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2.2. Ankündigung

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Am Donnerstag, den 04.04.2047, hatten sich meine Eltern früh zu Bett begeben. Mein Vater wollte sich am nächsten Tag ausgeruht an die Ausarbeitung des Strategiekonzepts machen und war angesichts der anstrengenden vergangenen Tage gleich in einen tiefen Schlaf gefallen. Meine Mutter hatte noch ein wenig gelesen bevor sie ebenfalls das Licht ausschaltete und sich dem Schlummer hingab. Es sollte für längere Zeit der letzte erholsame Schlaf sein.

Freitag, 05.04.2047

Wie an jedem Arbeitstag üblich, wurden Kirstin und Erik um sechs Uhr geweckt. Beide fühlten sich ausgeruht und gestärkt, den neuen Tag in Angriff zu nehmen. Bei einem Blick aus dem Fenster stellte Erik fest, dass es wohl wieder ein schöner Tag werden würde, da trotz der aufkommenden Dämmerung noch einige Sterne am Himmel zu sehen waren. Beide wickelten routinemäßig das morgendliche Programm ab und machten sich auf den Weg zur Arbeit. Im Erdgeschoß begegneten sie einem sichtlich gut aufgelegten Tomasz Lewandowski, der gerade im Begriff war, ein Leuchtmittel auszutauschen und dabei ein ihnen unbekanntes Liedchen vor sich hin summte.

„Einen schönen guten Morgen! Sie kommen vorbei?“ Dabei wies er auf den Zwischenraum zwischen seiner Leiter und der angrenzenden Wand. „Das gilt natürlich nicht für sie, Frau Stendahl.“

„Sie Schmeichler!“ antwortete Kirstin, während Erik mit dem Brustton der Überzeugung ein „Das gilt natürlich auch nicht für mich!“ hervorbrachte. Beide passierten dann den ausreichend Platz bietenden Engpass, drehten sich noch einmal um und wünschten dem Hausmeister einen schönen Tag.

„Danke, gleichfalls!“ antwortete dieser und machte sich immer noch lächelnd wieder an seine Arbeit.

Im Büro angekommen, machte sich Erik gleich wie geplant ans Werk. Für elf Uhr war eine Lagebesprechung mit Dr. Konzalik anberaumt, bei der er schon eine erste Grobplanung vorlegen wollte. Kirstin hatte heute auch keinen auswärtigen Termin und wollte sich in einen neuen Fall einarbeiten. Das Wetter entwickelte sich tatsächlich so, wie es Erik erwartet hatte: die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel herab bei angenehm frühlingshaften Temperaturen. So heiter sich das Klima zeigte, so heiter gaben sich auch die Menschen. Selbst Mitarbeiter, von denen man glaubte, dass sie sich nicht ausstehen könnten, traf man jetzt bei einer ungezwungenen Plauderei an. Die Geschäftsleitungen mussten sich angesichts einer allseits so positiven Entwicklung des Betriebsklimas glücklich schätzen. Auch Dr. Konzalik war wieder in bester Laune und lächelte freundlich, als er Erik begrüßte.

„Es läuft ja zur Zeit alles wie geschmiert“, stellte er fest, nachdem er mit Erik die Rahmenbedingungen für die Auftragsabwicklung bei der Global Mecánica SA abgestimmt hatte. „Aber nicht nur in diesem Fall. Auch bei den anderen Aufträgen können wir eine positive Entwicklung feststellen. Ich glaube, dieses Jahr werden wir gut abschließen. Du sowieso!“ Dabei lächelte er Erik wohlwollend an, während dieser vermutete, dass es die Aussicht auf eine steigende Erfolgsvergütung war, die Dr. Konzalik so freundlich stimmte. Aber da er ihm mitgeteilt hatte, dass der Partnerrat bereit war, Erik die Partnerschaft anzubieten, was natürlich vor allem seiner Fürsprache zu verdanken war, sollte auch Dr. Konzalik sein Erfolgserlebnis vergönnt sein.

