Читать книгу Kants Doppelleben - Rolf Gröschner - Страница 7
2. Audienz für Martin Luther:
Freiheit ist des Teufels
ОглавлениеL Majestät, Pardon: Majestäten, der große Reformator Martin Luther steht an der Tür.
S WIR wollen ihn etwas warten lassen, denn WIR haben noch nicht vergessen, wie despektierlich er Unseren Erasmus von Rotterdam abgekanzelt hat.
L Oh – der Ungestüme hat sich bereits Zutritt verschafft.
ML Kant, ich muss Ihnen gehörig die Leviten lesen! Hier stehe ich und kann nicht anders! Blitz und Donner! Was sehe ich? Der Satan hat ihn aufgespalten!
L Halte Er sich gefälligst an die Audienzordnung! Sie verlangt eine Anrede im Majestätsplural!
ML Mein Glaube duldet keine andere Majestät als diejenige Gottes. Und damit bin ich schon beim Grund meines Besuchs.
S Sagen wir besser Überfalls!
ML Weil Gott mich schickt, ist jeder Überfall gerechtfertigt. Aber wie ich sehen muss, komme ich schon zu spät! Der Teufel hat bereits sein Werk getan und den Religionskritiker in Zwei geteilt!
S Und warum glaubt Er, Gott schicke ihn?
ML Weil Sie oder Sie mit Ihrer Philosophie das Erlösungswerk Christi untergraben!
S/V WIR sind auf die Begründung gespannt!
ML Schon dem Erasmus habe ich gepredigt, dass »das freie Willensvermögen ein reines Lügengebilde« ist und zum Irrglauben führt. Und nun kommen Sie oder Sie und machen die Sache noch schlimmer!
V Weil WIR die Freiheit um der autonomen Moral willen preisen?
ML Der Preis gilt Gott allein, der mit seiner Herrlichkeit und Allmacht alles vorherbestimmt hat. Und daher ist »das freie Willensvermögen … zu nichts im Stande, außer zu sündigen.«
S Aber schon Erasmus ermahnte Ihn, dass er mit diesem Glauben die Sittlichkeit untergrabe.
ML Was schert mich die Sittlichkeit, wenn es um den Glauben geht! Die Heilige Schrift lehrt: »Der Mensch hat die Freiheit verloren, er ist gezwungen, der Sünde zu dienen und er kann nicht irgendetwas Gutes wollen.« Die Freiheit ist deshalb des Teufels.
V Uns ist die Formel seines Lehrmeisters Augustinus »non posse non peccare« durchaus bekannt. Aber findet sich dieser Unsinn wirklich in der Bibel?
ML Da haben wir es! Sie oder Sie klagen sich selbst an! Unsinn in der Bibel! Sola scriptura! Die Bibel ist als Gottes Wort völlig klar.
S Auch wenn sie Unklarheit und Dunkelheiten in sich birgt, wie er ja selbst zugesteht?
Martin Luther (1483–1546)
V Ihm ist manche Rede des Heiligen Paulus doch selbst ein Stein des Anstoßes, wenn dieser beispielsweise den Römern schreibt: Gott »erbarmt sich, wessen er will und er verstockt, wen er will«.
ML Der Wille Gottes ist heilig, gerecht und für unsere Vernunft unerforschlich. Was er beschließt, muss gut und gerecht sein. Wir müssen der Bibel glauben!
V Aha, dann erklärt er wohl solcherlei Absurditäten für Prüfsteine des Glaubens?
A Natürlich, schon Paulus rühmte die Torheit des Glaubens.
S Auch WIR kennen die Bibel. Im ersten Korintherbrief schreibt er: Gott hat »es für gut befunden, durch die Torheit der Predigt, jene zu retten, die da glauben.«
ML Und Sie oder Sie verbreiten in Ihren philosophischen Schriften neue Torheiten, die den Glauben gefährden.
V WIR halten es mit dem reinen Vernunftglauben und verzichten auf einen »salto mortale der menschlichen Vernunft«.
ML Ihre Vergöttlichung der Vernunft ist Ihnen schon zum Verhängnis geworden, sonst hätte Satan Sie nicht gespalten. Dabei hätten Sie doch wissen müssen, »dass die Vernunft des Teufels Hure ist«. Ich bin in Gottes Auftrag gekommen, um Sie vor dem Verhängnis zu bewahren, aber offensichtlich bin ich schon zu spät.
V Warum glauben Sie, hat Gott uns die Vernunft gegeben? Etwa nur, damit wir sie dem Glauben opfern sollen?
ML »Wer … Christ sein will, der … steche seiner Vernunft die Augen aus.« Dieses Opfer müssen wir bringen, wenn wir unserem Herrn Jesu Christ nachfolgen wollen, durch dessen Blutopfer wir gerettet sind.
S Hat Er, Luther, nicht behauptet, dass Gott in seiner Allmacht von Anfang an alles vorherbestimmt hat? Dann hat er wohl auch bestimmt, dass Adam sündigt und wir nur durch den Opfertod seines Sohnes gerettet werden können. Ist ihm diese Absurdität überhaupt bewusst?
