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2. Rückblick 2.1. Anzeichen
Оглавление„Mein Name ist Edvard Stendahl und dies ist die Geschichte meines Lebens. Allerdings habe ich noch ein paar Monate draufgesattelt, um vor allem die Zeit vor meiner Zeugung bis zur Geburt zu erfassen, die, wenn man es recht betrachtet, eigentlich die bedeutsamste in meinem Leben war und daher auch den größten Anteil an meiner Geschichte hat. Wie man sich denken kann, ist es mir nicht möglich, diese Zeit und meine frühe Kindheit aus eigener Erinnerung zu beschreiben. Aber mir ist, dank meines guten Gedächtnisses, viel von den Erzählungen und Berichten meiner Eltern und der sonstigen Verwandten und Anverwandten in Erinnerung geblieben, sodass ich mir sicher bin, ein umfassendes Bild der wichtigsten Geschehnisse aus dieser Zeit liefern zu können. Hilfreich waren auch einige Aufzeichnungen meiner Mutter, die sporadisch so etwas wie ein Tagebuch geführt hat. Etwas altmodisch, aber für mich von unschätzbarem Wert, weshalb es ebenfalls zu den Reliquien gehört, die ich aufbewahrt habe. Da, wo dem eigenen Wissen natürliche Grenzen gesetzt sind, habe ich zum besseren Verständnis der Ereignisse auch andere mir zugängliche Quellen herangezogen.
Ich habe, wie man so schön sagt, das Licht der Welt am 1. Februar 2048 erblickt. Fast ein Wunder, denn meine Zeugung war eine äußerst knappe Angelegenheit und wurde durch ein Ereignis der besonderen Art zunächst weit in den Hintergrund gedrängt. Aber alles der Reihe nach …“
Freitag, 29.03.2047
Erik Stendahl strebte schnellen Schrittes auf das Blumengeschäft zu, das sich durch die vor dem Schaufenster drapierten Sträuße und ihrer üppigen Farbenpracht wohltuend, wie er fand, vom eher kühlen Design der übrigen Geschäfte abhob. Mit seinem dunklen Anzug und einer dazu passenden rot-schwarz gestreiften Krawatte unterschied er sich nicht wesentlich von all den anderen Artgenossen, die wie er mit einem Rollenkoffer durch die Gänge des Flughafens eilten. Die Maschinen, die in der letzten Stunde gelandet waren, kamen überwiegend aus den Metropolen dieser Welt und hatten augenscheinlich eher Geschäftsleute als Touristen an Bord. Diese waren deutlich in der Unterzahl und unschwer erkennbar an der Freizeitbekleidung, sportiven Jacken, Jeans und sonstigen schlabbrigen Hosen, wie sie dem Stil der Zeit entsprachen und natürlich an der größeren Zahl an Gepäckstücken, die sich auf Gepäckwagen zu stattlichen Bergen türmten. Als Erik Stendahl den Blumenladen erreicht hatte, stellte er seinen Trolley in eine Parkposition und zog sich den hellen Übergangsmantel an, den er bis dahin über seiner Schulter getragen hatte. Dabei verschaffte er sich einen ersten Überblick über das Angebot an Blumensträußen, die in unterschiedlicher Größe und Gestaltung in kleinen Kübeln steckten. Ein Gong ertönte und eine angenehme Frauenstimme forderte die Passagiere auf, Gepäckstücke nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Diese Information hatte er schon so oft vernommen, dass seine Aufmerksamkeit schon wieder erloschen war, als die Stimme begann, die Aufforderung auf Englisch zu wiederholen. Das entfernte Grollen einer startenden Maschine ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er sich immer noch auf dem Flughafen befand, den er eigentlich so schnell wie möglich verlassen wollte. Aber die vier Wochen Abwesenheit, er war als Consultant Senior Manager für ein weltweit agierendes Beratungsunternehmen bei einem Mandanten in Madrid tätig gewesen, waren diesmal Anlass genug, seine Frau mit ein paar Blumen zu überraschen. Kirstin liebte gelbe Rosen, also richtete er sein Augenmerk auf die entsprechenden Sträuße. Er war froh, dass die Auswahl in dieser Hinsicht sehr überschaubar war und er seine Entscheidung zügig treffen konnte. Zwischenzeitlich war die Verkäuferin aus dem Geschäft herausgetreten:
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Den hätte ich gern.“
Er wies auf den Strauß seiner Wahl und sie nahm ihn vorsichtig aus dem Behältnis und ging damit zurück ins Geschäft. Er packte den Griff seines Rollenkoffers und rumpelte damit hinter ihr her.
„Haben Sie es noch weit?“ Sie blickte ihn fragend an.
„Na ja, ich bin schon noch einige Zeit unterwegs, aber ich nehme ein Taxi.“
„Dann schlage ich ihn nur normal ein, so kalt ist es ja nicht. Das macht dann 15 Euro.“
Er griff in die linke Innentasche seines Jacketts und fingerte die Geldbörse heraus. Er zahlte passend und tauschte die Geldscheine und Münzen gegen den Blumenstrauß. Zufrieden mit seinem Einkauf verließ er das Geschäft und folgte den Hinweisschildern zum Ausgang des Flughafengebäudes.
Unmittelbar am Terminalausgang befand sich der Taxistand, an dem wie an einer Perlenschnur aufgereiht die Taxis nahezu geräuschlos vorfuhren. Ein nicht versiegender Strom beigefarbener Autos, die kurz hielten, Gepäck und Passagiere aufnahmen und sich wieder zügig in den Verkehr einfädelten. Nur selten war das Geräusch eines Benzin- oder Dieselmotors zu vernehmen; Restbestände vergangener Motorisierung. Aber auch damit würde bald Schluss sein, da die Regierung bereits an einem Gesetz arbeitete, dass die ausschließliche Nutzung von Elektromotoren im innerstädtischen Bereich zum Inhalt hatte. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, wann nur noch erneuerbare Energien den Verkehrsfluss bestimmen würden. Um den Strom der Fahrgäste zu disziplinieren, gab es eine Art Schleusensystem wie es auch bei den Sicherheitskontrollen üblich war. Wenn ein Fahrgast abgefertigt war, machte der nachfolgende einen Schritt nach vorn. Dieser Vorgang setzte sich durch die Schlange der Wartenden wie eine Welle fort. „Der Pulsschlag des Wartens“, dachte Erik Stendahl und stellte erfreut fest, dass es zügig voran ging. Vor ihm standen noch drei Damen, die sich das Warten mit einem angeregten Gespräch verkürzten, das laufend durch ein Lachen unterbrochen wurde. Ein ausgesprochen heiteres Trio, das nun gemeinsam mit dem Fahrer versuchte, die drei Koffer und diverse Taschen und Tüten im Kofferraum des Taxis zu verstauen. Da sich dies nicht sofort erfolgreich umsetzen ließ, wurde noch einmal umsortiert, wobei eine größere Tüte zu Boden fiel und diese ihren Inhalt für alle sichtbar freigab: Schuhe.
„Na, meine Damen, einen kleinen Einkaufsbummel gemacht?“, fragte der Taxifahrer, während er die Schätze der Damen einsammelte und wieder in der Tüte verstaute. Er fing an zu lachen und fuhr fort: „Gottseidank hat meine Frau diese Prachtexemplare nicht gesehen, sonst müsste ich gleich meine Tageseinnahmen abgeben.“
Ein Herr weiter hinten in der Reihe fühlte sich wohl animiert, auch noch etwas zum Besten zu geben: „Wäre meine Frau hier, hätte ich gleich ein Ticket zu diesem Schuhparadies kaufen müssen.“
Das heitere Trio gackerte gleich wieder los und der Taxifahrer sowie diverse Herrschaften in der Reihe der Wartenden fielen in das Gelächter ein. Auch Erik Stendahl konnte sich der allgemeinen Heiterkeit nicht entziehen und ließ ebenfalls ein lautes Lachen ertönen.
„Merkwürdig“, dachte er noch, während er in das von den drei Frauen geräumte Areal vorstieß, „so lustig war das doch nun auch wieder nicht.“
Während sich das Taxi mit der immer noch kichernden Fracht auf den Weg machte, fuhr schon das Nächste vor. Der Fahrer, der nach hinten kam, um die Kofferraumklappe zu öffnen, setzte ein so freundliches Lächeln auf, als sei er beglückt, ausgerechnet ihn fahren zu dürfen. Sofort packte er den Rollenkoffer und beförderte ihn schwungvoll in den Kofferraum, schloss die Heckklappe und eilte dann weiter nach rechts um den Wagen herum, um seinem Fahrgast die hintere Wagentür zu öffnen. Erik Stendahl war so verblüfft, dass er sich nicht von der Stelle rührte.
„Kommen Sie, steigen Sie bitte ein.“ Der Taxifahrer unterstrich seine Worte, indem er mit einer weit ausholenden Armbewegung auf den geöffneten Einstieg wies. Unwillkürlich schüttelte Erik seinen Kopf, so als müsste er sich von einem überraschenden Ereignis erholen, machte sich dann aber auf, um im Inneren Platz zu nehmen.
Nach gut einer Stunde hatte das Taxi das Ziel im Südwesten Berlins erreicht. Der Verkehr war trotz der vorgerückten Stunde, die Rush Hour war eigentlich schon längst vorbei, noch außerordentlich stark gewesen und so hatten sie sich teilweise nur im Schritttempo vorwärtsbewegt. Der Taxifahrer hatte dies gelassen hingenommen, war ihm doch mit dieser Fahrt gutes Geld sicher. Die lange Fahrt hatte aus Sicht von Erik Stendahl auch etwas Gutes; konnte er sich doch auf diese Weise noch etwas von den Reisestrapazen erholen. Er war kein Freund des Fliegens, er empfand es als lästig und es war ihm nur Mittel zum Zweck, um von A nach B zu kommen. Außerdem durfte er, obwohl er bereits in der höheren Leitungsebene angesiedelt war, nur in Ausnahmefällen, d.h. auf Langstrecken, Business-Klasse fliegen. Madrid gehörte nicht dazu; also musste er sich mit Economy begnügen. Die enge Bestuhlung, er war mit einer Größe von 1,96 Meter nicht gerade ein Winzling, und die Warterei beim Check-In, bis zum Boarding und dann bis zum Start fand er einfach nur nervig. Trotzdem war es heute irgendwie weniger stressig gewesen. Der Morgen in Madrid hatte ihn bereits mit einem wolkenlosen blauen Himmel und angenehmen Temperaturen überrascht. Und er erinnerte sich nicht, das Hotelpersonal in der gesamten Zeit, abgesehen von der üblichen Höflichkeit gegenüber den Gästen, so natürlich fröhlich gesehen zu haben. Das letzte Frühstück vor der Heimreise hatten er und sein Kollege aus Hamburg daher noch einmal richtig genossen. Zugleich sollte es auch die Grundlage für den noch folgenden Sektempfang sein, zu dem sein Mandant ihn und den Kollegen zum Abschluss ihrer Arbeit geladen hatte. Die gute Stimmung hatte sich beim Aus-Checken an der Rezeption des Hotels fortgesetzt. Man hatte sich gemeinsam mit dem Empfangspersonal über das vom spanischen Akzent überlagerte Englisch der Kassiererin amüsiert, die das aber nicht krumm nahm, sondern ganz im Gegenteil noch betonte und somit für weitere Lachsalven sorgte. Der anschließende Empfang bei seinem Mandanten war auch alles andere als steif gewesen. Hätte es sich nicht um ein geschäftliches Treffen gehandelt, hätte man gut und gerne sagen können, es war eine Bombenstimmung. Es wurde herumgealbert und gewitzelt; ungewöhnlich, aber vielleicht dem Sekt am Vormittag oder der Erleichterung aller Beteiligten über ein erfolgreich abgeschlossenes Projekt geschuldet. Auch am Flughafen war es recht entspannt zugegangen. Selbst die Ankündigung einer Verspätung der Maschine um eine Stunde wurde nur mit witzigen Bemerkungen kommentiert, die allseits ein fröhliches Gelächter auslösten. Vom Kabinenpersonal wurden alle Anstrengungen unternommen, die Reisenden für die Wartezeit zu entschädigen, indem es äußerst delikate Tapas servierte. Währenddessen amüsierte der Copilot die Fluggäste zwischendurch mit heiteren Anekdoten, wobei er sich der Mühe unterzog, sie vollständig auf spanisch und englisch vorzutragen. Selbst die Passagiere, die weder des spanischen noch des englischen mächtig waren, ließen sich von der allgemeinen Heiterkeit anstecken und nahmen an der großen Party teil. Alles in allem wirklich ein ungewöhnlicher Tag.
Mit der linken Hand den Rollenkoffer mit sich ziehend ging Erik Stendahl auf den Hauseingang zu. Es war ein hochherrschaftliches Haus, mit viel Stuck an der Fassade und hohen Zimmern. Sie hatten beide immer davon geträumt, in so einer Wohnung ihr Quartier aufzuschlagen und im letzten Jahr hatten sie dann dank seines Karrieresprungs nicht nur die finanzielle Möglichkeit erhalten, sondern auch ein ihren Wünschen entsprechendes Objekt gefunden. Nun stand er vor der imposanten Eingangstür und stellte den Koffer ab, um einen der obersten Klingelknöpfe zu drücken. Während er auf die Rückmeldung wartete, entfernte er das Papier vom Blumenstrauß, knüllte es zusammen und stopfte die Papierkugel in die rechte Manteltasche. In diesem Moment erschallte auch schon die ihm so vertraute Stimme von Kirstin aus dem Lautsprecher entgegen:
„Ja, bitte!“
„Ich bin’s, mein Schatz!“
„Erik!“ Es klang wie ein Freudenschrei. Kein Wunder nach der mehrwöchigen Trennung. Außerdem waren sie noch nicht so lange zusammen, wenn man vier Jahre als kurz ansieht. Da konnte man doch eine gewisse Wiedersehensfreude erwarten.
