Читать книгу Unterrichtssituationen meistern 2 (E-Book) - Rolf Gschwend - Страница 4
1 Vorwort
ОглавлениеDie Weiterbildungstagung an der Pädagogischen Hochschule Bern im März 2017 ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Es war das Ziel, Lehrerinnen und Lehrer, die in Berufsattest-Klassen unterrichteten, in die Methodik der Fallanalyse einzuführen. Sie sollten erfahren, wie sie mit der sorgfältigen Analyse von schwierigen Situationen im Schulalltag zu konkreten Lösungen kommen konnten. Es war mir bewusst, dass eine Arbeitsmethode wie die Fallanalyse, die einen theoretischen Anstrich hat, auf Vorbehalte stossen konnte. In den Workshops vermochte dann aber die praktische Fallarbeit in Gruppen die Vorurteile rasch aus dem Weg zu räumen. Wie überrascht waren die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, wie sich bei genauem Hinschauen auf einen Fall neue Aspekte eröffneten! Und mit einer umsichtigen Situationsanalyse liessen sich konkrete Lösungsmöglichkeiten erschliessen. Das Eis war gebrochen, die Lehrerinnen und Lehrer merkten, dass die Fallstudienarbeit genau das beinhaltete, was ihre professionelle Arbeit einschloss: genau hinschauen, nachdenken, theoretische Erklärungen hinzuziehen und Lösungen herausschälen.
Aus einem nachfolgenden Weiterbildungstag, dem «Brückentag», ist die Idee des Autors entstanden, ein Fallstudienbuch zu entwickeln, das auf die Bedürfnisse von Lehrerinnen und Lehrern für Brückenangebote zugeschnitten ist. Brückenangebote für Jugendliche umfassen das berufsvorbereitende Schuljahr, die Vorlehre und das Motivationssemester. Im Unterschied zum ersten Fallstudienbuch, das ich mit Patric Brugger unter dem Titel «Unterrichtssituationen meistern – 20 Fallstudien aus der Sekundarstufe II» 2016 verfasst hatte, sind es im vorliegenden Buch nicht Unterrichtssituationen, sondern einzelne Jugendliche, die den Anlass für eine Fallstudie bilden. Die Lebensumstände dieser Jugendlichen, ihre Herkunft, bisherige Schulerfahrungen, ihre wahrgenommenen Chancen für eine zukünftige Lebensgestaltung und viele andere Faktoren sind Aspekte, die in die Fallanalyse einzubeziehen sind. Das vorliegende Fallstudienbuch hat damit einen neuen Schwerpunkt und vermag gerade deshalb unser erstes Buch gut zu ergänzen. Auch Lehrerinnen und Lehrer anderer Schultypen der Sekundarstufe II werden Anregungen erhalten, wie sie mit Jugendlichen, die sich in schwierigen Situationen befinden, auf konstruktive, gut überlegte Weise umgehen können.
Wenn eine Situation aussichtslos scheint und sich kein Lösungsweg abzeichnet, lohnt es sich, das Problem einmal genau zu dokumentieren. Das haben die Autorinnen und Autoren der Fallbeispiele in diesem Buch getan. Zusätzlich haben sie ihrem Fall einen prägnanten Titel gegeben. Mit dem Aufschreiben wird das Problem bereits ein Stück leichter. Und wenn man den Text anderen Menschen vorlegen und mit ihnen über ihre Sicht von aussen sprechen kann, können sich Knoten lösen, die sich vielleicht durch das ständige Grübeln allein verfestigt haben.
Der Schlüssel einer guten Fallanalyse liegt aus meiner Erfahrung im ersten Schritt, der mit der Frage «Was fällt auf?» eingeleitet wird. In zahlreichen Kursen an der Universität Zürich mit angehenden Lehrerinnen und Lehrern hat mich immer wieder von neuem erstaunt, wie ergiebig das genaue, nicht wertende Hinschauen auf eine Fallbeschreibung ist. Genau das ist auch an der erwähnten Tagung in Bern geschehen. Was fällt auf in der Art wie der Autor, die Autorin die schwierige Situation beschreibt? Welche Begriffe und Bilder verwenden sie? Wie beschreiben sie sich selbst in ihrer Rolle, mitfühlend, abwartend, der Situation ausgeliefert? Gibt es Vorurteile und Vorannahmen im Text, die sich erst beim zweiten Lesen erschliessen? Schritt für Schritt breitet sich bei einer genauen Textbetrachtung eine Palette von Fragen und Vermutungen aus, die auf den ersten Blick nicht sichtbar waren.
Mit der genauen Analyse der Problemsituation ergeben sich in einem zweiten Schritt fast von selbst Aussagen zur Frage «Was ist das Problem?». Oft ist es so, dass man das Problem bei einer ersten oberflächlichen Betrachtung ganz anders sieht als nach einer vertieften Auseinandersetzung mit der Fallbeschreibung. Die genaue Problembeschreibung und offene Fragen bilden dann den Ausgangspunkt für den dritten Schritt, bei dem es darum geht, Erklärungen und Antworten für die gestellten Fragen zu finden. Eigene Erfahrungen und Alltagstheorien sind in dieser Analysephase ebenso hilfreich wie wissenschaftlich abgestützte Theorien und Modelle. Wichtig ist die Verknüpfung der beiden Ansätze. Alltagstheorien allein bergen die Gefahr, dass man nicht belegten Vorurteilen aufsitzt; wissenschaftliche Theorien auf der anderen Seite müssen in praktische Situationen übersetzt werden, damit sie handlungswirksam werden können. Für diese Übersetzungsarbeit ist wiederum praktisches Erfahrungswissen notwendig. Beide, wissenschaftliche Theorien und Alltagstheorien sollten miteinander verwoben sein. Wenn diese grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Fallsituation gelingt, ergeben sich mögliche Lösungsansätze wie von selbst.
Ich wünsche diesem zweiten Fallstudienbuch, dass es viele Lehrerinnen und Lehrer in die Hand nehmen und sich anregen lassen, die Unterrichtspraxis und die Zusammenarbeit mit Jugendlichen auf eine gute Basis zu stellen. Wer einmal die Kraft einer gründlichen Fallanalyse erfahren hat, allein oder wenn immer möglich im Austauschen mit Kolleginnen und Kollegen, wird dieses Instrument immer wieder gerne einsetzen. Das Buch bietet eine hervorragende Unterstützung dafür.
Regula Kyburz-Graber
Emeritierte Professorin Universität Zürich