie zustimmen würde und er hatte sich nicht getäuscht. Auf seine Bitte hin nahm sie an seinem Tisch Platz und man begann über dieses und jenes zu plauschen. Julia war, wie man so schön sagte, von schlichtem Gemüt und deshalb beschränkte man sich auf das Alltägliche, das Wetter, das Essen und diverse Zipperlein, von denen sie geplagt wurde. Im Gegensatz zu ihr war er augenscheinlich ein Ausbund an Gesundheit. Er hatte bisher keinen allzu großen Kontakt zu seinen Mitbewohnern gehabt, so auch nicht zu Julia. Er war ihr zum ersten Mal begegnet, kurz nachdem er in die Seniorenwohnanlage gezogen war. Sie war damals noch am Empfang tätig gewesen und er hatte sie gefragt, wo man in der Umgebung gut essen könnte. Dass sie Julia hieß, konnte er dem Namensschild auf dem Tresen entnehmen. Sie war ihm danach wiederholt begegnet, selbst nachdem sie ihren Job als Empfangsdame aufgegeben hatte, da sie nun ebenfalls über eine Wohnung in der Anlage verfügte. Heute war es jedoch das erste Mal, das sie längere Zeit miteinander sprachen und er musste sich eingestehen, dass er Spaß daran hatte. Beinahe belustigt nahm er wahr, dass sie, obwohl sie nach ihrer Aussage beständig starke Schmerzen hatte, was eigentlich aufgrund der heutigen medizinischen Möglichkeiten unwahrscheinlich war, äußerst heiter wirkte. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihm indirekt klarmachen wollte, dass er doch gefälligst altersgemäß auch ein Leiden haben sollte. Beiläufig schaute er auf seine Armbanduhr: es war fast Elf. Julia, die seinen Blick auf die Uhr bemerkt hatte, stand plötzlich auf und fragte: „Kommst du mit?“. Etwas überrascht vom abrupten Ende des Gesprächs fiel ihm nichts Besseres ein, als ein: „Ja, ja!“. Beide richteten noch einen kurzen Abschiedsgruß an Jean und machten sich dann auf den Weg zurück in die Seniorenresidenz.