Der Türöffner summte und er drückte mit seiner rechten Schulter die Tür auf. Dabei achtete er sorgsam auf seinen Blumenstrauß, damit dieser keinen Schaden nahm. Nun befand er sich im beeindruckenden Hausflur. Marmor auf dem Fußboden, Stuck an den Wänden und der Decke und vor ihm eine breite Treppe mit fünf Stufen, die hinauf zu den Erdgeschoßwohnungen führte; das sogenannte Hochparterre würde in anderen Häusern gut und gerne schon als erstes Obergeschoß durchgehen. Vor dem großen Treppenaufgang führten links und rechts Seitengänge zu zwei abwärts führenden kleineren Treppen, die den Zugang zu den Souterrainwohnungen erschlossen. Eine dieser üblicherweise nur schwer vermittelbaren Wohnungen war an den Hausmeister vermietet, der sich um die Instandhaltung und die Wartungs- und Reinigungsarbeiten nicht nur dieses Hauses kümmerte, sondern des gesamten Blocks, der im Eigentum eines Immobilienfonds stand. Der Hauswart war ein zuverlässiger Mann und eine Aufsichtsinstanz, die sich bewährt hatte. Aus diesem Grunde hatte sich die Hausverwaltung entgegen der sonst üblichen Handhabung, solche Aufgaben einem Dienstleister zu übertragen, für eine Beibehaltung der Hausmeisterstelle entschieden. Auch unter Renditegesichtspunkten, denen sich solche Fonds verpflichtet fühlten, war dieses Konzept augenscheinlich tragfähig. Die Mieter des Hauses hatten jedenfalls keinen Grund zur Klage und insbesondere die älteren Mitbewohner waren für die eine oder andere Hilfeleistung dankbar, die der Hausmeister auch gerne erbrachte, da in der Regel ein Obolus anfiel, dessen Höhe in nicht unerheblicher Weise von der Dankbarkeit des Gebers bestimmt wurde. Die kleinere der beiden Souterrainwohnungen war an einen Studenten vermietet, der froh war, in relativer Nähe zur Universität eine bezahlbare Bleibe gefunden zu haben. Noch während er auf dem Weg zum Fahrstuhl war, der sich links in dem kleinen Seitengang befand, klappte unten eine Tür. Kurz darauf stapfte der Verursacher des Geräuschs, der Hausmeister Tomasz Lewandowski, die kleine Treppe herauf.
„Hallo, Herr Stendahl, wieder zurück? Diesmal waren sie ja ganz schön lange weg.“
Er deutete auf den Blumenstrauß. „Blumen für die Frau Gemahlin? Hübsch, da wird sie sich aber freuen.“
Sprachs und öffnete die Fahrstuhltür, was Erik Stendahl dankbar zur Kenntnis nahm, entband es ihn doch von der Notwendigkeit, erst wieder seinen Koffer zwischenzuparken.
„Na, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend !“, wobei er vielsagend mit dem rechten Auge zwinkerte und zu allem Überfluss, wie Erik Stendahl fand, auch noch ein Grinsen an den Tag legte, das ihn verlegen machte. Er war deshalb froh, dass sich die Fahrstuhltür unverzüglich schloss, nachdem er den Knopf für die oberste Etage gedrückt hatte.
Oben angekommen waren es nur noch ein paar Schritte bis zu seiner Wohnung, deren Tür bereits offenstand, wie er unschwer am Lichtschein erkennen konnte, der sich auf dem Boden abzeichnete. Kirstin stand in der Tür und erwartete ihn schon.
„Hi!“, sagte sie und breitete die Arme aus. Willig, ihrer Aufforderung folgend, umarmte er sie, allerdings darauf achtend, dass bei all der Wiedersehensfreude die Blumen keinen Schaden nahmen. Allerdings geriet dieser Vorsichtsgedanke schnell in den Hintergrund als er ihren warmen Leib in den Armen hielt und sich ihre Lippen zu einem langen, erst zärtlichen, dann aber immer lustvolleren Kuss trafen. Seine vierwöchige Abwesenheit von Kirstin machte sich nun deutlich in seiner Hose bemerkbar. Er wollte gerade beginnen ihre Brüste zu umfassen und zu liebkosen, als sie sich unvermittelt aus seiner Umarmung löste. Sie hatte es gespürt.
„Na?“, sagte sie, hob mit einem schelmischen Gesichtsausdruck den rechten Zeigefinger und fügte an: „Bist du dicker geworden?“
Nach einer kleinen Pause, in der ihr die kleine Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewusst wurde, lachte sie hell auf, ein angenehmes erfrischendes Lachen, dass er an ihr so liebte. Gleichwohl war er über ihren Heiterkeitsausbruch irritiert, riss ihn dieser doch aus seinen lustvollen Phantasien und ließ seinen Schwanz wieder in die Ausgangsstellung zurückkehren. Sein etwas belämmerter Ausdruck veranlasste sie zu einem weiteren Heiterkeitsausbruch, dem er nichts abgewinnen konnte.
„Ach, komm, der Abend ist noch lang.“
Sie musterte ihn und fügte dann an: „Ehrlich, ich habe den Eindruck, du hast zugenommen.“
Wieder eine kleine Pause.
„Ich meine hier.“
Sie legte ihre Hände auf seinen Bauch.
„War das Essen so gut in Madrid? Du kannst mir ja nachher berichten.“
Schwang da so etwas wie Ärger in ihrer Stimme? Nein, ihr Gesichtsausdruck bot keinen Anlass zur Sorge.
„Wir gehen Essen!“ Sie betonte das letzte Wort und zog es in die Länge.
„Gottseidank!“, dachte er und war zugleich erschrocken über die Heftigkeit des geistigen Ausbruchs. Insgeheim war er froh, dass sie nicht auf die Idee gekommen war, ihn mit einem selbst kreierten Essen zu beglücken. Das Kochen war nicht so ihr Ding, eine ihrer wenigen Schwächen, die im Gegensatz zu ihren vielfältigen Fähigkeiten standen.
„Ich habe einen Tisch bei unserem Lieblingsitaliener bestellt. Für 21:00 Uhr.“
„Ihr immer mit eurem Vorspiel“, maulte er.
„Ja, das muss sein.“
Obwohl sie dabei lächelte, wusste er, dass Widerspruch zwecklos war und so fügte er sich in sein Schicksal.
„Ich nehme an, du willst dich vor dem Essen noch frisch machen. Ich habe deshalb erst für so spät reserviert.“
„Genau das habe ich vor“, brummelte er, immer noch enttäuscht, dass das Vorspiel, wie er es sich vorgestellt hatte, so ein jähes Ende genommen hatte.
Sie ignorierte seinen Missmut.
„Was möchtest du anziehen? Ich könnte dir das dann schon raus legen.“
Sie stand an der Schlafzimmertür, den Kopf leicht nach links geneigt. Sie war die Frage in Person und wartete auf seine Antwort.
Himmel, sie war verdammt attraktiv. Und sie hatte ein Kleid an, das neu sein musste. Es war rot und trotz der auffälligen Farbe im Übrigen schlicht und elegant, mit einem dezenten Dekolleté.
„Schickes Kleid!“
„Ach, hast du es doch bemerkt“, stellte sie schnippisch fest.
„Wie kann man das übersehen“, versuchte er zu retten was zu retten ist. „Wenn du dich so festlich gekleidet hast, werde ich mich dem entsprechend anpassen. Ich nehme den dunkelblauen Nadelstreifenanzug und ein hellblaues Hemd.“ Und er fügte noch an: „Lassen wir also die Sau raus!“
Es war 20:40 Uhr als sie Händchen haltend gemeinsam das Haus verließen. Das Restaurant, eines von der edleren Sorte, war fußläufig gut erreichbar, sodass sie auf den fahrbaren Untersatz verzichten konnten. Außerdem war klar, dass sie sich zur Feier des Tages nicht auf Wasser beschränken wollten; das eine oder andere Glas würde es schon werden. Beide verspürten inzwischen einen merklichen Hunger, hatte er doch zuletzt am Vormittag beim Empfang einige Tapas zu sich genommen, aber wie gesagt, nur einige, da das Frühstück reichhaltig ausgefallen war. Auch sie hatte am Mittag nur eine Kleinigkeit gegessen, um am Abend richtig schlemmen zu können. Sie wollte schließlich ihre formvollendete Figur noch so lange wie möglich behalten. Als sie nach einem kurzen Fußmarsch in der kühlen Abendluft das Restaurant betraten, beglückwünschte sich Kirstin, dass sie in weiser Voraussicht, schließlich war es ja Wochenende, einen Tisch reserviert hatte, denn wie es aussah, waren fast alle Tische besetzt. Schon eilte Antonio, der Chef des Etablissements, herbei, um seine Stammgäste freudig zu begrüßen und sie dann an den für sie vorgesehen Tisch zu geleiten. Er nahm ihnen die Mäntel ab und brachte sie zur Garderobe, während sie Platz nahmen. Sie hatten sich gerade eingerichtet und einen neugierigen Blick in die Runde geworfen, um herauszufinden, ob ein bekanntes Gesicht unter den Gästen weilte, als Emilio, einer der Kellner, an den Tisch trat, um ihnen die Speisekarte zu reichen. Erik Stendahl orderte gleich einen weißen Martini als Aperitif für beide, um sich anschließend der Auswahl der angebotenen Speisen zu widmen.
Die Lokalität gehörte zu der gehobeneren Sorte seiner Art, was sich nicht nur in der überschaubaren Speisenkarte mit kunstvollen Namensgebungen für die täglich neu komponierten Gerichte widerspiegelte, sondern auch im Preis. Eine umfangreiche Weinkarte und natürlich der übliche Katalog an Spirituosen und anderen Getränken rundete das Bild ab. Schließlich wurde damit das meiste Geld verdient; das Essen war nur das Lockmittel. In dem gesamten Raum überwog die Farbe Weiß; Tische, Stühle, Tischdecken, die Wände und die Theke, alles in Weiß. Im Gegensatz dazu trugen die Ober, alles Männer, schwarze Westen, Hosen und Schürzen. Gedämpftes Licht, Kerzen auf den Tischen, eine dezente Musik im Hintergrund und farbenfrohe Bilder junger Künstler, die hier die Gelegenheit bekamen, sich in wechselnden Ausstellungen zu präsentieren, schafften trotz des kühlen Ambientes eine warme Atmosphäre. Eigentlich war das Interieur nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit, waren doch schrillere Farben angesagt, trotzdem hatte das Haus noch genug Liebhaber, die diese Form der Vergangenheit schätzten und somit für ein Auskommen von Antonio und seinen Angestellten sorgten.
Der Martini wurde mit einem fragenden Blick serviert.
„Einen Moment noch, wir können uns nicht entscheiden“, beantwortete Erik die stumme Frage.
„Lassen sie sich ruhig Zeit“, sagte der Ober und begab sich an den Nachbartisch, um nachzufragen, ob denn alles zur vollsten Zufriedenheit sei.
Nach einer Weile angestrengten Studierens der Speisenkarte fragte Kirstin: „Na, hast du schon etwas für dich gefunden?“
„Ja, wir müssen uns aber noch für einen Wein entscheiden, wenn wir eine Flasche nehmen wollen.“
„Ich habe Fisch, ich würde gerne einen Riesling dazu nehmen. Und du?“
„Ich habe zwar keinen Fisch, würde aber trotzdem einen Weißen bevorzugen. In Madrid habe ich vorwiegend Roten getrunken, deshalb schließe ich mich dir an. Wir nehmen eine Flasche von dem Riesling.“
Antonio näherte sich bereits ihrem Tisch und deshalb konnte die Bestellung zügig abgewickelt werden.
Auf dem Weg zum Restaurant hatte Kirstin bereits Erkundigungen über seine Reise eingeholt. So wollte sie wissen, wie das Hotel war, das Wetter und das Essen, wobei letzteres dazu führte, dass Erik zugeben musste, dass er zur Zeit drei Kilo mehr auf die Waage brachte. „Trotz des Stresses“, wie er betonte. Während sie also auf das Essen warteten, nahm Kirstin den Faden wieder auf.
„War euer Mandant denn mit dem Ergebnis eurer Arbeit zufrieden?“
„Er war von dem Ergebnis sehr angetan. Kirstin, du kennst doch meine Meinung. In den meisten Fällen wissen doch die Mandanten, was und wo es in ihren Unternehmen nicht richtig läuft. Aber die Feststellungen eines unabhängigen Dritten lassen sich besser verkaufen. Eine moderne Form des Ablasshandels, der entsprechend belohnt wird.“
„Und wie viel müssen diesmal daran glauben?“
Erik war klar, jetzt wurde es kritisch.
„Du weißt, dass ich Dir darüber nichts sagen darf.“
„Ach komm, morgen steht es im Wirtschaftsteil. Mehr als hundert?“
„Viel weniger.“
„Fünfundsiebzig? Fünfzig?“ Sie ließ nicht locker.
