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1. Anfrage eines interessierten Lesers:
Symptome eines Spaltungssyndroms?

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L Ich wurde mit dem Entwurf einer Audienzordnung beauftragt. Sie soll den Ablauf der Audienzen regeln, die auf Ansuchen prominenter Persönlichkeiten des Geisteslebens hier im Hause von Ihren beiden Majestäten gewährt werden: von Ihrer Vernunftmajestät und von Ihrer Sinnenmajestät.

V Nachdem Er uns seit vierzig Jahren treue Dienste geleistet hat, ist dieser Auftrag ein verdienter Vertrauensbeweis.

S Die Eingangsformel sollte den Wohlfahrtsordnungen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nachgebildet sein und einen entsprechend hehren und respektheischenden Eindruck erwecken. Wie hat Er dies umgesetzt?

L Ich darf den Entwurf zitieren: »WIR, Immanuel Kant, von Gottes Gnaden König der Deutschen Philosophie, verkünden Unseren philosophischen Untertanen hiermit folgende Audienzordnung«. In Anerkennung der Größe des philosophischen Herrschers wird das majestätische »WIR« mit Großbuchstaben geschrieben und werden die Audienzbegünstigten in Artikel 1 verpflichtet, für die Anrede Seiner Majestät den pluralis majestatis zu verwenden.

S Vielleicht sollte man in Klammern »Majestätsplural« hinzufügen.

V Wer Uns um eine Audienz ersucht, ist des Lateinischen mächtig. Der Klammerzusatz ist also unnötig.

L Artikel 2 lautet: »Fragen der Audienzbegünstigten haben mit dem Adressaten zu beginnen. Dafür stehen alternativ zwei Formeln zur Verfügung: ›Ich frage Ihre Vernunftmajestät‹ oder ›Ich frage Ihre Sinnenmajestät‹. Die erste Antwort gebührt dem Adressaten, eine ergänzende Antwort durch den Nichtadressaten ist aber zulässig.«

V Das erscheint Uns vernünftig.

S Sollten WIR nicht lieber sagen »sinnvoll«?

L Jedenfalls brauche ich den Entwurf an dieser Stelle nicht zu ändern.

S Welcher Raum ist für die Audienzen reserviert?

L Das ist in Artikel 3 geregelt: »Die Audienzen finden in der Bibliothek statt.«

S Wem gewähren WIR die erste Audienz?

L Dem Reformator Martin Luther. Er wollte unbedingt am 31. Oktober hier in Königsberg empfangen werden und behauptet, es handele sich bei dem betreffenden »Reformationstag« um einen ihm gewidmeten Feiertag.

V Er ist ja auch sonst sehr von sich überzeugt.

L Er wird es aber nicht wagen, die Audienzordnung ignorieren oder gar reformieren zu wollen. In dieser Hinsicht habe ich eher ein Problem mit dem Brief eines »interessierten Lesers«.

S Wenn es sich um einen interessierten Leser Unserer Schriften handelt, weise Er ihn auf die Akademieausgabe hin, in der sogar unsere Briefe und der handschriftliche Nachlass enthalten sind.

Lampes Audienzordnung

L Mein Problem ist ein anderes: Der Betreffende weiß, dass Ihre Majestäten beabsichtigen, die Audienzgespräche von mir stenographisch aufzeichnen zu lassen, um sie analog im Druck oder digital im Internet zu publizieren.

S Das kann er nur durch Ihn – den Eckermann Kants – erfahren haben.

L Der Briefschreiber hatte um die Übersendung der Audienzordnung gebeten, in deren letztem Artikel die Einwilligung der Audienzbegünstigten geregelt ist, die geführten Gespräche zu veröffentlichen. Ich hatte ihm die Ordnung zugesandt.

V Spreche Er nicht ins Unreine: Es kann sich noch nicht um die »Ordnung« gehandelt haben, sondern nur um deren »Entwurf«.

S Hier war wieder einmal der Beckmesser der Vernunft zu vernehmen. Mich interessiert, was der »interessierte Leser« wissen will, wenn sein Interesse der Publikation der Audienzgespräche gilt.

L Die erste Frage nimmt direkt Bezug auf die für die Anrede Ihrer Majestäten verpflichtende Unterscheidung zwischen der Vernunft- und der Sinnenmajestät. Der Fragesteller möchte wissen, ob diese Unterscheidung »Symptom eines Spaltungssyndroms« sei.

V Schreibe Er ihm zurück: Die in der Sekundärliteratur zu findende Diagnose eines »Spaltungssyndroms« verwendet mit dem Wort »Syndrom« einen medizinischen Terminus, der für Unsere Philosophie unangemessen ist.

S WIR leiden nicht an einer philosophischen Krankheit. Aber WIR lassen uns auf das virtuelle Spiel ein.