Nach der Besprechung, es war mittlerweile kurz vor vierzehn Uhr, verspürte Erik einen gesunden Appetit und begab sich daraufhin in die Kantine. Kirstin befand sich zu dieser Zeit bereits in einem kleinen Bistro in unmittelbarer Nähe der Kanzlei und verspeiste mit größtem Vergnügen ein Pasta-Gericht. Wegen des schönen Wetters hatte sie nur mit viel Glück einen Tisch im Freien ergattert, denn so wie sie, nutzten auch viele andere die Gelegenheit draußen zu sitzen und die wärmenden Strahlen zu genießen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Augenscheinlich waren auch wieder viele Touristen in der Stadt, die sich glücklich schätzten, ihre Erkundungen trockenen Fußes vornehmen zu können und jedes halbwegs attraktive Motiv nutzten, um es auf dem Speicherchip ihrer Digitalkamera zu bannen. Kirstin genoss das quirlige Leben um sie herum, denn der Winter war lang gewesen und sie war froh, dass mit der wärmeren Jahreszeit wieder das mediterrane Leben eingezogen war.

Am Nebentisch von Kirstin saß ein junges Pärchen, das mit kaum sichtbaren Kopfhörern augenscheinlich Musik hörte. Es musste wohl ein Radiosender sein, denn ihre Köpfe nickten zeitweilig im gleichen Takt, während sie ihre Gesichter mit geschlossenen Augen unverwandt der Sonne entgegenstreckten. Ab und zu wurden die Musikstücke mit einem unüberhörbaren „Super“ oder „Geil“ kommentiert, was Kirstin, aber auch andere Gäste im Umkreis amüsiert zur Kenntnis nahmen. Sicherlich waren die Beifallskundgebungen nicht für Dritte gedacht, aber der Lautstärkepegel der Kopfhörer ließ einen schnell das Gefühl für die Kraft des gesprochenen Wortes verlieren. Erneut schwangen die Köpfe im Takt, um unvermittelt zum Stillstand zu kommen.

„Scheiße!“ Es war die junge Frau, die auf diese Weise ihr Missfallen zum Ausdruck brachte. Beide starrten auf den Player in ihren Händen.

„Was ist denn das?“ Der junge Mann begann, genauso wie seine Begleiterin, die Tasten seines Gerätes wie wild zu bedienen.

„Überall der gleiche Mist!“ stellte sie unverblümt fest. Kirstin beobachtete fasziniert das Treiben der Beiden. Sie musste zugeben, dass sie die Neugierde gepackt hatte und sie gerne wissen wollte, was da vor sich ging.

„Warte mal“, sagte nun der junge Mann, „das ist die Bundespräsidentin.“

„Auf allen Kanälen?“ Die junge Frau konnte es immer noch nicht fassen, dass ihr der Musikgenuss so plötzlich abhanden gekommen war.

Der junge Mann rief sie zur Ordnung: „Nun hör doch mal zu!“

Sichtlich genervt folgte sie der Anweisung ihres Begleiters und hörte sich nun schweigend an, was die Kopfhörer von sich gaben.

An verschiedenen Tischen begannen Handys zu klingeln, wobei es sich mehr um ein Sammelsurium von Tönen, Geräuschen und Musikversatzstücken handelte. Kirstin verspürte ein Kribbeln in der Magengegend, dass sie gut kannte. Ein Gefühl, das eintrat, wenn sie einer Situation gegenüberstand, die sie nicht einschätzen konnte. Einen Moment keimte so etwas wie Furcht in ihr auf, verschwand aber gleich darauf wieder und eine unerklärliche, dem Moment nicht angemessene Heiterkeit nahm von ihr Besitz. An einem der Tische ertönte sogar lautes Gelächter, als hätte man einen guten Witz erzählt. Die beiden jungen Leute am Nebentisch lauschten noch immer der für Kirstin unhörbaren Stimme. Die Mienen wirkten nun konzentriert, also musste es wohl von einiger Bedeutung sein. Eine laute Männerstimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Da muss was passiert sein!“

Die Quelle des Ausrufs war ein Mann mittleren Alters, der sich von seinem Tisch in der nebenan liegenden Gaststätte erhoben und an den Nebentisch begeben hatte, um gebärdenreich auf die dort sitzenden Gäste einzureden. Aber nicht nur dort, sondern auch an den anderen Tischen wurde heftig diskutiert, wie Kirstin bei einem Rundblick feststellte. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich aber gleich wieder auf das junge Pärchen nebenan, die begannen, das Gehörte zu verarbeiten.