Er nickte. „Ja, in etwa so viel Mitarbeiter müssen nach unseren Empfehlungen das Unternehmen verlassen, um die notwendigen Kosteneinsparungen zu erreichen.“
Sie hob missbilligend die linke Augenbraue. Er hatte damit gerechnet, dass ihr das nicht gefallen würde. Das war bei ihr immer ein wunder Punkt. Deshalb schob er eine positive Darstellung nach: „Wir haben alles getan, um die Mitarbeiter zu schonen. Es war die geringstmögliche Anzahl. Fünfzig von mehr als zwölftausend, das sind weniger als ein halbes Prozent!“
„Das macht die Sache nicht viel besser“, antwortete sie spitz und sah ihn dabei prüfend an.
„Wenn ich nicht wüsste, dass du es in dieser Hinsicht ehrlich meinst, hätte ich mich nicht mit dir eingelassen.“
Aber sie lächelte schon wieder.
„Gottseidank“, dachte Erik, „die schlimmste Hürde war genommen.“
Das folgende Schweigen an ihrem Tisch wurde durch ein heftiges Gelächter am Nebentisch unterbrochen. Fast gleichzeitig schauten sie zu ihren Nachbarn hinüber; drei Pärchen, so etwa um die vierzig, die sich augenscheinlich prächtig amüsierten. Da Emilio mit dem Wein an den Tisch trat und Erik die obligatorische Probe vornehmen musste, wurde der Nachbartisch wieder zur Nebensächlichkeit. Emilio erwartete gelassen das Urteil, wohl wissend, dass es keine Beanstandung geben würde, da nur die wenigsten der Gäste wirkliche Weinkenner waren, selbst wenn sie es vorgaben. Er hatte sich im Laufe der Jahre einige wirklich bemerkenswerte Kenntnisse angeeignet und war von Antonio, der diese Fähigkeit zu schätzen wusste, mit der Pflege des Weinkellers beauftragt worden. Die meisten der Gäste waren mit der Qualität der angebotenen Weine sehr zufrieden, weil er ihnen einfach schmeckte. Letztendlich gehörte auch Erik zu denen, die kein Vermögen für eine Flasche Wein ausgeben und trotzdem nicht auf einen guten Tropfen nach eigenen Qualitätsmerkmalen verzichten wollten. Entsprechend fiel sein Urteil aus: „Ausgezeichnet!“
Nachdem Emilio beide Gläser aufgefüllt hatte, prosteten sich Kirstin und Erik zu und nahmen dann einen kräftigen Schluck.
„Wirklich gut“, bestätigte sie Eriks Einschätzung und setzte hinzu: „Jetzt habe ich aber wirklich Hunger!“
„Den kannst du gleich stillen, da kommt schon unsere Vorspeise“, entgegnete Erik, der Emilio mit zwei großen Tellern ihren Tisch ansteuern sah.
Während sie mit großem Appetit das delikat zubereitete „Carpaccio Salmone nach Art des Hauses“ in Angriff nahmen, erkundigte sich Erik beiläufig bei Kirstin, wie es ihr denn während seiner Abwesenheit ergangen sei. Sie war Juristin in einer Anwaltskanzlei und hier vor allem für den paritätischen Wohlfahrtsverband und dessen Organisationen tätig. Eine Arbeit, die sie mit den Schattenseiten der menschlichen Existenz vertraut gemacht hatte und zu dem, womit Erik sein Geld verdiente, nicht hätte gegensätzlicher sein können. Der Umgang mit so manchem Elend hatte Kirstins Sinn für Gerechtigkeit stärker geprägt, als sie selbst wahrhaben wollte. „Du weiblicher Robin Hood“, beliebte Erik zu sagen, wenn sie sich wieder einmal über die Ungerechtigkeiten dieser Welt erregte. Der Ärger hielt jedoch nie lange an, da sie nicht unerheblich pragmatisch veranlagt war und es für sinnvoll erachtete, bei anstehenden Entscheidungen einen kühlen Kopf zu bewahren. Letztendlich hatten beide das Gefühl, von den Erfahrungen des Anderen zu profitieren und damit den eigenen Horizont zu erweitern. Während sie gerade wieder einmal mit einem Stück Weißbrot ein Teil des Dressings aufnahm, sah sie die Zeit gekommen, Eriks Frage zu beantworten:
„Während du im warmen Spanien warst, musste ich hier frieren. Es war teilweise lausig kalt und zu allem Überfluss hat es auch noch andauernd geregnet. Gestern auch. Heute hat sich endlich mal wieder die Sonne sehen lassen.“
Kirstin schob sich das Weißbrot in den Mund und begann genüsslich zu kauen.
„Kein Wunder“, nutzte Erik die Pause, „ich bin ja auch wieder da!“
„Ja, du mein Sonnenschein. Ansonsten ist während deiner Abwesenheit …“
Kirstin brach ihre Rede unvermittelt ab, da hinter ihrem Rücken, zwei Tische weiter, ein lautes Lachen aufbrandete, dem Erik mehr Interesse zukommen ließ, als ihren Ausführungen.
„Entschuldigung, ich war einen Moment abgelenkt.“
„Das habe ich gemerkt.“ Sie schob den letzten Rest des Lachscarpaccio auf ihre Gabel und betrachtete es eine Weile, so, als würde sie es bedauern, dass dies tatsächlich der letzte Happen war.
„Möchtest du noch ein Carpaccio?“, fragte Erik.
„Ich würd‘ ja schon gern, aber dann schaffe ich das Hauptgericht nicht mehr und das ist bestimmt genauso schmackhaft.“
Wieder ertönte von einem der Tische her ein lautes Kichern.
„Die Gäste sind heute aber fröhlich,“ stellte Kirstin fest und zeigte dabei ein Lächeln, das eine Reihe strahlend weißer Zähne freilegte.
Das entlockte Erik ein: „Du siehst bezaubernd aus. Ich könnte mich glatt in dich verlieben.“
„Du Schmeichler“, entgegnete Kirstin und stimmte, als hätte sie nur darauf gewartet, in das Kichern ein, das an einem der Tische wieder aufgeflammt war.
Erik war etwas irritiert ob der Heiterkeit, die ihm schon seit dem frühen Morgen ein ständiger Begleiter war und brachte nur noch ein „Du bist albern“ heraus, was sie mit einem erneuten Kichern beantwortete. Gottseidank brachte Emilio das Hauptgericht, über das sie sich sogleich hermachten und das ihre Erwartungen voll erfüllte.
Während des Essens hatten sie ihre Unterhaltung weitestgehend eingeschränkt. Dafür wurde es an den Nebentischen immer ausgelassener. Nun, sie waren so ziemlich die Letzten, die noch etwas aßen, während an den anderen Tischen nur noch das Klirren von Wein- und Biergläsern zu hören war. Selbst die Ober ließen sich von der Fröhlichkeit anstecken, beteiligten sich vergnügt an den Witzeleien und trugen mit herzhaften Lachsalven zur ausgelassenen Stimmung bei. Auch Kirstin und Erik konnten nun nicht mehr an sich halten und reihten sich in das Gelächter ein. Beide waren froh, ihre Teller zügig geleert zu haben, nachdem es immer schwieriger wurde, die Contenance zu wahren. Selbst belanglose Aussprüche wurden mit Heiterkeit quittiert. Die sonst übliche gedämpfte Atmosphäre war einer ausgelassenen Partystimmung gewichen, der sich keiner entziehen konnte. Nur kurz flackerte bei Erik in diesem allgemeinen Tohuwabohu so etwas wie Widerstand auf.
„Was ist bloß los?“, dachte er, um sich gleich wieder angesichts einer völlig aufgelösten Kirstin, die damit zu tun hatte, sich die Lachtränen von den Wangen zu wischen, von dieser Stimmung mitreißen zu lassen.
Wieder zu Hause, holten sie das nach, was seiner Ansicht nach, bereits nach seiner Ankunft hätte geschehen sollen.
Laut seiner Aussage, hatte mein Vater an diesem Abend, trotz der vorgerückten Stunde, alles gegeben, was wohl dem Umstand einer vierwöchigen Enthaltsamkeit geschuldet war. Dies wurde allerdings von meiner Mutter, nachdem sie von der hübschen Spanierin, die Mitglied in seinem Projektteam war, Wind bekommen hatte, gelinde gesagt, bezweifelt. Es blieb ein offenes Geheimnis; allerdings hatte es auch keine weiteren Auswirkungen auf das Zusammenleben meiner Eltern, zumindest ist mir dazu nie etwas zu Ohren gekommen. Aber zurück zu diesem Abend; es war nach den Erzählungen meiner Eltern ein ausgesprochen wildes Liebesspiel gewesen. „Ich war sehr gut in Form“, behauptete mein Vater, was meine Mutter, sofern sie das mitbekam, regelmäßig mit einem „Angeber!“ quittierte, dabei aber vergnügt schmunzelte. Was der ganzen Angelegenheit noch einen besonderen Pfiff gab, waren die Lachanfälle, die sie unverändert auch zu dieser späten Stunde noch durchschüttelten und sie zu mancher Unterbrechung zwangen. Aber sie waren jung und nach vier Wochen ohne Sex konnte selbst diese ungewöhnliche heftige Heiterkeit sie nicht davon abhalten, sich ausdauernd und ungestüm zu lieben.
Das sich meine Eltern an diesen Tag so gut erinnern konnten, war trotzdem nicht von vornherein zu erwarten. Erst die nachfolgenden Ereignisse verliehen diesem Tag und insbesondere diesem Abend eine ganz neue Bedeutung und rückten ihn damit in den Fokus der Wahrnehmungen, die es zu bewahren galt.
Montag, 01.04.2047
Der Radiowecker ließ es sich nicht nehmen, getreu seiner Verpflichtung, zu der voreingestellten Zeit seine Arbeit aufzunehmen. Zunächst kaum wahrnehmbar, dann die Lautstärke von Minute zu Minute steigernd, ertönte Musik, wie sie gerne in Wellness-Oasen gespielt wird. Der Schlaf von Kirstin und Erik wurde zusehends unruhiger, bis es keinen Zweifel mehr gab: das Werk war vollbracht und hatte die Beiden in die Realität des neuen Tages geführt. Während es Erik wie üblich nicht mehr lange auf seiner Schlafstatt hielt, drehte sich Kirstin mit einem Seufzer erst noch einmal auf die andere Seite. Diese softe Musik war Kirstins Wunsch gewesen und so hatten sie den Speicherchip mit entsprechenden aus dem Internet heruntergeladenen MP3-Dateien gefüttert. Nach anfänglicher Skepsis war nun auch Erik ein Fan dieser Weckmusik geworden, was ihn aber nicht davon abhielt, Kirstin, die schon wieder einzuschlafen drohte, in die Realität zu holen.
„Kirstin, ab ins Bad.“
Er legte Wert darauf, dass die morgendlichen Abläufe eingehalten wurden, was er mit den Worten: „Ich bin eben ein Gewohnheitstier“ zu erklären versuchte, wenn Kirstin mal wieder genervt von dem Gezurre an der Bettdecke, ein von ihm eingesetztes Mittel, um sie zum Aufstehen zu bewegen, ihm ein noch verschlafenes: „Du immer mit deiner Drängelei“ entgegen schleuderte. Schließlich bequemte sie sich aber doch und schälte sich aus ihrer warmen Decke.
„Warum hast du es nur so eilig, wir hätten doch noch ein paar Minuten kuscheln können.“
Dabei hob sie wie zufällig ihr kurzes raffiniertes Hemdchen an und ließ ihn ihr bestes Stück sehen.
„Verdammt“, dachte er, „warum bin ich nicht auf die Idee gekommen.“
Er machte einen Schritt auf sie zu, was sie veranlasste, ihm ihre Hände abwehrend entgegen zu strecken.
„Halt, junger Mann, zu spät! Du hast gesagt, ich soll ins Bad.“
Mit einem strahlenden Lächeln marschierte sie schnurstracks an ihm vorbei in das ihr zugewiesene Etablissement.
Für einen Moment stand Erik bewegungslos am Bett und konnte es nicht fassen, dass er sich diese seltene Gelegenheit hatte entgehen lassen. Aber wie hätte er erkennen können, dass … Egal, er hatte es halt vermasselt. Er beendete seine Überlegungen, ging zum Fenster vor dem ein dichter Frühnebel wie eine graue Wand hing und öffnete es weit, um das Zimmer kräftig durchzulüften. Der Nebel war so dicht, dass er die Häuser gegenüber mehr ahnte, als das er sie sah. „Vielleicht wird es ein sonniger Tag“, dachte er und ging in die Küche.
Während Kirstin im Bad war, bereitete er das Frühstück vor. Sie standen in der Regel bereits um sechs Uhr auf, um sich in Ruhe auf den neuen Tag vorzubereiten. Beiden war der gelassene Beginn wichtiger, als eine halbe oder eine Stunde mehr Schlaf. Dazu gehörte ein gemütliches Frühstück und ein erstes Zeitungsstudium bei dezenter Hintergrundmusik. Nach Kirstin, die eigentlich nie länger als dreißig Minuten brauchte, wobei ihr der flotte Kurzhaarschnitt und das attraktive Äußere, das keines besonderen Stylings bedurfte, sehr entgegenkam, ging Erik ins Bad, um sich seinerseits auf Vordermann zu bringen. Es hatte sich so eingespielt, dass sie noch etwa eine halbe Stunde gemeinsam am Frühstückstisch verbringen konnten. Kurz wurden die anstehenden Einkäufe, Verabredungen mit Freunden und was sonst noch auf der Tagesordnung stand abgesprochen. An diesem Montag stand nichts weiter an, deshalb kam Erik noch einmal auf sein abgeschlossenes Projekt zu sprechen.