Nach meinem Besuch des Bistros in der Fußgängerzone und der mir mittlerweile befremdlich vorkommenden Begegnung mit Julia, hatte ich intensiv an meiner Geschichte gearbeitet. Vor fünf Tagen, am 20. August, habe ich den Bericht abgeschlossen, kurz gesagt, das Werk vollendet. Die danach aufkommende Euphorie hatte allerdings nicht lange Bestand. Das Ganze hatte doch einiges an Kraft gekostet und ich fühlte mich müde und abgespannt. War ich zuvor mit ein paar Stunden Schlaf ausgekommen, hatte ich die beiden folgenden Tage, abgesehen von kurzen Essenspausen, fast durchgehend schlafend verbracht. Erst seit gestern habe ich wieder das Gefühl, einigermaßen fit zu sein. Am Abend hielt ich dann die Zeit für gekommen, mich mit einem Glas Champagner zum Anlass der Fertigstellung meiner Geschichte zu belohnen. Tatsächlich waren es drei und die Flasche fast gänzlich geleert, bevor ich mich erneut zu Bett begeben habe. Es wunderte mich also nicht, dass es heute bereits neun Uhr war, als ich erwachte. Nach der Körperpflege und einem ausgedehnten Frühstück, welches erstaunlich üppig ausfiel, wollte ich mir noch einen Wunsch erfüllen. Zuvor musste ich allerdings noch dafür sorgen, dass das Aufnahmegerät mit meinen Aufzeichnungen sicher verwahrt wurde, obwohl ich keine Vorstellung davon hatte, wer sich diese Geschichte anhören bzw. lesen sollte, geschweige denn, wann? Ich rief also Sven, der heute wieder für meine Betreuung zuständig war und auch prompt erschien. Ich übergab ihm das Aufnahmegerät, das ich wieder in der Schachtel verstaut hatte, und beauftragte ihn, es in das mir bekannte unterirdische Archiv zu bringen, wo ansonsten Kunstwerke untergebracht waren. Sven stellte keine weiteren Fragen und machte sich auf den Weg, meinem Wunsch nachzukommen. Danach zögerte ich nicht lange und setzte meinen Rollstuhl in Bewegung. Der Weg, den ich vor mir hatte, war lang und sollte mich an die Grenze der Stadt, meiner Welt führen. Ich wusste, was mich erwartete, aber ich wollte es nicht versäumen, es noch einmal in Natura zu sehen. Ich fuhr hinaus auf die Terrasse und dann weiter in Richtung Fußgängerzone. Hier legte ich einen kleinen Zwischenstopp bei Jeans Bistro ein und trank einen kräftigen Cappuccino, der meine Lebensgeister zusätzlich beflügelte. „Sie wollen bis zur Stadtgrenze? Ist das nicht zu anstrengend?“, fragte er, nachdem ich ihn über mein Vorhaben unterrichtet hatte. Er schien tatsächlich besorgt, zumindest war das übliche Lächeln verschwunden. „Jean, keine Sorge, ich weiß schon was ich tue.“ Aber auch jetzt zeigte seine Miene keine Veränderung, was mich zutiefst verwunderte. Ich versuchte ihn von meiner Fitness zu überzeugen und schenkte ihm das freundlichste Lächeln, dessen ich fähig war. Dann verließ ich einen immer noch sorgenvoll dreinblickenden Jean und setzte meine Fahrt fort. Zunächst ging es zurück bis zur Kreuzung, wo ich hergekommen war, dann weiter Richtung Osten. Obwohl heute Donnerstag war, schienen die Straßen wie ausgestorben. Ich begegnete nur wenigen Passanten, die mir durchweg fremd waren; es war kein bekanntes Gesicht darunter. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen so weiten Weg zurückgelegt hatte, aber es musste schon viele Jahre her sein. Um meine Kräfte zu schonen, hatte ich den Elektroantrieb eingeschaltet. Und so rollte ich lautlos dahin, meinem Ziel entgegen.