„Das ist ja ein Ding“, ließ sich der junge Mann vernehmen, um im Anschluss daran eine inhaltsschwere Pause einzulegen.

„Was machen wir nun?“ Das Mädchen schaute ihren Freund, wie Kirstin annahm, fragend an.

„Wir sollten nach Hause gehen und uns das ansehen“, beantwortete dieser ihre Frage.

Kirstin hielt es nicht länger aus und wollte gerade das Pärchen befragen, was in Gottes Namen eigentlich geschehen sei, als ihr Handy sie mit der ihr wohlbekannten Melodie davon Abstand nehmen ließ. Ein Blick aufs Display zeigte ihr, dass der Anrufer Erik war und mit einem Tastendruck nahm sie das Gespräch entgegen.

„Hallo Erik.“

„Kirstin, hast du es schon gehört? Alle Radio und Fernsehstationen bringen eine Ansprache der Bundespräsidentin.“ Erik klang aufgeregt.

„Nein, ich bin hier in dem kleinen Bistro, dem „A Capella“ und habe was gegessen. Aber plötzlich herrschte hier große Aufregung. Was gibt es denn? Einen Terroranschlag?“

„Nein, nein“, antwortete Erik, „zumindest haben sie nichts darüber gesagt. Aber um sechzehn Uhr unserer Zeit wird eine UN-Generalversammlung übertragen, die wir uns alle ansehen sollen. Das hört sich, meines Erachtens nach, nicht gut an. Aber vielleicht täusche ich mich und es ist genau das Gegenteil, etwas so erfreuliches, dass es die ganze Welt erfahren soll.“

„Hoffentlich hast du recht“, warf Kirstin ein. Die Skepsis, die sie für einen Moment übermannt hatte, verschwand allerdings wieder so schnell, wie sie gekommen war und machte einem wahren Wohlgefühl Platz.

„Ich habe von Kollegen erfahren, dass in allen Staaten, überall auf der Welt, die Staatsoberhäupter die gleiche Botschaft verkünden. Also muss es sehr wichtig sein. Die Bundespräsidentin hat auch gesagt, dass nur die nötigsten Dienste aufrechterhalten werden sollen. Aber das kannst du dir selber anhören. Sie wiederholen die Sendung alle fünfzehn Minuten. Das ist wirklich verrückt. Was ist da los?“

Kirstin schwieg und kämpfte gegen den Lachanfall an, der zu unpassender Zeit in ihr aufkeimte.

„Ich schlage vor, du kommst nach Hause. Ich gehe jetzt auch, es ist ja sowieso gleich Feierabend.“

Kirstin schwieg weiterhin.

„Kirstin, hörst du mich? Hallo!“

Das Gefühl der Heiterkeit, dass Kirstin übermannt hatte, ebbte ab und verwandelte sich in eine Gelassenheit, die jegliche Spannung von ihr nahm und sie in die Lage versetzte, Erik zu antworten.