„Ich bin gespannt, was mein Chef von dem Ergebnis des Projekts hält. Ich hoffe, er hat die Unterlagen und den Bericht bekommen. Er wollte das alles nämlich am Wochenende durcharbeiten. Du weißt ja, dieses Projekt könnte das Sprungbrett für die Partnerschaft werden.“
„Du hast doch gesagt, dass es gut gelaufen ist. Dann wird auch Dr. Konzalik zufrieden sein. Mach Dir mal keine Sorgen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr, aber du kennst ihn nicht. Er ist einer, den man nicht zum Freund haben will, aber erst recht nicht zum Feind. Und ich habe eher das Gefühl, er ist mehr letzteres, obwohl ich nicht weiß, warum. Vielleicht sieht er mich schon als Konkurrenten.“
Obwohl er in Gedanken bereits im Büro war, konnte er nicht umhin, festzustellen, dass ihr das kleine schwarze Kostüm, das sie heute für einen Gerichtstermin gewählt hatte, ausgezeichnet stand.
„Du siehst Klasse aus“, stellte er deshalb bewundernd fest.
„Danke“, entgegnete sie, „jetzt müssen wir aber.“
Nachdem sie noch ein bisschen Ordnung geschaffen hatten, verließen sie gemeinsam das Haus. Der Frühnebel hatte sich mittlerweile verzogen und trieb als Dunst am Himmel dahin. Erik war sich sicher, es würde ein schöner Tag werden. Er fühlte, wie sich Hochstimmung in ihm breit machte und die negativen Erwartungen verscheuchte. Bald erreichten sie das nur unweit geparkte Auto, stiegen ein und fuhren zur nächsten Bushaltestelle, wo sich ihre Wege trennten. Kirstin hatte an diesem Tag Glück; der Bus kam bereits, als Erik begann, seine Fahrt zur Firma fortzusetzen. Kirstin hatte eine gute Verkehrsanbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die Fahrt war nur kurz. Außerdem gab es im Umfeld der Anwaltskanzlei, in der sie arbeitete, nur wenig Parkplätze. Von einigen auswärtigen Terminen abgesehen, so wie heute, arbeitete sie meist im Büro. Erik hingegen war häufiger unterwegs und hatte zudem in seiner Firma eine Parkmöglichkeit. So war die Entscheidung leicht gefallen, dass er in der Regel den Wagen nahm, obwohl auch sie eine leidenschaftliche Autofahrerin war. Auf einen Zweitwagen hatten sie bisher verzichtet, da es jetzt schon beschwerlich war, in der Nähe ihrer Wohnung einen Parkplatz zu finden.
Nachdem Erik den Wagen in der Tiefgarage geparkt hatte, fuhr er mit dem Fahrstuhl in den fünfzehnten Stock der T. Summerset Consulting AG, einem Unternehmen, das in allen bedeutsamen Städten der Erde vertreten war. Am Eingang hielt er seine Codekarte an den Kartenleser, es summte und er konnte die Tür öffnen. Hinter dem Empfangstresen stand Sophie Kleinfeld, eine blonde junge Frau in einem dunkelblauen Kostüm, die ihn, als sie seiner ansichtig wurde, zu sich heranwinkte.
„Hallo Erik, schön dich mal wieder zu sehen“, sagte sie, während sie ihm ein professionelles Empfangsdamenlächeln schenkte, „und in Madrid ist alles gut gelaufen, habe ich gehört.“
Erik war verblüfft, er war doch gerade erst angekommen.
„Hallo, ja, es war toll. Vor allem war es nicht so kalt wie hier.“
„Stimmt, hier war es teilweise noch recht winterlich.“ Sie kramte in ihren Unterlagen und zog dann einen kleinen Zettel hervor. „Hier ist es ja. Du sollst gleich zu Dr. Konzalik kommen.“
„Er ist schon da?“ Erik war völlig entgeistert, damit hatte er nicht gerechnet, denn normalerweise kam er nicht vor neun Uhr.
„Ja, und er ist, wie es scheint, bester Laune.“ Sie beugte sich vertrauensselig etwas vor: „Ist schon komisch, nicht?“
„Das kann man wohl sagen! Aber wenn er gute Laune hat, kann es wohl nicht so schlimm werden!“
„Toi, toi, toi,“ rief sie ihm hinterher, während er sich aufmachte, Dr. Konzalik seine Aufwartung zu machen.
Im Sekretariat erwartete ihn schon Laura Brenner, die wohl bereits von Sophie über seine Ankunft informiert worden war. Sie gehörte zu den mittlerweile selten gewordenen Mitarbeitern, die länger als zehn Jahre bei der Firma tätig waren. In der Regel waren die Verwaltungskräfte Angestellte von Dienstleistern, selbst bei den Fachkräften überwogen die befristeten Arbeitsverträge. So konnte man relativ schnell auf konjunkturelle Schwankungen reagieren. Frau Brenner war trotz ihrer 57 Jahre durchaus attraktiv und eine äußerst gepflegte Erscheinung. Mit 26 Berufsjahren in der Firma war sie die Dienstälteste und wurde wegen ihrer umgänglichen Art von den meisten sehr geschätzt. Auch von den Partnern, die immer wieder ihr Organisationstalent bewundern mussten und dankbar für ihre Diskretion waren. Bemerkenswert aber war, dass sie die einzige war, die niemanden duzte und die sich nicht duzen ließ, obwohl dies ausdrücklich erwünscht war, sozusagen zur Unternehmensphilosophie gehörte. Mit einigen Mitarbeitern, mit denen sie auch privat verkehrte, duzte sie sich selbstverständlich, aber nur außerhalb der Firma. Selbst Dr. Konzalik hielt sich an diese Regel und schien ihr dies auch nicht übel zu nehmen, ganz im Gegenteil, man hatte manchmal das Gefühl, dass er sie mochte, zumindest aber respektierte, was für die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht unbedingt galt. In das Hochgefühl, das sich in Erik verbreitet hatte, mischte sich deshalb nun doch eine Portion Nervosität, da er, wie er glaubte, vor einem wichtigen Punkt seiner Karriere stand, die im wesentlichen von diesem Senior Partner Dr. Jürgen Konzalik bestimmt wurde.
Frau Brenner hatte seine aufkommende Unsicherheit offensichtlich erkannt und lächelte ihm aufmunternd zu. Wie oft hatte sie schon solche Augenblicke erlebt, wo über das Wohl und Wehe der jungen Leute entschieden wurde.
„Ich gratuliere, Herr Stendahl, gehen sie rein, er erwartet sie schon.“
Sie nickte ihm noch einmal zu und wies mit der Hand auf die offenstehende Tür zum Büro von Dr. Konzalik.
„Danke, Frau Brenner, und natürlich einen schönen guten Tag.“
Sie lachte: „Danke! Es wird bestimmt ein schöner Tag.“ Dabei zeigte sie mit ihrer linken Hand zum Fenster. Tatsächlich, so wie er es am Morgen vermutet hatte, zeigte sich draußen bereits ein blauer Himmel, nur hier und da noch Reste des Hochnebels und die gegenüberliegende Fassade eines weiteren Büroturms erstrahlte hell in der Morgensonne. Während er auf die offenstehende Tür zuging, überprüfte er noch einmal reflexartig den richtigen Sitz seiner Krawatte.
Als Erik das Büro von Dr. Konzalik betrat, erhob sich dieser aus seinem Stuhl, ging um seinen Schreibtisch herum und trat mit weit geöffneten Armen auf ihn zu. Dabei zeigte er ein strahlendes Lächeln, wie es Erik und wahrscheinlich auch kein Anderer es je gesehen hatte. Erik war so perplex, dass er unbewusst einen Schritt zurücktrat. Dr. Konzalik stoppte und lächelte nun amüsiert. Sein ansonsten hageres Gesicht mit den hervorstehenden kräftigen Wangenknochen und den wasserhellen Augen, die eher Kälte als Warmherzigkeit versprühten, wirkte jetzt fast gemütlich. Trotzdem und obwohl Erik mit seinen 1,96 Meter und seiner kräftigen, sportlichen Figur dem schlanken und bestimmt zehn Zentimeter kleineren Senior Partner körperlich überlegen war, gab es keinen Zweifel darüber, wer der Chef im Ring war. Und dabei sollte es, trotz aller Freundlichkeit und Freude, die ihn heute übermannt hatte, auch bleiben. Erneut streckte er Erik die rechte Hand entgegen.
„Lieber Erik, schön, dass du wieder in Berlin bist und du hast, wie ich sehe, das schöne Wetter aus Spanien mitgebracht!“ Dabei deutete er wie bereits Frau Brenner auf den mittlerweile makellosen blauen Himmel über der Stadt.
„Ich gebe eben immer mein Bestes.“
Im selben Moment bedauerte Erik die seiner Ansicht nach lahme Replik, aber wider erwarten schien Dr. Konzalik diese Antwort äußerst zu erheitern, zumindest erklang ein merkwürdiges Glucksen, dass wohl ein Lachen darstellen sollte.
„Ich möchte dich nicht weiter auf die Folter spannen und es kurz machen. Du hast einen perfekten Job in Spanien gemacht. Ich habe mir die Unterlagen und den Bericht am Wochenende angesehen, hervorragende Arbeit. Und dieser Auffassung ist auch der CEO Louis Cortez von Global Mecánica SA, der noch am Freitag bei mir angerufen hat und ganz begeistert war. Besonders beeindruckt hat ihn, dass nur so wenige Mitarbeiter das Unternehmen verlassen müssen, um die angepeilten Ziele zu erreichen. Der Hauptaktionär ist ja die alteingesessene und angesehene Familie Martinez, die wohl ein Interesse daran hat, nicht als Arbeitsplatzvernichter in die Schlagzeilen zu kommen. Ich weiß, dass du kein Freund von Entlassungen bist und ich hatte manchmal Zweifel, ob du nicht zu weich für diesen Job bist, aber in diesem Fall hast du absolut richtig gelegen.“
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, tätschelte er Eriks linken Arm, der sich wie gelähmt ob der vielen positiven Nachrichten nicht vom Fleck gerührt hatte.
„Was stehen wir hier rum“, fuhr Dr. Konzalik fort und schob Erik in Richtung zu der kleinen Besprechungsecke mit einem Tischchen und drei Besuchersesseln.
„Setz dich doch, Erik.“ Erik stellte seinen Aktenkoffer ab und nahm dann ebenfalls Platz.
„Das Beste kommt ja noch.“ Dr. Konzalik machte eine bedeutungsvolle Pause, erhob sich wieder aus seinem Sessel, um zu der immer noch geöffneten Tür zu gehen.
„Frau Brenner, es kann los gehen.“Im Sekretariat machte sich Frau Berger offensichtlich ans Werk, das von Ihrem Chef gewünschte in die Tat umzusetzen. Man hörte das Klappen der Kühlschranktür, Gläserklirren und kurz danach ein gedämpftes Plopp. Erst jetzt realisierte Erik, dass auf dem Tischchen zwei kleine Teller standen, darauf sorgfältig gefaltete Servietten.
„Was geht hier vor?“, dachte Erik, als Frau Berger auch schon mit einem Tablett erschien, das sie routiniert schwungvoll auf dem Tischchen abstellte.
„Wie gewünscht, Champagner und Häppchen! Dann lassen sie es sich mal schmecken!“
Auch sie schien sich an der Verblüffung von Erik zu ergötzen, was allerdings kein Wunder war, da sie selbst von dem, was hier geschah, überrascht war. An solch ein Ereignis konnte sie sich bei bestem Willen nicht erinnern.
„Ich weiß, Champagner zu so früher Stunde ist ungewöhnlich, aber ..“ wieder eine kleine bedeutsame Pause, „ … der Anlass ist ja auch ungewöhnlich.“
Obwohl augenscheinlich alles in bester Ordnung war, rutschte Erik unruhig auf seinem Sessel hin und her.
„Du wirst es nicht glauben, aber Cortez war so überzeugt von deiner Arbeit, dass er uns bei dem Telefonat am Freitag einen weiteren großen Auftrag in Aussicht gestellt hat. Aber schon am Sonntag habe ich eine Mail von ihm mit den Auftragsunterlagen bekommen. Das ging, sage ich mal, alles blitzschnell.“
Eine Welle der Begeisterung schien Dr. Konzalik erfasst zu haben, denn er schlug sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel, dass es nur so knallte. Erik, völlig überrascht von diesem plötzlichen Gefühlsausbruch, zuckte erschrocken zusammen.
„Auf diesen Anschlussauftrag hatten wir ja gehofft, obwohl wir uns keine großen Chancen ausgerechnet haben. Die Konkurrenz war hart, aber dank deiner hervorragenden Arbeit haben wir uns durchgesetzt. Aber es kommt noch besser.“
„Noch besser?“, warf Erik fast verschüchtert ein.