L Weiter fragt der interessierte Leser Seine Vernunftmajestät nach dem Vermächtnis Platons. Der in der Eingangsformel so benannte »König der Deutschen Philosophie« erinnere ihn an den König der Platonischen Philosophenherrschaft. Deshalb lautet seine Frage »Wie viel Platonismus ist in der Kritischen Philosophie enthalten?«

V Platon war ein philosophischer Genius höchsten Grades, in seiner Ideenlehre aber ein Genie seiner Zeit. WIR mussten seine Lehre deshalb von der Metaphysik der Alten auf eine neue, erkenntnistheoretische Metaphysik umstellen, die WIR Transzendentalphilosophie genannt haben.

L Es ist zum geflügelten Wort geworden, den betreffenden Umsturz der Philosophie mit der von Seiner Majestät gebrauchten Wendung eine »Revolution der Denkart« zu nennen …

S … die WIR aber erst in der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« in deren Vorwort aufgenommen haben.

L Die Vernunft ist manchmal zu schnell, um sie sofort ergreifen zu können. Das gilt auch für Seine Vernunftmajestät.

V Schweig Er! Revolutionen müssen wohlbedacht sein.

L Weiter wird gefragt, warum überhaupt von Revolution die Rede ist. Der interessierte Leser ist von dem Wort irritiert, er meint sogar, dass damit zum Umsturz aufgerufen wird!

V Umstürze eines veralteten Weltbildes – die man nach aktueller Wissenschaftstheorie »Paradigmenwechsel« nennt – sind stets revolutionär gewesen, auch wenn sie mit dem Aufstand der Massen nichts zu tun haben. Eine transzendentale Revolution ist per se unblutig.

S Erst dieser unrasierte, kopflose Marx hat in ganz unanständiger Weise von politischer Revolution geredet. Bei Unserer Revolution geht es nicht um Macht, sondern um Erkenntnis und Wahrheit.

V Bis WIR die Vernunft kritisch betrachteten, haben die Denker vor Unserer Zeit versucht, die Wirklichkeit abzubilden. WIR dagegen konstruieren das, was wir Wirklichkeit nennen.

S Aber auch für Unseren »Konstruktivismus« – ein Begriff, der erst im 20. Jahrhundert gebräuchlich wurde – gilt: Alle Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung, also mit einem Begriff aus der Welt der Sinne oder aus dem mundus sensibilis.

V WIR mussten die unterbelichteten Engländer aufklären, dass selbst sinnliche Erfahrung nicht ohne Subsumtion unter vorgegebene Begriffe aus dem mundus intelligibilis möglich ist.

S Der Fragesteller wird doch mit dem Computer umgehen können. Dann weiß er: Für Datenverarbeitung ist eine Software nötig.

V Er kann sich den theoretischen Verstand und die praktische Vernunft mit ihren Begriffen als Software vorstellen.

S Aber die schönste Software ist ohne Daten sinnlos.

V WIR pflegen zu sagen: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«.

S Transzendentalphilosophisch werden uns die »reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit« ebenso »rein«, also ohne empirische Beimengung vorgegeben wie die Kategorien …

L … etwa die Kausalität mit ihrem Verhältnis von Ursache und Wirkung.

V Unterbreche Er nicht! Sobald WIR Philosophie nach der großen Revolution betreiben, kommen WIR ohne Erkenntnistheorie nicht aus. Das heißt: WIR müssen immer erst die vor aller Erfahrung gelegenen, »apriorischen« Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis klären, unter denen WIR etwas als ein bestimmtes Etwas begreifen können.

L Im Entwurf der Audienzordnung ist vorgesehen, den Audienzbegünstigten eine Transzendentalbrille anzubieten, mit der sie die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis sehen können. Ich habe mir erlaubt, eine solche Brille zu konstruieren.

S Respekt, Lampe! Was durch diese Brille zu sehen ist – die transzendentale Dimension Unserer Philosophie –, verdient als hervorragendes Zeugnis technischer Kompetenz höchste Anerkennung.

V Transzendentalphilosophie ist aber »reine« Philosophie, die als solche nur gedacht werden kann und nicht angeschaut.

S Das werden Sinnenmenschen anders sehen. Vor allem Mitglieder der jüngeren Generation sind an 3D- oder Virtual-Reality-Brillen gewöhnt. Für sie wäre es nicht nur reizvoll, sondern philosophisch hilfreich, das an sich unsichtbare, »rein« Transzendentale vor Augen zu haben.

L Ich habe darauf geachtet, dass die Transzendentalbrille keine Auswirkungen auf die Duplizität Ihrer physischen Präsenz hat.

S WIR loben Ihn!

V Dann geben WIR die Transzendentalbrille aber nur heraus, wenn dies ausdrücklich gewünscht wird und verlangen eine Gebühr dafür.

L Aus Marketinggründen wird in der Audienzordnung von einer »geringen Gebühr« die Rede sein.

V Das ist keine Frage des Marketing, sondern der Moralität.

S WIR verpflichten unseren treuen Diener Martin Lampe daher, für alle Dienstleistungen gegenüber Unseren Audienzgästen nur eine geringe Gebühr zu verlangen.

Kants Doppelleben

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