„Ja, ich bin noch dran. Ich gehe gleich ins Büro und hör mich da mal um. Und dann komme ich nach Hause. Ich werde rechtzeitig da sein.“ Sie stockte kurz, da ihr bewusst wurde, dass der Verkehr auf den Straßen nach der Aufforderung an alle, die Heimstatt aufzusuchen, alles zunichte machen könnte. „Also, ich hoffe es zumindest. Auf den Straßen wird viel los sein.“

„Dann halte dich nicht allzu lange auf und mach dich auf den Weg. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch. Bis gleich.“ Kirstin schaltete ihr Handy ab und war erstaunt, dass Erik sogar in dieser Situation das „Ich liebe dich!“ herausgebracht hatte. Erneut wurde sie von einem Hochgefühl gepackt, über dessen Herkunft sie sich jedoch keine weiteren Gedanken machte. Da überall Aufbruchstimmung herrschte, musste sie sich einen Moment gedulden, bis der Kellner auch ihren Tisch erreichte und sie bezahlen konnte. Sie nutzte die Zeit über das Gehörte nachzudenken, konnte sich aber bei bestem Willen nicht vorstellen, was der Hintergrund für diese ungewöhnliche Ankündigung sein könnte. Bedeutsam musste es sein, das war klar, denn noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte es einen vergleichbaren Aufruf gegeben, der viele Fragen provozierte, aber keine Antworten enthielt.

Auch im Büro, das Kirstin kurze Zeit später erreicht hatte, konnte sie keine weiteren aufhellenden Auskünfte erhalten. Der Spekulation war Tor und Tür geöffnet und die unglaublichsten Vermutungen wurden ausgesprochen und wieder verworfen. Eingedenk der zu erwartenden Staus auf den Straßen hielt sich Kirstin nicht länger auf als notwendig und machte sich schließlich auf den Heimweg. Auch im Bus setzte sich das Rätselraten fort, wobei wildfremde Menschen, die sich sonst eher schweigend gegenüber saßen, nun heftig miteinander debattierten. Nur kurz erstaunte Kirstin die Ruhe und Gelassenheit, mit der die Menschen das Ereignis erörterten, wo man normalerweise Anzeichen von Angst oder Panik erwarten würde. Das lag mit Sicherheit an der Form, die die Bundespräsidenten bei ihrer Ansprache gewählt hatte und die die Gemüter beruhigte. Kirstin konnte es nun kaum mehr abwarten, sich selbst ein Bild von dieser Rede zu machen und fieberte der Ankunft in ihrer Wohnung entgegen.

Erik hatte sich nach dem Telefonat mit Kirstin noch einmal zu Dr. Konzalik begeben. Dieser befand sich auch bereits im Aufbruch und war sichtlich genauso ratlos wie Erik.

„Mein Gott“, begann er, als Erik das Zimmer betrat, „hoffentlich kündigen sie keinen Zusammenbruch von Großbanken an. Oder eine neue Wirtschaftskrise.“ Er machte jetzt tatsächlich einen verzweifelten Eindruck, so als müsste er sich von der Aussicht einer dicken Erfolgsprämie verabschieden.

„Das wird wohl nicht der Grund sein. Da hätte es längst Zeichen von den Märkten gegeben“, entgegnete Erik, „das wird etwas sein, womit keiner rechnet. Etwas Ungewöhnliches.“

„Natürlich, was sonst.“ Dr. Konzalik schien peinlich berührt, dass ihm nichts Besseres eingefallen war, als eine Banken- oder Wirtschaftskrise ins Feld zu führen und versuchte seinen Ausrutscher zu heilen: „Sie haben vollkommen recht. Es muss etwas von großer Bedeutung sein, sonst hätte man nicht diesen erstaunlichen Weg gewählt mit all der Geheimniskrämerei. So etwas hat es ja noch nie gegeben.“ Dr. Konzalik betrachtete die Papiere auf seinem Schreibtisch, schob sie dann zu einem Stapel zusammen, um sie anschließend in seinem Aktenkoffer zu verstauen. Augenscheinlich wollte er die ausgefallene Arbeitszeit am Wochenende nachholen. Er legte die rechte Hand an die Stirn, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. „Vielleicht ist es ein großer Meteorit, der sich im Anflug auf die Erde befindet.“ Und wie zur Bekräftigung seines Gedankens fügte er an: „Ja, so muss es sein.“