ML Auf die Frage, »warum hat er zugelassen, dass Adam fiel, und warum schafft er uns alle mit derselben Sünde befleckt«, lautet die Antwort: »Weil er so will, daher muss es auch richtig sein, was geschieht.« Mit Ihrer menschlichen Vernunft können Sie die Glaubenswahrheiten nicht fassen.
S Es ist schier unfassbar, dass Er trotz seiner Reformation in einem abstrusen mittelalterlichen Denken gefangen bleibt, selbst wenn Er die »Freiheit eines Christenmenschen« predigt.
V Er benutzt das Wort Freiheit, das fatale Missverständnisse birgt, und am Ende vielen Bauern das Leben gekostet hat.
ML Wollen Sie mich etwa dafür verantwortlich machen?
S Wenn Er seinen Traktat mit den Worten beginnt: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan«, dann dürfte die Freiheit von den Bauern nicht nur geistlich verstanden worden sein.
ML Zum Aufruhr der Bauern gegen ihre Herren und Fürsten habe ich bei Gott nicht aufgerufen.
S Ihn aber dann mit brutaler Schärfe verurteilt!
V Er predigt Gottes Gnade und Erbarmen, aber ruft dazu auf, die Bauern zu »zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich«. Schäme Er sich für derart unchristliche Entgleisung!
ML Ich wasche meine Hände in Unschuld!
V … wo Er doch sonst nur Schuld und Sünde predigt und sogar die Erbsünde zu einem Dogma erhebt.
ML Wollen Sie ernsthaft die Weisheit des Heiligen Paulus bestreiten, der den Römern schreibt: »Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod und so der Tod auf alle Menschen überging«?
V Um einen Ursprung des Bösen zu erklären, ist die Vorstellung einer Erbsünde »unter allen Vorstellungsarten die unschicklichste«.
ML Haben Sie oder Sie nicht selbst von einem »angeborenen Hang zum Bösen in der menschlichen Natur« geschrieben?
V Es kommt darauf an, welche Triebfeder der Mensch »in seine Maxime aufnimmt«, die Triebfeder der Sinnlichkeit oder die Triebfeder der Vernunft. Nur dadurch kommt es, »dass er gut oder böse wird«.
ML Ich kenne nur eine Triebfeder: den Trieb zum Sündigen. »Die Erzhure und Teufelsbraut« Vernunft ist nur die große Verführerin.
S Ihr »sola scriptura« in Ehren, aber WIR haben ein anderes Verständnis von Bibel und Offenbarung. Der »historische Glaube (der auf Offenbarung als Erfahrung gegründet ist), hat nur partikulare Gültigkeit«.
ML Ich muss mir die Ohren zuhalten! Der Antichrist steht zweifach vor mir! Ich bekenne: Sola scriptura! Sola fide! Für Sie kommt die Rettung zu spät!
L Warum schreit Er denn so, Luther!?
V Sie predigen, dass der Glaube rettet. Aber WIR halten nichts von einem Glauben, der auf Furcht und Angst vor der Verdammnis baut. Er selbst war ja Opfer dieser Angst.
ML Ich glaube dennoch, der »Satan sei der Fürst dieser Welt, der dem Reiche Christi aus allen Kräften ewiglich nachstellt … um die gefangenen Menschen nicht loszulassen« – wie man bei Ihnen sieht.
V »Der durch Furcht abgenötigte Gehorsam … als zur Seligkeit erforderlich, ist … Aberglauben.«
ML Jetzt reicht es aber!
L Schreien Sie nicht so, Luther!
ML Vor dem Reichstag zu Worms habe ich meinen Glauben bewiesen und trotz des zu erwartenden Todes nicht widerrufen.
S Aber doch nur, um ihr Seelenheil nicht zu gefährden, um nicht zu den Verdammten zu gehören, folglich aus Angst und Furcht.
ML Na und?! Ich glaube wörtlich gesagt zu haben: »derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und ferlich ist.«
V Trotz seiner reformatorischen Anstrengung, die WIR durchaus zu würdigen wissen, bleibt Er einem Kirchenglauben verhaftet und fesselt sich an eine wortwörtlich zu nehmende Schrift.
ML Wenn wir nur ein Jota ändern oder weglassen, geht alles verloren!
V Aber begreife Er doch: »Das Leitband der heiligen Überlieferung … welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel«, wie bei Ihm, »wenn er«, der Mensch, »in das Jünglingsalter eintritt.«
ML Gott bewahre mich vor diesem Jünglingsalter! Vorher will ich lieber sterben. »Ich wenigstens glaube, Gott diesen Gehorsam« geschuldet zu haben, »gegen die Philosophie wüten … zu müssen«. Lampe, bringen Sie mich zur Tür!
L Gegen eine geringe Gebühr und unter der Bedingung, nicht mehr zu schreien!
S/V Wie WIR vermuteten: Er ist und bleibt ein mittelalterlicher Starrkopf!