„Sicher ! Und das ist wirklich unglaublich! Cortez hat mir dabei mitgeteilt, dass die Familie Martinez beabsichtigt, uns zu beauftragen, ihr Firmenimperium zu durchleuchten. Wir sollen Ertragspotenziale lokalisieren und entwickeln, allerdings immer unter der Prämisse, dass Mitarbeiterinteressen gewahrt bleiben und jetzt kommt es: dass du das Projekt leitest. Louis Cortez kommt diesen Donnerstag als Abgesandter der Familie Martinez nach Berlin und will die Einzelheiten mit uns abklären. Das Ganze ist einfach unglaublich! Darauf wollen wir trinken!“
Völlig benommen von den Ereignissen, fast abwesend, hob Erik mechanisch sein Glas. Die ganze Geschichte nahm eine Entwicklung, die seine Erwartungen bei weitem übertraf. Während er noch nach Worten suchte, die diesem Augenblick angemessen waren, setzte Dr. Konzalik noch eins drauf: „Wenn dieser Auftrag kommt, dann wirst du dieses Projekt als Partner leiten, darauf kannst du Gift nehmen. Auch der Partnerrat wird nichts dagegen einzuwenden haben. Alles Weitere besprechen wir dann morgen. Heute nimmst du dir frei und genießt den Tag. Prost!“
„Danke!“ Zu mehr war Erik im Augenblick nicht fähig und war froh, dass Dr. Konzalik keine weiteren Überraschungen parat hatte und sich stattdessen über die leckeren Häppchen hermachte. Nach diesem Gespräch hatte er das Gefühl, dass einer glänzenden Karriere nichts mehr im Wege stand.
Erik hatte das Angebot von Dr. Konzalik angenommen und sich auf den Heimweg begeben. Unterwegs kam ihm der Gedanke, dass es angesichts des schönen Wetters keine schlechte Idee wäre, nach dem so frühen Champagner einen Kaffee zu trinken. Also steuerte er das nächste ihm bekannte Café an, um die Idee auch in die Tat umzusetzen. Es würde ihm gut tun, in der Sonne zu sitzen und die letzte Stunde noch einmal Revue passieren zu lassen. Eines aber stand schon fest: er würde heute Abend Kirstin mit einem Essen überraschen. Schließlich gab es ja einen Anlass für eine kleine Feier zu Zweit.
Kirstin fühlte sich ausgesprochen beschwingt, als sie nach der kurzen Busfahrt und dem kleinen Fußmarsch von der Haltestelle bis zur Kanzlei schließlich ihr Büro betrat. Sie war sich nicht ganz schlüssig, ob die Rückkehr von Erik oder die ausgelassene Schülerschar im Bus Ursache für ihre gute Laune war. Auf jeden Fall hatten die Kinder, sie nahm an, dass es Grundschüler waren, die sich, nach ihrer Kleidung zu urteilen, auf einem Ausflug befanden, viel Fröhlichkeit verbreitet. Die Worte waren hin und her geflogen und das Gekicher und Gelächter wollte einfach kein Ende nehmen. Auch die anderen Fahrgäste hatten sich am fröhlichen Inferno eher erfreut, was Seltenheitswert hatte. Normalerweise gab es immer jemanden, der sich über den sogenannten Lärm beschwerte. Heute war es anders gewesen und hatte sie in ihrem Kinderwunsch bestärkt. Ja, sie wollten Kinder, mindestens zwei. Wirtschaftlich ging es ihnen gut und sollte Erik tatsächlich, wie erhofft, die Partnerschaft angeboten werden, wären sie finanziell mehr als abgesichert. Vorausgesetzt, es käme nicht zu einer weiteren Finanz- und damit Weltwirtschaftskrise wie vor neunzehn Jahren. Diese war noch heftiger ausgefallen, als die der Jahre 2008 bis 2012. Man hatte zwar einige Regularien entwickelt, um solch eine Katastrophe für die Zukunft zu verhindern, sie hatten jedoch, wie die Entwicklung zeigte, nicht ausgereicht, eben diese Katastrophe zu vermeiden. Aber wie gesagt, das Tal der Tränen war durchschritten und seit vier, fünf Jahren ging es wieder richtig aufwärts, so auch die einhellige Meinung der Wirtschaftsforschungsinstitute; alle relevanten Indices wiesen auf einen stetigen Aufwärtstrend hin. So hatten sie beschlossen, den Kinderwunsch Realität werden zu lassen. Vielleicht würden sie dann auch ein Haus am Rande der Stadt beziehen, mit einem Garten, der Platz zum Spielen und für gemütliche Grillfeste bot. Sie konnte es sich gut vorstellen, ihre Tätigkeit für mindestens ein Jahr aufzugeben, um sich voll und ganz dem Nachwuchs zu widmen. Vielleicht hatte es ja schon an diesem Wochenende geklappt und sie war schwanger. Schließlich hatte sie ja bereits vor fünf Wochen die Schwangerschaftsverhütung eingestellt.
Zügig hatte Kirstin die vorbereiteten Unterlagen für ihren Gerichtstermin zusammengestellt und in den kleinen Aktenkoffer gelegt. Igor Ibramowitsch, so hieß der Mann, den sie heute verteidigen sollte, gehörte zu der Klientel, der ihr keine große Freude bereitete. Er war der einzige Sohn einer aus Russland eingewanderten Familie, in Deutschland geboren und zweiunddreißig Jahre alt. Eigentlich ein intelligenter Bursche, hatte keine Sprachdefizite und das Abitur gemacht. Sein Vater war Arzt und so hatte es die Familie zu einigem Wohlstand gebracht; also eigentlich beste Voraussetzungen für einen ordentlichen Lebenslauf. Nach dem Abitur zeigte Igor, trotz der Mahnungen seines Vaters, kein Interesse an einem weiterführenden Studium. Er wollte Geld verdienen und dies bald. Da sich zu diesem Zeitpunkt erste Anzeichen der Wirtschaftskrise zeigten, waren Ausbildungsplätze rar und trotz der relativ guten Zeugnisse gelang es ihm nicht, einen dieser Plätze zu erhalten. Damit begann sein Abstieg. Er hielt sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten und finanziellen Zuwendungen seines Vaters über Wasser, in der Hoffnung etwas später eine Ausbildung beginnen zu können. Doch die Hoffnung war trügerisch. Überall wurde gespart, auch sein Vater, der mittlerweile in den Ruhestand gegangen war, konnte ihn nicht mehr in dem Maße unterstützen, wie er es gern getan hätte, da auch er ein Opfer der Finanzkrise geworden war und erhebliche Teile des Vermögens verloren hatte. Also verdiente sich Igor, der schließlich von Sozialleistungen des Staates lebte, etwas dazu, indem er das kapitalistische Ausbeuterpack, wie er es bezeichnete, von der Bürde des Geldes, zumindest Teilen davon, befreite. Allerdings waren diese nur bedingt bereit, ihm von dem akkumulierten Kapital etwas abzugeben. Schließlich war es doch ein Ausgleich für all die Pein, die man aufgrund der vielen sittenwidrigen Geschäfte erleiden musste, für all das Ungemach, für das man als für schuldig Befundener seinen Kopf hinhalten musste. Die Zeitungen waren schließlich voll von Berichten über die unfähigen Eliten, die unverändert nur die eigenen Taschen und nicht das Wohl der Allgemeinheit im Auge gehabt hatten. Ja, sie machten Igor das Leben schwer, indem sie jedes nur denkbare technische Hilfsmittel einsetzten, um ihr Hab und Gut zu schützen. Eine dieser Verteidigungslinien wurde Igor zum Verhängnis und so machte er erstmalig mit der Staatsgewalt Bekanntschaft. Die ausgesprochene Bewährungsstrafe war wohl auch dem Umstand geschuldet, dass sein Vater am Tag vor der Gerichtsverhandlung gestorben war. Sein Verteidiger nutzte diese Gelegenheit kaltblütig aus und verband den Schicksalsschlag seines Klienten mit den Schäden, den gewisse Herren und Damen angerichtet hatten, und unter denen auch Igor zu leiden hatte. Zum Ende der Verhandlung zeigte Igor, übrigens auf Geheiß seines Anwalts, Reue und der Richter daraufhin Milde. Igors Reue war allerdings, wie zu erwarten, nur von kurzer Dauer. Er borgte sich ein wenig Geld und rüstete sich technisch auf, um seinen Kampf gegen die ungerechte Verteilung des Eigentums wieder aufzunehmen. Tatsächlich konnte er wohl einige Streifzüge erfolgreich abschließen, denn es folgten einige Wochen Aufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel auf Mallorca. Einerseits beflügelt von dieser kapitalistischen Sause und andererseits gefrustet über den danach wieder eingetretenen Geldmangel, machte er sich also wieder ans Werk. Leider ließ er es dabei an der nötigen Vorsicht fehlen, an der sein Opfer nicht gespart hatte. Diesmal fand er als Wiederholungstäter keine Gnade und durfte für ein paar Monate die Ein-Stern Qualität des Gefängnisses genießen. Kurz nach seiner Entlassung geschah etwas, was man durchaus als Wunder bezeichnen konnte. Der für ihn zuständigen Sachbearbeiterin des Job-Centers war es gelungen, Igor einen Arbeitsplatz zu vermitteln. Ein kleiner Handwerksbetrieb im Sanitärbereich benötigte einen Helfer, der außer Kraft auch ein bisschen Grips besaß. Der Chef, Walter Behrendt, der über eine ausgeprägte soziale Ader verfügte, hatte bereits einige junge Gelegenheitstäter bei sich angestellt, die, von einer Ausnahme abgesehen, unter diesen Bedingungen wieder auf den Pfad der Tugend zurückgefunden hatten. Auch Igor überstand die gesondert vereinbarte Probezeit von einem halben Jahr zur vollsten Zufriedenheit seines Arbeitgebers und man zog in Betracht, Igor eine ordentliche Ausbildung angedeihen zu lassen. Igor war nicht abgeneigt, fühlte er sich nach der langen Zeit als Außenseiter endlich wieder als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Alles schien also seinen geregelten Gang zu gehen, zumindest bis zu der von seinem Arbeitgeber ausgerichteten Weihnachtsfeier. Diese wurde ob ihres familiären Charakters gerühmt, da die Frau des Chefs es sich nämlich nicht nehmen ließ, für die ganze Belegschaft Gänsebraten zuzubereiten. Dies machte der Gattin zwar viel Arbeit, sorgte aber bei den Untergebenen ihres Gatten für gute Stimmung. Insbesondere da alle wussten, dass nach dem fetten Essen zu dem Stoff gegriffen wurde, der bekanntermaßen die Verdauung fördern soll: Alkohol. Und da gab es viel zu verdauen. Jede weitere Flasche förderte zwar die Stimmung, sorgte aber auch für eine immer rustikalere Wortwahl. Zunächst staunend verfolgte der Juniorchef die Ausführungen Igors, der sich in dieser beschwingten Runde befleißigt fühlte, wieder einmal die ungerechte Verteilung des Geldes zu beklagen. Irgendwann hatte die Kapitalistenschelte auch sein umnebeltes Gehirn erreicht und ihn zu dem liebevoll gemeinten Ausspruch „Scheiß Knacki!“ verleitet. Die Antwort kam postwendend: „Scheiß Kapitalist!“ Allerdings beließ es Igor nicht bei einem verbalen Schlagabtausch, sondern ließ seine Rechte folgen, die krachend das Kinn des Juniorchefs traf und diesen in einen tiefen Schlummer versetzte. Die Party war damit schlagartig beendet und die Karriere von Igor als Sanitärinstallateur ebenso, denn trotz aller Beschwichtigungsversuche seines Vaters, der Igor gut leiden konnte und eine Teilschuld bei seinem Sohn sah, beharrte der Juniorchef auf einer sofortigen Entlassung und als Dreingabe auf einer Anzeige wegen Körperverletzung. So musste sich die Justiz erneut mit Igor beschäftigen. Dieser hatte sich hilfesuchend an einen Verein gewandt, der sich der Resozialisierung ehemaliger Strafgefangener verschrieben hatte. Als Mitglied des paritätischen Wohlfahrtsverbandes forderte man wie üblich die Unterstützung der Anwaltskanzlei an, die auch schon bisher recht erfolgreich für den Verband tätig war. So übernahm Kirstin die Verteidigung des Igor Ibramowitsch, der in den Vorgesprächen wenig Einsicht für sein unüberlegtes Handeln zeigte, vielmehr sich damit brüstete, es „diesem Kapitalistenschwein“ ordentlich gezeigt zu haben. Kirstin hegte nun die Hoffnung, dass die lange Zeit bis zur heutigen Gerichtsverhandlung die Gemüter soweit beruhigt hatte, dass zumindest eine kleine Chance bestand, die beiden Streithähne zum Einlenken zu bewegen. Allein, es würde schon eines Wunders bedürfen, Igor vor einem weiteren Gefängnisaufenthalt zu bewahren.
Kirstin wollte sich Igor vor der Verhandlung noch einmal vornehmen und machte sich deshalb schon einige Zeit vor dem Gerichtstermin auf den Weg. Sie nahm ein Taxi, das sie auf schnellstem Wege zum Amtsgericht brachte. Der Taxifahrer war gut gelaunt und machte einige humorvolle Bemerkungen, über die er allerdings selbst am meisten lachte. Kirstin war in Gedanken mehr bei ihrem Fall, konnte aber nicht umhin, bei einer besonderen Pointe, sofern sie diese mitbekam, herzhaft in das Lachen des Fahrers einzufallen. So war sie in guter Stimmung, als sie das Taxi verließ. Die Sonne, die von einem makellos blauen Himmel herab schien, tat ein Übriges, ihre gute Laune und damit ihren Optimismus zu stärken. Sie betrat das imposante Gebäude durch das mittlere der großen Portale, das zu ihrer Erleichterung bereits geöffnet war, da sie immer Schwierigkeiten hatte, die riesigen Türen zu bewegen. Hinter dem Eingang musste sie sich der obligatorischen Sicherheitskontrolle unterziehen. Nachdem sie diese ohne Probleme hinter sich gebracht hatte, ging sie die beeindruckende große Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sie in einem Besprechungszimmer Igor treffen würde. Da sie etwas früh dran war, besorgte sie sich an einem Kaffeeautomaten noch zwei Cappuccino, der von gar nicht so übler Qualität war. Einer war für Igor bestimmt, in der Hoffnung, dass ihn diese kleine Aufmerksamkeit etwas von seiner Aggressivität nahm.