„Ich weiß nicht“, meldete Erik Zweifel an, „diese Ankündigung würde die Welt wohl ins Chaos stürzen. Ich würde das so lange wie möglich geheim halten, insbesondere dann, wenn es keinen Ausweg gibt. Ehrlich gesagt, dieses Szenario möchte ich mir lieber nicht vorstellen. Ich bin mir sicher, da steckt etwas anderes dahinter. Etwas, was keiner vermutet. Das Ganze ist doch unglaublich.“

Dr. Konzaliks Gesicht nahm einen verbitterten Ausdruck an, so wie es Erik noch gut aus vergangenen Zeiten in Erinnerung hatte. Er wirkte zutiefst beleidigt, dass seine Idee in das Reich der Fantasie katapultiert worden war. Unvermittelt begann er jedoch zu lächeln. „Ich wollte nur mal ihre Reaktion testen.“ Und fast fröhlich fügte er an: „Und sie haben den Test bestanden.“

Erik war über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, so irritiert, dass er lediglich ein „Danke!“ herausbrachte.

„So, und jetzt gehen wir alle nach Hause und lassen uns überraschen.“ Lachend verließ Dr. Konzalik das Büro und ließ einen verblüfften Erik zurück.

Erik bereute es nachträglich Dr. Konzalik noch einmal aufgesucht zu haben, da das Gespräch nur wenig zur Aufhellung der Situation beigetragen hatte. Er war so ratlos wie zuvor und daher beschloss er dem Beispiel von Dr. Konzalik und seinem eigenen Ratschlag an Kirstin zu folgen und die Heimfahrt anzutreten. Wie zu erwarten, waren auch seine Kolleginnen und Kollegen bestrebt, das Büro so schnell wie möglich zu verlassen, nachdem auch die Geschäftsleitung der Aufforderung der Bundespräsidentin gefolgt war, den Mitarbeitern für den Rest des Tages freizugeben. Da für die Verwaltungsangestellten sowieso schon Dienstschluss war, war diese Entscheidung relativ leicht gefallen. Also machte sich auch Erik auf den Heimweg.

Erstaunlicherweise kam Erik relativ gut durch den Verkehr, sodass er eine halbe Stunde vor der angekündigten Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu Hause eintraf. Nachdem er seinen leichten Übergangsmantel an die Garderobe gehängt und seine Tasche abgestellt hatte, war er gleich ins Wohnzimmer gegangen, um den Flachbildschirm zu aktivieren. Kurz darauf wurde das Emblem der UNO sichtbar, untermalt von dezenter Musik. Er war gerade dabei, die verschiedenen Sender auszuprobieren, die tatsächlich alle das gleiche Bild zeigten, als auch Kirstin ihr Heim betrat. Noch während er sie im Flur herumhantieren hörte, wurde auf dem Bildschirm ein Text eingeblendet: „Wir bitten Sie um Ihre Aufmerksamkeit für eine Ansprache der Bundespräsidentin.“

„Kirstin, komm“, rief Erik Richtung Flur, „die Bundespräsidentin!“

„Ich komme!“ Kurz darauf betrat Kirstin das Zimmer. Ihr Gesicht war leicht gerötet, da sie den Weg von der Haltestelle heute etwas schneller angegangen war. Sie küssten sich flüchtig, was den besonderen Umständen geschuldet war und nahmen auf der Couch Platz. In diesem Moment erschien auf dem Bildschirm auch schon die Bundespräsidentin. Sie saß hinter einem schweren dunklen Schreibtisch, auf dem lediglich eine Vase mit einem Blumenstrauß stand. Die Bundespräsidentin, die vor kurzem sechsundfünfzig geworden war, trug einen lindgrünen Blazer zu einer weißen Bluse. Eine dezente Perlenkette rundete die gepflegte Erscheinung ab, die einen entspannten Eindruck machte und freundlich in die Kamera lächelte. „Jetzt bin ich aber gespannt“, konnte Erik gerade noch sagen, als die Bundespräsidenten auch schon ihre Ansprache begann.