Der alte Mann mit dem Namen Edvard Stendahl hatte den Endpunkt seines Ausfluges fast erreicht. Er passierte die letzten Wohnblöcke zu seiner Rechten und Linken, die allesamt einen gepflegten, aber dennoch unbewohnten Eindruck machten. Bis auf den Gesang von ein paar Vögeln herrschte Stille, die Gegend war menschenleer. Mit den letzten Häusern endete auch die Straße und machte, ausgenommen von einem schmalen Fußweg, einer ausgedehnten Rasenfläche Platz. Vor ihr erhob sich eine Anhöhe, vergleichbar mit einem Deich, ca. zwanzig Meter hoch. Er hatte Sorge, dass die Kraft seines Antriebs nicht ausreichen könnte, den Rollstuhl bis zur Kuppe hinauf zu fahren, doch seine Sorge war unbegründet. Der Hang war nicht so steil, wie es zunächst den Anschein hatte und so ging es in gleichförmiger Fahrt hinauf. Er fühlte Erregung in sich aufkommen, so als stünde ihm ein großes Abenteuer bevor. Ungeduldig schätzte er die noch zu bewältigende Strecke ab. Schließlich war es soweit, er war angekommen. Genauso wie er es erwartet hatte, lag ein grünes Feld vor ihm, dass sich bis zum Horizont erstreckte. Ein Meer riesiger Blätter, dicht an dicht, so hoch wie ein vierstöckiges Gebäude. Er blickte aus der Höhe hinab auf diese mächtigen und bewegungslos dastehenden Pflanzen; kein Wind störte die Ruhe, kein Vogelruf unterbrach die Stille. Im Gegensatz dazu überschlugen sich seine Gedanken, Erinnerungen stiegen auf und verschwanden, eine Kakophonie von Bildern aus der Vergangenheit. Sein Innerstes war aufgewühlt und er zwang sich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er war hier, das war doch sein Wunsch gewesen. Tatsächlich verlangsamte sich sein Herzschlag wieder und das Chaos in seinem Kopf löste sich auf. Er wendete seinen Rollstuhl und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Das also war sein Berlin bzw. das, was davon noch übrig war. Die Stadt, in der er, abgesehen von diversen Urlaubs- und Geschäftsreisen, den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Seine Welt, wie er sie nannte, reduziert auf einige Quadratkilometer, eingefasst von einem Wall, einem Deich als Schutz vor der grünen Flut. Die Luft war klar und zeigte auch entfernte Objekte mit einer beeindruckenden Schärfe. Die Seniorenresidenz mit den niedrigen Bungalows war von hier aus nicht erkennbar. Auch ansonsten gab es keine bedeutsamen Objekte. Die befanden sich außerhalb der Enklave, so zu seiner halbrechten der ehemalige Flughafen Tempelhof, ein Denkmal der Fluggeschichte. Weiter hinten erhob sich das Gestänge des Funkturms, ein Symbol für die Anfänge des Rundfunks. Ganz rechts reckte sich der Fernsehturm empor, dessen silbrige Kugel im Sonnenlicht glänzte. Links davon das Brandenburger Tor und diverse Gebäude, die aus dieser Entfernung wie Spielzeughäuser wirkten. Alles Solitäre in einem allumfassenden Grün, aufbewahrte Denkmäler, in einem Zustand, wie man ihn sich früher oftmals gewünscht hätte. Langsam ließ der alte Mann seinen Rollstuhl um seine eigene Achse kreisen, immer wieder verharrend, um den Anblick zu verinnerlichen. Als er den 360°-Schwenk beendet hatte und sein Blick erneut Richtung Osten über das weite Feld strich, waren bereits einige Stunden vergangen und die Sonne strebte dem westlichen Horizont entgegen. Während er dort saß, spürte er die ersten Wellen eines aufkommenden kühlen Ostwindes, der das Blättermeer vor ihm zu einem auf- und abschwellenden leisen Rascheln veranlasste. Er begann etwas zu frösteln. Er hatte sich ungeschützt der Sonne preisgegeben und war durchgeschwitzt. Der Wall und der Rollstuhlfahrer warfen mittlerweile einen Schatten über das angrenzende Feld; der Rollstuhl und der darin sitzende Mann beinahe grotesk verzerrt. Er musste schmunzeln und erst jetzt fiel ihm bei diesem Anblick auf, was seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war: es wurde nicht geerntet. Üblicherweise waren die Blätter hellgrün und die Adern, die sie durchzogen, waren normalerweise fast weiß, wenn sie geerntet wurden. So war es bisher immer gewesen, hatte er es doch oft genug gesehen. Diese Blätter aber wiesen ein dunkles Grün auf und die Adern hatten bereits eine violette Färbung angenommen. Diese so kostbaren Gewächse waren also nicht rechtzeitig geerntet worden. Er war sich sicher, dass diese Pflanzen nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck geeignet waren. Sein Puls beschleunigte sich, während sich seine Gedanken zu der einen Frage formten: Was war geschehen?

Der alte Mann spürte ein erneutes Frösteln, wobei er nicht zu unterscheiden wusste, ob die Aufregung, die ihn erfasst hatte, der Grund dafür war oder der kühle Wind, der an Stärke zugenommen hatte. Er wendete seinen Rollstuhl, sodass er wieder der Sonne zugewandt saß. Sein Rücken, der ebenfalls schweißnass war, war durch die Rückenlehne seines Rollstuhls geschützt. Von vorne wärmte ihn die Sonne, die unverändert dem Horizont entgegen strebte. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, versuchte die gewonnene Erkenntnis zu erklären. Aber seine Erinnerungen gaben keine Hinweise auf eine Lösung dieses Rätsels. Die Sonne sank in einen dunstigen Schleier herab und nahm eine rote Färbung an, die sich über den Himmel ausbreitete. Der Kopf des alten Mannes war herabgesunken. Am Donnerstag, den 25. August 2174 um 19:52 Uhr starb Edvard Stendahl; er war der letzte Mensch.

Ernteplanet

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