Als Kirstin das Besprechungszimmer betrat, saß Igor schon an dem kleinen Tischchen und wandte ihr sein Gesicht zu. Er war von großer Statur, schlank aber muskulös. Sein markantes Gesicht wurde dominiert von einem kräftigen Kinn und grauen Augen. Mit seinen blonden Haaren und den Augenbrauen in gleicher Farbe erinnerte er Kirstin mehr an einen Wikinger als einen Russen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Er begann verschmitzt zu Grinsen, wobei er auf den Kaffeebecher deutete: „Für mich?“ Kirstin nickte und schob den Becher noch ein Stück zu ihm hin. Sie fühlte sich ertappt, er hatte wohl ihren kleinen Bestechungsversuch durchschaut. „Egal“, dachte sie, dann wusste er eben, worauf sie hinauswollte. Vielleicht würde das die Sache erleichtern.
„Herr Ibramowitsch“, begann sie mit beschwörendem Tonfall, „sie wissen, sie haben sich in eine schwierige Lage gebracht.“
Bevor sie fortfahren konnte, unterbrach sie Igor: „Sie sehen verdammt gut aus für eine Anwältin.“
„Lassen sie das, jetzt ist keine Zeit für Komplimente. Wir müssen uns jetzt auf die Verhandlung konzentrieren.“ Kirstin versuchte ihrer Stimme Strenge zu verleihen, was Igor aber nicht davon abhielt, sie unverändert anzugrinsen.
„Herr Ibramowitsch“, begann sie erneut, „in diesem Fall hängt alles vom Richter ab. Geht er von einem minderschweren Fall aus, weil Alkohol im Spiel war und der Juniorchef sie vorher verbal attackiert hat, kommen sie vielleicht mit einer geringen Geldstrafe oder ein paar Stunden Sozialarbeit davon. Schlimmstenfalls folgt er dem Antrag des Staatsanwalts, der auf Körperverletzung plädiert und sie wandern wieder in den Knast.“
Igor erweckte den Eindruck, als folgte er den Ausführungen von Kirstin mit größtem Vergnügen. Hatte er zunächst leicht vorgebeugt am Tisch gesessen, lehnte er sich jetzt entspannt zurück, wobei er sie unverwandt betrachtete. Sein ständiges Grinsen irritierte Kirstin, erweckte er doch den Eindruck, als wäre ihm alles völlig egal. Langsam verging ihre bis dahin gute Laune und stattdessen keimte Ärger in ihr hoch. Sie wollte alles tun, ihn vor einer erneuten Haftstrafe zu bewahren und er machte keine Anstalten, sie bei ihren Bemühungen zu unterstützen. Stattdessen schien er das alles, seinem stetigen Grinsen nach zu urteilen, nur lächerlich zu finden. Plötzlich machte er so etwas wie eine abwehrende Handbewegung und beugte sich wieder vor.
„Machen sie sich mal keine Sorgen, Frau Stendahl, das wird schon. Ich habe das im Gefühl.“
„Mein Gott, sie haben vielleicht Nerven“, antwortete Kirstin nach einer kurzen Pause der Verblüffung, „mit Gefühlen allein gewinnt man aber keinen Prozess.“
„Sie wollen, dass ich Reue zeige, obwohl der Kerl mich beleidigt hat.“
„Das wäre zumindest ein Anfang“, entgegnete Kirstin.
„Vielleicht hätte ja eine Schelle gereicht. Aber eine Abreibung hat dieser Ausbeuter verdient.“ Igor lächelte, mit sich und der Welt zufrieden.
„Wissen sie, was der für einen Wagen fährt?“
„Nein !“, antwortete sie, verblüfft über die Wendung, die das Gespräch nahm.
„Einen Ferrari ! Wir bekommen ein paar Euro die Stunde und er sahnt ab. Er ist ein Ausbeuter.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug Igor mit der rechten Hand auf den Tisch.
„Herr Ibramowitsch, wenn sie bei der Befragung so argumentieren, sehe ich schwarz.“
Kirstin war nun überzeugt, dass Ihr Klient beratungsresistent war und sah in einer weiteren Unterhaltung keinen Sinn mehr. Während sie noch überlegte, was sie noch tun könnte, erschien der Gerichtsdiener und teilte ihnen mit, dass der Prozess in fünfzehn Minuten beginnen würde. Kirstin war dankbar für diesen Hinweis, enthob er sie doch von der Verpflichtung, sich weitere Gedanken machen zu müssen. Sie machte es kurz, wünschte Igor und sich selbst viel Glück für die anstehende Verhandlung und verließ das Besprechungszimmer, während Igor unverändert grinsend ihren Abgang mit Interesse verfolgte.
Die Gerichtsverhandlung wurde für Kirstin zu einem unerwarteten Highlight in ihrer Karriere, woran sie aber, wie sie zugeben musste, nur einen geringen Anteil hatte. Als sie den kleinen Gerichtssaal betrat, war der Staatsanwalt und Behrendt jun. schon anwesend. Sie nickte den beiden Herren zur Begrüßung zu und setzte sich auf einen der beiden Stühle an dem kleinen Verteidigertisch. Sie hatte kaum Platz genommen, als sich die Tür zum Gerichtssaal erneut öffnete und eine ältere Dame eintrat. Sie steuerte auf einen der hinteren Sitzplätze zu und setzte sich, holte eine Illustrierte aus ihrer Tasche und begann sich die noch verbleibende Zeit mit dem Studium derselben zu vertreiben. Schließlich erschien auch Igor von einem Justizbeamten begleitet und setzte sich neben Kirstin. Dabei lächelte er ihr aufmunternd zu. Er schien wirklich davon überzeugt zu sein, dass die Geschichte für ihn glimpflich verlaufen würde. Kirstin lächelte etwas verkrampft zurück und widmete sich dann aus Verlegenheit ihren Unterlagen.
„Meine Damen und Herren, ich eröffne hiermit die Verhandlung.“
Erschrocken blickte Kirstin auf. Sie hatte sich so in ihre Papiere vertieft, dass ihr entgangen war, dass der Richter den Saal betreten hatte. Der Richter hieß Alexander Koslowski und war Kirstin bereits aus einigen Verhandlungen bekannt. Das Schwierige bei ihm war, dass seine Entscheidungen nie vorhersehbar waren. Er hatte sie immer überrascht. Wo sie ein scharfes Urteil erwartet hätte, zeigte er unerwartete Milde. Ein anderes Mal ließ er ihrem Klienten fast die Höchststrafe angedeihen, wo sie ein minderschweres Vergehen gesehen hatte. Erst in der nächsten Instanz wurde das Urteil wieder teilweise zurückgenommen. Aber genau diese Unwägbarkeit machte Kirstin Sorgen. Der Richter nahm routinemäßig die Personalien auf, verlas die Anklageschrift und fragte dann Igor, ob er noch vorab etwas sagen wollte. Igor nickte und erhob sich, was Kirstin derartig überraschte, dass sie sich nicht vom Fleck rührte und kein Wort herausbrachte. Dies war gegen die Abmachung, die sie getroffen hatten.
„Sehr geehrter Herr Richter, ich habe Herrn Behrendt“, dabei deutete er auf den Juniorchef, “in meiner Erregung einen Boxhieb versetzt. Dies war völlig unangemessen und ich möchte mich dafür bei ihm von ganzem Herzen entschuldigen. Auch der Alkohol rechtfertigt nicht diese Handlung, die ich aufs äußerste bedauere.“
Igor senkte schuldbewusst sein Haupt und stand da, wie ein begossener Pudel.
„Was war das denn?“, dachte Kirstin und starrte Igor verblüfft an. Allerdings verblieb ihr nicht allzu viel Zeit, diese Aussage zu verarbeiten, denn Behrendt jr. erhob sich, um seinerseits eine Erklärung abzugeben.
„Lieber Igor“, dabei streckte er diesem beide Arme entgegen, „ich danke Dir für deine aufrichtigen Worte, aber nicht du musst dich bei mir entschuldigen, sondern ich mich bei Dir. Ich habe Dich durch meine unbedachten Worte verletzt und deswegen hatte ich diesen Schlag verdient.“
Kirstin konnte es nicht fassen, jetzt rannen ihm auch noch Tränen über die Wangen. Zum Richter gewandt, setzte er seine Ansprache fort: „Herr Richter, ich ziehe meine Anzeige gegen Herrn Ibramowitsch zurück und bedauere zutiefst, sie mit diesem Fall unnütz beschäftigt zu haben.“ Dann drehte er sich wieder zu Igor, hob erneut beide Arme während der Tränenstrom nicht versiegte: „Und du kannst wieder bei uns anfangen, denn ich nehme die Kündigung zurück.“ Sprachs und marschierte schnurstracks auf Igor zu, einen entgeistert schauenden Staatsanwalt zurücklassend. Igor ging nun seinerseits auf den Juniorchef zu und beide fielen sich in die Arme, wobei nun auch Igor die Tränen herabrannen. Kirstin saß genauso entgeistert auf ihrem Platz wie der Staatsanwalt. Nur der Richter zeigte deutliches Vergnügen und auch die einzige Zuschauerin dieses bewegenden Schauspiels schien hoch erfreut, denn sie ließ, wie sonst nur in der Oper üblich, ein lautes „Bravo!“ hören.
„Ich glaub, ich bin im falschen Film“, dachte Kirstin gerade noch, als der Richter auch schon kurzen Prozess machte: „Die Verhandlung ist geschlossen!“
Während Igor und der Juniorchef Arm in Arm unter dem Beifall der älteren Dame den Gerichtssaal verließen, packten die Verbliebenen ihre Akten und strebten dann ihren jeweiligen Büros zu.
Erik hatte gerade zwei Entenbrustfilets in den Backofen geschoben und wollte sich an die Zubereitung des Dressings für den Feldsalat machen, als aus dem Wohnzimmer die Anfangsakkorde aus den vier Jahreszeiten von Vivaldi erklangen. Jemand rief an, also eilte er über den Flur hinüber in das Zimmer, wo auf dem Mediaschirm unten in einem weiß umrandeten Feld der Name seiner Schwiegermutter zu lesen war. Er nahm die Fernbedienung vom Couchtisch und aktivierte das Bild und zugleich die Kamera, sodass auch die Anruferin ihn sehen konnte. Eine ältere Dame erschien auf dem Schirm, die ihm freundlich zulächelte.
„Hallo Erik, du bist also tatsächlich wieder zurück aus Madrid.“
„Ja, am Freitag schon.“
„Ich will auch gar nicht weiter stören. Kirstin ist wohl noch nicht da?“
„Nein, sie hatte heute einen Gerichtstermin und wollte noch den Abschlussbericht schreiben. Sie wird so in einer halben Stunde hier sein.“
„Macht nichts. Ich rufe an, weil wir Euch für Sonntag zum Essen einladen wollen. Dann kannst du uns auch über deinen Aufenthalt in Spanien berichten. So ein Job im Ausland ist doch bestimmt interessant.“
„Das kann man wohl sagen. Ich habe tatsächlich ein paar gute Neuigkeiten.“
„Fein. Übrigens, es wird wieder dein Lieblingsgericht geben. Ich hoffe, das ist in deinem Sinne.“
„Super ! Wir kommen so gegen dreizehn Uhr. Ist das in Ordnung?“
„Ja und schöne Grüße auch von Papa.“
„Werde ich ausrichten. Also dann bis Sonntag. Wir freuen uns!“
Das Bild auf dem Display verschwand. Erik war begeistert, nicht allein, weil er sich mit seinen Schwiegereltern gut verstand, sondern weil seine Schwiegermutter über eine Gabe verfügte, die in seiner Familie nicht sonderlich verbreitet war: sie war eine exzellente Köchin. Leider war Kirstin aus der Art geschlagen und hatte diese Fähigkeit nicht geerbt, was sie aber nicht so recht wahrhaben wollte und mit der ihr eigenen Beharrlichkeit ignorierte. Es war ja nicht so, dass sie nicht kochen konnte, aber an irgendetwas mangelte es fast immer: die Kartoffeln zu fest oder zu weich, zu salzig oder zu lasch, das Fleisch zu zäh oder der Fisch zu locker, dass er auseinander fiel, zu viel oder zu wenig Gewürz. Dagegen war das, was ihre Mutter auf den Tisch brachte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer eine Punktlandung. Und obwohl sich seine Schwiegereltern in den letzten Jahren immer mehr der vegetarischen Küche angenähert hatten, gab es vor allem auf Wunsch von Erik bei diesen Familientreffen Rouladen. Also genau das, wonach ihm nach den Wochen auswärtiger Küche gelüstete. Auch Kirstin würde das gefallen. Heute war wirklich sein Glückstag!