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, der Generalsekretär der vereinten Nationen hat mich heute früh darüber informiert, dass er für zehn Uhr Ortszeit, das heißt sechzehn Uhr unserer Zeit, eine außerordentliche Generalversammlung einberufen hat. Gleichzeitig hat er mich gebeten, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, sodass sie die Möglichkeit erhalten, an der Übertragung dieser Versammlung teilzunehmen. Nach den mir vorliegenden Informationen wird eine Botschaft verkündet, die für die Menschen auf diesem Planeten von erheblicher Bedeutung sein soll. Der Inhalt dieser Botschaft ist im Einzelnen bisher nur wenigen Amtsträgern bekannt. Hierzu gehören neben dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Präsidentinnen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, die Präsident der Russischen Föderation und der OAU sowie die Staatschefs von China und Indien. Diese haben nach der Prüfung der Fakten dem Vorschlag des Generalsekretärs der UN zugestimmt, eine außerordentliche Generalversammlung einzuberufen. Ich gebe zu, dass dieser Vorgang einzigartig ist und dass ich genauso wie sie mit Bangen und Hoffen diesem Termin entgegensehe. Was immer auch die Botschaft sein mag, ich bitte Sie in jedem Fall Ruhe zu bewahren. Ich versichere Ihnen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun werden, auch zukünftig Schaden von den Menschen abzuwenden. Ich danke Ihnen!“

Erneut erschien auf dem Bildschirm das Emblem der UNO, verblasste aber gleich wieder, um einer Ansicht des UN-Gebäudes in New York zu weichen. Es handelte sich wohl um eine Aufnahme aus einem Flugzeug oder Hubschrauber, denn das Gebäude wurde in niedriger Höhe umflogen.

„Selbst unsere Bundespräsidentin ist augenscheinlich nicht über Einzelheiten informiert.“ Kirstin war sichtlich betroffen.

Erik, der bisher fast bewegungslos die Rede der Bundespräsidentin verfolgt hatte, drehte sich nun zu ihr um. „Sie wissen nichts. Auch die Regierung nicht. Es ist unglaublich! Wie ist so etwas in einer Demokratie möglich? Wo ist die Presse?“

Kirstin zuckte hilflos mit ihren Schultern. „Mir ist ehrlich gesagt, ein bisschen mulmig.“

„Mir geht’s nicht besser“, pflichtete ihr Erik bei.

Aber um sie aufzurichten, fügte er an: „Es wird schon nicht so schlimm werden. Denken wir positiv. Die letzte Woche war doch schon super.“

Sie sahen sich an, ihre Gesichter verzogen sich und dann brach es aus ihnen heraus, ein befreiendes, herzhaftes Lachen.

Einige Minuten später erschien auf dem Bildschirm der Plenarsaal der UNO. Ein Kameraschwenk zeigte, dass das Plenum von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, vollständig war. Überall diskutierten die Abgesandten angeregt, was anlässlich des ungewöhnlichen Vorgangs kein Wunder war. Eine auf dem Bildschirm eingeblendete Uhr zeigte die Zeit in New York an: 09:58 Uhr. Nun fuhr die Kamera auf einen Mann in der ersten Reihe zu. Es handelte sich um Abdallah Bin Nadim Al Talib, den Generalsekretär. Er war ein strenggläubiger Moslem, dem es nach vielen Jahren unermüdlicher Verhandlungen gelungen war, Israelis und Palästinenser zu einem Übereinkommen zu bewegen, dass nun bereits fast fünfzehn Jahre Bestand hatte. Trotz wiederholter Rückschläge hatte er in geduldiger Kleinarbeit, Schritt für Schritt, die tiefen Gräben, die beide Parteien trennten, zugeschüttet und endlich für so etwas wie Frieden in der Nahostregion gesorgt. Amerikaner, Russen und Europäer hatten ihm schließlich die Verhandlungsführung überlassen, nachdem sie anerkennen mussten, dass wohl nur dieser Mann, ein Mann aus dieser Region, erfolgreich sein konnte. Der Frieden hatte sich als Segen für Israelis und Palästinenser, aber auch für die Menschen in den angrenzenden Staaten herausgestellt und brachte nicht nur Wohlstand für breite Schichten, sondern auch, wenngleich im bescheidenen Umfang, die Schaffung demokratischer Verhältnisse. Leider gab es noch immer viele Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen in dieser Welt, insbesondere in Afrika und im Kaukasus. Die Staatengemeinschaft zeigte sich nicht nur dankbar, dass der Nahe Osten endlich befriedet war, sondern hegte die Hoffnung, dass das Verhandlungsgeschick des Abdallah Bin Nadim Al Talib auch an anderer Stelle Wirkung zeigen könnte und hatte ihn daher vor rund vier Jahren zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt. Allgemein vertrat man die Auffassung, dass er einen guten Job machte, auch wenn ihm ein so großer Erfolg wie in der Vergangenheit bisher nicht vergönnt war.

Als die Uhr auf dem Bildschirm 10:00 Uhr anzeigte, erhob sich der Generalsekretär von seinem Sitz, ging gemessenen Schrittes hinüber zu dem Podest, stieg die wenigen Stufen hinauf und trat dann an das Rednerpult. Sein sandfarbener Anzug ließ sein gebräuntes Gesicht gut zur Geltung kommen. Noch einmal ließ er seinen Blick über das Plenum schweifen, das nun auch ohne weitere Ermahnung in ein gespanntes Schweigen verfiel.

„Meine Damen und Herren“, begann der Generalsekretär, „ich begrüße sie recht herzlich zu dieser außerordentlichen Generalversammlung und freue mich, dass es ihnen trotz der kurzfristigen Einladung mehrheitlich gelungen ist, hier und heute anwesend zu sein. Die Besonderheit des Anlasses hat es mit sich gebracht, dass heute nicht allein die Delegierten der Staatengemeinschaft zugegen sind, sondern auch die Bürger dieser Welt, die sie vertreten. Ich begrüße daher auch all die Menschen dort draußen an den Radioempfängern und Bildschirmen. Die Welt ist rund …“ Der Generalsekretär legte eine kurze Pause ein, um das Ende des Gelächters im Plenum abzuwarten und fuhr dann fort, „ja, immer noch und sie wird es bleiben.“ Abdallah Bin Nadim Al Talib lächelte, wie man es von vielen Fotos kannte, freundlich, beinahe väterlich. „Die Welt ist rund“, nahm er seinen anfänglichen Satz wieder auf, „und da nur eine Sonne für uns scheint, liegt ein großer Teil der Erdbevölkerung in einem hoffentlich erquickenden Schlaf. Ich versichere ihnen, dass auch sie die Gelegenheit erhalten werden, diese Übertragung zu sehen oder zu hören. Wegen der Bedeutung des heutigen Ereignisses, wird diese Sitzung in den nächsten vierundzwanzig Stunden alle zwei Stunden wiederholt.“ Der Generalsekretär hob leicht die rechte Hand, um die aufkommende Unruhe zum Schweigen zu bringen. „Begrüßen sie nun mit mir unseren Gast, der eine Erklärung abzugeben hat.“

Der Generalsekretär Abdallah Bin Nadim Al Talib verneigte sich vor dem Plenum, schritt dann wieder hinab zu seinem Platz und setzte sich. Der Geräuschpegel schwoll deutlich an, um nach einiger Zeit gespannter Erwartung zu weichen. Kirstin und Erik starrten wie gebannt auf den Bildschirm. Erik war der Erste, der das Schweigen der Stendahls unterbrach:

„Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten? Wer ist dieser Gast? Hat er keinen Namen?“

Kirstin antwortete nicht, rückte aber dicht an Erik heran, der fast hilfesuchend ihre Hand nahm. Die Kamera machte einen leichten Schwenk nach links und nahm eine dort befindliche Tür ins Visier, die sich langsam öffnete. Schlagartig kehrte Ruhe ein.

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