Meine Eltern konnten ihr Glück nicht fassen. Immer wieder berichtete jeder dem anderen von den wunderbaren Ereignissen des Tages, während sie die Entenbrust mit größtem Appetit vertilgten und so manches Glas Rotwein die Kehlen herunter rann. Dieser 1. April 2047 war genauso bemerkenswert wie der vergangene Freitag und war deshalb auch zukünftig immer wieder das Gesprächsthema. Allerdings interessierte mich als Kind die Geschichte meines Vaters deutlich weniger, dafür die Geschichte von Igor weitaus mehr. Meine Mutter hatte sie mir eines Abends als Gutenachtgeschichte vorgetragen und sie hatte mich so fasziniert, dass sie mir dieses „Märchen“ jeden Abend von neuem erzählen musste. Als geübte Rednerin verstand sie es, der Handlung den letzten Schliff zu geben und als aufmerksamer Zuhörer war ich bald in der Lage, jedes Wort in Gedanken auszusprechen, bevor es meine Mutter tat. Noch heute sehe ich das Bild vor mir, als ob es erst gestern war; wie sie auf meinem Bett sitzt, mit ihrer modischen Kurzhaarfrisur, nur eine längere Strähne ihres dunklen Haares fiel über ihre rechte Wange herab, ihren dunklen Augen, die in diesen Momenten voller, ja Zärtlichkeit waren und einem spitzbübischen Lächeln. Und ich war stolz auf meine Mutter, die den unglücklichen Igor wieder, und das war meine feste Überzeugung, auf den Pfad der Tugend zurückgebracht hatte.
Wie gesagt, am Abend des 1. April herrschte bei meinen Eltern die reine Glückseligkeit. Sie malten sich die Zukunft in rosaroten Farben aus, würde doch die Partnerschaft meines Vaters den finanziellen Spielraum und damit die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten deutlich erhöhen. Sie gehörten zwar schon bisher zu den Menschen, die sich glücklich schätzen konnten, über ein angemessenes Einkommen zu verfügen, dass es ihnen erlaubte, sich doch den einen oder anderen kleinen Wunsch zu erfüllen. Große Sprünge waren damit allerdings nicht zu machen. Das würde nun doch, wenn nichts dazwischen kam, etwas anders werden. Das meinem Vater so plötzlich die Partnerschaft angeboten wurde, war eben glücklichen Umständen zu verdanken. Erst ein paar Tage später setzte bei Erik so etwas wie ein kritisches Hinterfragen ein.
Donnerstag, 04.04.2047
Am Donnerstag traf Louis Cortez wie angekündigt in Berlin ein und hatte am Mittag der T. Summerset Consulting AG seine Aufwartung gemacht. Dr. Konzalik nutzte die Gelegenheit, dem CEO von Global Mecánica SA die soziale Errungenschaft des Unternehmens vorzuführen und lud deshalb zunächst in ein separates Gästezimmer der Kantine zu einem Drei-Gänge-Menu ein. Der Küchenchef und sein Team hatten ihrem ohnehin vorhandenem Können noch eins drauf gesetzt und ein bestechendes Werk von Köstlichkeiten serviert. Dies gab der sowieso schon vorhandenen guten Stimmung noch einen zusätzlichen Schub und schaffte ein ausgesprochen angenehmes Gesprächsklima. Bereits während des Essens kam das Gespräch auf den Auftrag, zu dem Dr. Konzalik die Unterlagen bereits am vergangenen Sonntag erhalten hatte. Erik hatte diese in den vergangenen Tagen gesichtet und anhand der Aufgabenstellung seine Vorgehensweise festgelegt. Er war also bestens präpariert und konnte Louis Cortez auf jede seiner Frage eine fachlich fundierte Antwort geben. Der CEO von Global Mecánica SA war sichtlich begeistert, was wiederum Dr. Konzalik in eine geradezu euphorische Stimmung versetzte. Erik konnte seine Verwunderung über die seltsame Wandlung seines früher so gestrengen Vorgesetzten in einen charmanten Gesprächspartner nur mühsam verbergen. Es blieb ihm allerdings nicht viel Zeit ins Grübeln zu geraten, da ihm Louis Cortez, der ihm gegenüber saß, vertraulich die Hand tätschelte.
„Herr Stendahl, es steht ja nun eine längere Zeit der Zusammenarbeit an und ich kann sagen, ich freue mich schon darauf, sie wieder in Madrid begrüßen zu dürfen. Aber ganz sicher werden sie auch noch einige andere Städte unseres schönen Landes kennen lernen, da die Unternehmen der Global Mecánica SA in vielen Landesteilen vertreten sind. Auf jeden Fall werden wir für einen angenehmen Aufenthalt sorgen und ich hoffe, dass wir die Gelegenheit finden werden, auch mal gemeinsam einen guten Wein zu genießen. Vielleicht können sie ja auch ihre Frau überzeugen, sie einmal zu begleiten. Meine Frau würde sich sicher freuen, ihr ein paar exquisite Sehenswürdigkeiten zeigen zu können. Ich meine …“ Er machte eine kleine bedeutsame Pause, um dann fortzufahren: „… Schuhgeschäfte!“
Louis Cortez begann lauthals zu lachen. Dr. Konzalik, der zwar keinen Grund für solche ausgelassene Heiterkeit erkennen konnte, schloss sich dennoch aus taktischen Gründen dem Gefühlsausbruch seines Mandanten an. Merkwürdigerweise wirkte sein Lachen dabei völlig unverkrampft, geradezu gelöst. Erik war verblüfft, ließ doch das Wort Schuhgeschäft unvermittelt die Szene am Flughafen mit dem lustigen Frauentrio und den herabgefallenen Schuhen vor seinem geistigen Auge entstehen und konnte dann zu seiner eigenen Verwunderung nicht umhin, ebenfalls in das Gelächter einzufallen. Die Lautstärke musste beträchtlich und trotz der gut gedämmten Wände und der schweren Tür außerhalb des Gästezimmers vernehmbar gewesen sein, denn ein besorgter Küchenchef trat ein.
„Ist alles in Ordnung?“
Dr. Konzalik beruhigte sich als erster.
„Alles bestens, mein Lieber. Sie haben sich selber übertroffen!“ Er sprang auf, ging schnellen Schrittes auf den völlig entgeistert wirkenden Küchenchef zu, nahm seine Hand und schüttelte sie kräftig. Auch Louis Cortez fühlte sich verpflichtet, eine Danksagung an den Küchenchef zu richten: „Das Menu war wundervoll! Danke!“
Erleichtert, dass nicht sein Menu verantwortlich für die Heiterkeit war, zog sich der Küchenchef wieder zurück.
„Meine Herren“, begann Louis Cortez fast feierlich, “wenden wir uns wieder den Geschäften zu. Ich habe Ihnen für die Untersuchung der Global Mecánica SA die grundlegenden Unterlagen mitgebracht.“ Dabei wies er auf seinen Aktenkoffer, den er auf einem kleinen Beistelltisch abgelegt hatte. „Ich würde sie gerne noch mit ihnen kurz durchsprechen.“
„Das ist auch in unserem Interesse“, antwortete Dr. Konzalik, „aber wir sollten dazu in mein Besprechungszimmer gehen!“
Alles Weitere war reine Routine. Erik nahm die Unterlagen entgegen, zu denen der CEO die eine oder andere Erläuterung abgab. Insgesamt wirkte das Zahlenwerk aussagefähig und gut aufbereitet, sodass zumindest zum jetzigen Zeitpunkt für Erik nur wenig Bedarf an weitergehenden Fragen bestand. Auch Dr. Konzalik schien beeindruckt und sah keinen weiteren Klärungsbedarf. So bestand über die Aufgabenstellung bald Einvernehmen und man verabschiedete sich voneinander in der Hoffnung, dass die kommende Auftragsabwicklung zur Zufriedenheit aller Beteiligten ausgehen möge, woran aber auch niemand wirklich zweifelte.
Nachdem Louis Cortez das Haus verlassen und ihm Dr. Konzalik ausdrücklich jegliche Unterstützung bei der Bewältigung des Auftrags zugesichert hatte, zog sich Erik in sein Büro zurück; er brauchte ein paar Minuten der Ruhe, um die letzten Stunden zu verarbeiten. Doch es hielt ihn nicht lange in seinem Sessel, er musste mit jemandem sprechen. „Mal sehen, ob Marco da ist“, dachte er gerade, als es an der Tür klopfte und sich diese unmittelbar danach öffnete. Ein von der Sonnenbank verwöhntes Gesicht erschien und präsentierte ein Lächeln, dass zwei beneidenswerte weiße Zahnreihen zeigte. Das lange dunkle Haar war im Nacken zu einem kleinen Zopf zusammen gebunden, so, wie es seit kurzem wieder in Mode war. Die Geschäftsleitung hatte gegen solche modischen Äußerlichkeiten nichts einzuwenden, sofern sie den allgemeinen Geschmack nicht allzu sehr strapazierten. Ganz im Gegenteil, demonstrierte man doch damit Fortschrittlichkeit und Modernität.
„Mensch, Marco, kannst du Gedanken lesen?“
„Hi, Erik! Noch nicht, aber die Neugierde hat mich hergetrieben. Ich habe Dich in dein Büro gehen sehen und mir gedacht, frag doch mal nach, wie dein Meeting ausgegangen ist.“
Marco Trebisch hatte im gleichen Jahr wie Erik bei der T. Summerset Consulting AG angefangen. Die berufliche Ausbildung und diverse Projekte hatte sie immer wieder zusammengeführt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus ein freundschaftliches Verhältnis, was sich in gelegentlichen privaten Zusammenkünften manifestierte. Marco, dessen Mutter Italienerin war, was zu seiner Namensgebung ganz maßgeblich beigetragen hatte, war ein Jahr jünger als Erik. Beide waren gut ins Berufsleben gestartet, ihre Karriereverläufe waren sehr ähnlich und es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr Ziel, die Partnerschaft, erreichen würden. Aus für beide unerklärlichen Gründen wurde der zunächst unaufhaltsame Aufstieg vor zwei Jahren gebremst. Trotz der ihrer Ansicht nach hervorragenden Arbeitsergebnisse war Dr. Konzalik nicht bereit, sie dem Partnerrat für die Partnerschaft vorzuschlagen. Sie vermuteten, dass Dr. Konzalik eine Abneigung gegen ihre soziale Einstellung hegte, die sie sich trotz des harten Wettbewerbs bewahrt hatten und die nicht unwesentlich ihre Arbeit beeinflusste. Dies stieß nicht in jedem Fall bei den Mandanten auf Verständnis und führte dann in der Regel zu ausgedehnten Diskussionen, die bei Dr. Konzalik auf wenig Gegenliebe stießen, galt für ihn doch das Motto: „Time is money“. Bisher konnten Erik und Marco ihre Vorstellungen zumindest in Teilen durchsetzen, da ihre Konzepte letztendlich fundiert genug waren, auch die zunächst unwilligen Mandanten zu überzeugen. Aber das Risiko, dass ein Mandant die Ergebnisse und Schlussfolgerungen nicht akzeptieren könnte, war durchaus gegeben und damit wohl ein Grund für die ablehnende Haltung des Dr. Konzalik, der nichts mehr fürchtete, als eine unliebsame Auseinandersetzung mit einem Mandaten, der dem Ruf seiner Abteilung schaden könnte. Dies hätte mit Sicherheit auch Auswirkungen auf seine eigene finanzielle Situation.
„Gehen wir doch in die Cafeteria“, sagte Erik und schob Marco wieder zur Tür hinaus, „ich muss mit dir reden.“
Die Cafeteria befand sich auf der gleichen Ebene wie die Kantine und war von dieser nur durch Stellwände und mittlerweile üppig bewachsenen Pflanzentrögen abgetrennt. Getränkeautomaten sowie Stehtische und Barhocker waren Bestandteile der Cafeteria, die ob der Qualität der diversen Kaffeespezialitäten und der Möglichkeit des Gedankenaustausches gern besucht wurde. Heute allerdings waren sie die einzigen Besucher, was Erik in diesem Fall sehr entgegenkam. Beide wählten am Automaten einen Kaffee und nahmen dann auf den Barhockern an einem der Tische Platz. Erwartungsvoll schaute Marco Erik an, der bis zu diesem Zeitpunkt beharrlich geschwiegen hatte.
„Na los, erzähl“, forderte Marco nun doch ungeduldig.
„Ich weiß eigentlich gar nicht, womit ich beginnen soll. Je länger ich darüber nachdenke, umso unheimlicher wird mir die Geschichte. Dieser plötzliche Umschwung von Dr. Konzalik ist für mich nicht nachvollziehbar.“ Gedankenverloren blickte Erik auf seine Tasse Kaffee.
„Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wo es da ein Problem gibt“, stellte Marco fest, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und fuhr dann fort: „Du bist einer der Besten! Na ja, nach mir.“ Marco lächelte verschmitzt und auch Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Aber augenscheinlich hast du die Gunst der Stunde genutzt. Der richtige Auftrag zur richtigen Zeit. Und du hast damit einen dicken Fisch an Land gezogen. Einen sehr Dicken! So dick, dass Doktorchen gar nicht anders kann, als dir nun die Partnerschaft anzubieten. Ich an deiner Stelle würde ein Fass aufmachen und du nörgelst hier rum.“ Marco schien sichtlich betrübt, dass sich ihm solch eine Chance nicht geboten hatte. Aber dieser Zustand war nur von kurzer Dauer; Marcos Miene heiterte auf und er gab Erik einen kräftigen Klaps auf die Schulter, wobei er diesem ein „Das ist doch wunderbar!“ hinzufügte. Unvermittelt lachte er auf, fröhlich und unverkrampft. Erik musterte ihn prüfend.
„Warum und worüber lachst du, Marco?“
Das Lachen erstarb augenblicklich.
„Warum und worüber lachst du?“ wiederholte Erik seine Frage, die auf einen entgeistert wirkenden Marco stieß.
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich war eben happy!“
„Es wird viel gelacht in letzter Zeit. Sehr viel. Alle sind unglaublich fröhlich, ein permanenter Karneval!“ Erik beobachtete aufmerksam sein Gegenüber, der hilf- und ratlos schien.
„Marco, das, was du vorhin gesagt hast, ist dem Anschein nach durchaus logisch. Ein zufriedener Mandant, ein riesiger Folgeauftrag und damit die Partnerschaft. Ist es wirklich nur einfach Glück?“
„Was soll es sonst sein?“ Marco nahm wieder einen Schluck von seinem Kaffee und fuhr fort: „Glück und Können!“, wobei er das Wort Können extra betonte.
„So sieht es aus“, antwortete Erik und nippte ebenfalls an seinem Kaffee,“ die Wahrheit aber ist, dass ich mit diesem Auftrag schon vor einem Desaster stand.“
Marco stand die Verblüffung ins Gesicht geschrieben. „Wieso denn das?“
„Weil von vornherein eigentlich klar war, dass die Global Mecánica SA aus Kostengründen viel mehr Personal abbauen wollte. Bis zuletzt gab es darüber heftige Verhandlungen und es sah nicht danach aus, als wollten sie meinen Vorschlägen folgen. Dabei hatte ich schon einige Gewinnpotenziale gehoben. Du kennst mich ja. Aber es schien nicht genug. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, bevor ich am Donnerstag letzter Woche meine Präsentation abgeliefert habe.“
„Du bist nicht auf die Wünsche des Mandanten eingegangen? Das war wirklich riskant!“ stellte Marco fest und schien beeindruckt.
„Vielleicht erschien mir die Auseinandersetzung mit Kirstin im Vergleich zu Dr. Konzalik als das größere Übel!“ Erik spürte wie sich Heiterkeit in ihm breit machte und wusste, dass ein Lachanfall kurz bevor stand. Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten und Erik prustete los. Zunächst irritiert stimmte Marco kurz darauf in das laute Gelächter mit ein. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, stellte sich eine gewisse Ratlosigkeit ein.
„War mein Hinweis auf Kirstin wirklich so witzig?“ Erik wartete gespannt auf die Antwort.
„Na ja, es war schon ein nettes Bonmot!“ Marco schien selbst nicht so recht überzeugt.
„Es ist, als ob sich die Leute was reingezogen haben. Sie lachen selbst über Nichtigkeiten. So ähnlich war es auch bei der Präsentation. Wie gesagt, letzten Donnerstag bei der Präsentation war es genauso. Schon bei der Begrüßung hatte ich das Gefühl, dass sich etwas geändert hatte. Der CEO Cortez, der sich die Tage davor schon immer wieder bei den Besprechungen eingeschaltet hatte und sich dabei als größter Kritiker meiner Empfehlungen profilierte, begrüßte mich demonstrativ herzlich. Auch die übrigen Damen und Herren der Leitungsebene empfingen mich und meinen Partner äußerst freundlich. Du kannst dir vorstellen, dass mir da erst einmal ein Stein vom Herzen gefallen ist. Ich nehme an, dass die Familie Martinez dem Herrn Cortez am Ende doch noch auf die Füße getreten ist und er ausgebremst wurde.“
Marco unterbrach Eriks Redefluss: „Das ist doch keineswegs ausgeschlossen und wäre eine vernünftige Begründung.“
„Mag sein, zumindest ist wohl auch Dr. Konzalik dieser Meinung, der ebenfalls die Auffassung vertreten hat, dass die Familie Martinez nicht als Arbeitsplatzvernichter in die Schlagzeilen kommen möchte.“ Erik rutschte von seinem Hocker und gab als Erklärung dafür ein „Ich hole mir noch einen Kaffee“ an. Während er dem Kaffeeautomaten per Knopfdruck seinen Wunsch mitteilte und dieser sich geflissentlich an die Arbeit machte, nahm er das Gespräch wieder auf. „Leuchtet alles ein. Was aber merkwürdig ist, dass das Verhalten der Teilnehmer bei der Präsentation so war, als hätte es niemals eine andere Sicht der Dinge gegeben. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Normalerweise sind die Leute doch stinksauer, wenn sie zurückgepfiffen werden. Wie sagt man so schön, sie knirschen mit den Zähnen. Hier war nichts dergleichen erkennbar, nur Friede, Freude, Eierkuchen.“ Erik hob die Schultern und ließ sie als Zeichen seiner Ratlosigkeit wieder fallen.
Marco ließ sich einen Moment Zeit, bis er schließlich zugab: „Merkwürdig ist das schon. Allerdings“, fügte er an, „so ist es eben manchmal im Leben. Du hast eben wirklich Schwein gehabt. Aber deswegen musst du dir doch keine Gedanken machen.“
„Natürlich freue ich mich. Schließlich haben sich ja meine beruflichen Wünsche erfüllt. Und ich hoffe, dass es auch bei dir bald soweit ist.“
Marco hob leicht resigniert die Hand: „Dein Wort in Gottes Ohr. Aber vielleicht ist Dr. Konzalik jetzt etwas geneigter, nachdem dieser Großauftrag seine Bilanz doch deutlich verschönt.“ Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht. Eriks ernster Gesichtsausdruck, der jegliche Heiterkeit vermissen ließ, brachte ihn wieder zum Schweigen.
„Bei Dr. Konzalik ist es doch ähnlich. Hast du ihn bisher schon mal großartig lachen gesehen. Selbst bei den größten Erfolgen und davon hatten wir ja einige, seitdem es wieder aufwärts geht, hat sich bei ihm doch nie so etwas wie Freude eingestellt. Erinnerst du dich an Poschner im letzten Jahr? Der hat doch ebenfalls so einen Riesenauftrag an Land gezogen und was war die Folge?“ Erik wartete wie zur Bestätigung auf die Antwort von Marco, die dieser auch postwendend gab: „Er hat sich vor versammelter Mannschaft beklagt, dass man bei den Budgetverhandlungen hätte mehr rausholen können. Poschner ist das Siegerlächeln regelrecht entglitten. Das war schon hart.“
Erik nickte zustimmend, „Genau das meine ich. Mein Auftrag bringt nicht ganz so viel wie der von Poschner, aber Dr. Konzalik ist glücklich, alles ist vergessen. Poschner war sein Star, mir aber hat er nichts zugetraut und jetzt?“
Marco konnte nicht anders, als Erik zustimmend zuzunicken. „Du hast recht, seltsam ist das schon. Aber mir ist auch aufgefallen, dass die Menschen insgesamt besser drauf sind. Du hast es ja bereits vorhin gesagt. Andauernd wird gekichert und gelacht; seit einer Woche geht das schon so. Als ob sich alle was eingeworfen haben.“
„Richtig“, bestätigte Erik. „Eigentlich vergeht keine Minute, ohne dass man einem fröhlichen Menschen begegnet.“
„Aber ehrlich gesagt, finde ich das ganz angenehm“, fügte Marco an, “keine verkniffenen Gesichter, kein Rumgemecker. Ist doch toll!“
„Na ja, eigentlich hast du Recht“, antwortete Erik, „Vielleicht liegt es ja daran, dass endlich der Frühling da ist.“
Und beide stimmten ein fröhliches Gelächter an.
Die Zweifel, die meinem Vater anlässlich der Geschehnisse der letzten Tage zumindest sporadisch erfasst hatten, waren nicht unbegründet, wie sich bald herausstellen sollte. Mangels einer vernünftigen Erklärung blieb einem bis dahin nichts anderes übrig, als sich in das Schicksal zu fügen und es auf die allgemeine Wetterlage oder die Umstände zu schieben. Ich kann mich allerdings noch sehr gut daran erinnern, dass mein Vater das Gespräch mit Marco wiederholt zum Anlass nahm, seine prophetische Gabe zu preisen, was natürlich stark übertrieben war, da er genauso wie alle anderen weit davon entfernt war, auch nur einen Bruchteil der Wahrheit erkannt zu haben.
Am gleichen Tag, zu vorgerückter Stunde, hatte auch meine Mutter einen Beitrag zu den merkwürdigen Ereignissen beigesteuert. Dabei lösten die von ihr gemachten Feststellungen bei ihr weniger Zweifel, sondern mehr Sorge um ihren Arbeitsplatz aus, was bei meinem Vater äußerste Heiterkeit ausgelöst haben soll.
Nach dem erfolgreichen Meeting, das sich bis in die Nachmittagsstunden hingezogen hatte und dem anschließenden Gespräch mit Marco, fühlte sich Erik ausgelaugt. Daher beschloss er die Arbeit, die vor ihm lag, auf den nächsten Tag zu verschieben und zunächst eine schöpferische Pause einzulegen. Also machte er diesmal pünktlich Feierabend und ging nach Hause. Dort erwartete ihn bereits Kirstin, die zu seiner Verwunderung ebenfalls pünktlich ihren Arbeitstag beendet hatte. Dies war also eine gute Gelegenheit, wieder einmal gemeinsam das Abendessen einzunehmen. Während sie einen Meeresfrüchtesalat zubereitete, begann er den Tisch am Fenster der Küche einzudecken. Den Tisch im Esszimmer nutzten sie nur zu besonderen Anlässen oder bei einer größeren Anzahl von Gästen. Das Fenster gab bei Tageslicht den Blick frei auf einen großen Hinterhof mit einer Rasenfläche, die neben Bäumen und Sträuchern auch einen kleinen Spielplatz beherbergte. Da die den Hof umgebenden Häuser überwiegend von älteren Menschen bewohnt wurden, deren Kinder im Zweifel längst ihre eigenen Wege gingen, wurde der Spielplatz nur wenig genutzt. Kirstin hatte sich bereits vorgenommen, von diesem Angebot zumindest hin und wieder Gebrauch zu machen, wenn der Nachwuchs einmal da sein sollte.
Während er gerade das Besteck aus dem Küchenschrank holte, sprach Kirstin ihn an: „Ich habe eine Flasche Riesling mitgebracht. Er steht im Kühlschrank. Kannst du ihn bitte aufmachen?“
„Wein zum Abendbrot?“ fragte er verwundert, nahm aber den Korkenzieher aus dem Fach neben dem Besteckkasten, ging dann zum Kühlschrank, nahm die Flasche heraus und begann sie zu entkorken.
„Na ja“, antwortete sie, „erstens passt er gut zu dem Salat und zweitens hast du dir heute das Gläschen Wein verdient.“
„Da gebe ich dir allerdings recht. Ich werde ...“, er legte eine Pause ein, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, “… dann mal die Gläser holen.“
Erik stellte die Flasche Wein auf den Küchentisch und kümmerte sich anschließend um die Gläser. Kurze Zeit später war alles angerichtet, zur Feier des Tages hatte Erik noch eine Kerze mitgebracht, die nun ihr warmes Licht verbreitete.
„Das sieht ja richtig gut aus“, meinte Erik angesichts des appetitlich angerichteten Salats.
„Ich hoffe, er schmeckt so gut, wie er aussieht.“ Kirstin schien sichtlich stolz auf das Ergebnis ihrer Arbeit.
„Das hoffe ich auch“, dachte Erik, während er sich die erste Portion in den Mund schob. Überrascht musste er zugeben, dass ihr wirklich alles gelungen war. Deshalb war sein „Ausgezeichnet!“ heute wirklich ernst gemeint.
Während er also diesmal mit großem Appetit die gelungene Mahlzeit genoss, nahm Kirstin das Gespräch wieder auf.
„Ich habe heute einen interessanten Artikel in der Zeitung gelesen. Eine Meldung aus der Polizeistatistik. Danach soll es einen enormen Rückgang bei der Gewaltkriminalität gegeben haben.“
„Das hört man doch gerne“, sagte Erik und nahm sich noch eine Scheibe von dem Baguettebrot.
„Schon“, fuhr Kirstin fort, „allerdings verzeichnen sie diese Entwicklung erst seit einer Woche. Bei den Eigentumsdelikten ist der Rückgang allerdings nicht so ausgeprägt, aber es gibt ihn.“
„Und, haben sie eine Erklärung dafür gegeben?“ fragte Erik.
„Nein, nur dass es diesen bemerkenswerten Rückgang gibt. Es war ja auch nur ein kleiner Artikel.“ Kirstin nahm ihr Glas und nahm einen kräftigen Schluck.
„Erik, nimm doch mal an, diese Entwicklung wäre dauerhaft. Was dann?“
“Wie meinst du das?“ Erik konnte sich nicht vorstellen, worauf sie hinaus wollte.
„Wenn es keine Verbrechen mehr geben würde, was würden all die Anwälte dann tun, die damit ihre Brötchen verdienen? Dazu kommen ja noch die Richter und die Mitarbeiter der Justiz.“ Kirstin setzte eine Trauermiene auf.
„Also, ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass es je eine Welt ohne Verbrechen gibt. Es wäre schon erfreulich, wenn es weniger wäre. Außerdem gibt es genügend andere Jobs für Juristen. Für Gute allemal.“ Und um ihr zu schmeicheln, fügte Erik hinzu: „Und du bist gut!“
„Danke. Aber im Fernsehen haben sie vorhin in den Nachrichten auch einen kurzen Hinweis auf dieses Phänomen gebracht. Und wenn das von Dauer ist, dann …“ Kirstin machte eine Pause und betrachtete das Glas Wein, das sie in der Hand hielt.
„Was dann?“ fragte Erik.
„Dann werde ich bestimmt entlassen.“
Erik schaute sie entgeistert an. „Das meinst du doch nicht ernst?“ Dann spürte er, wie ihn Heiterkeit übermannte und er wusste, was nun kommen würde.