Читать книгу Katastrophen - Rolf Obergfell - Страница 3
1 Rückkehr von Marseille
ОглавлениеEin führerloses Boot signalisiert Gefahr, vor allem wenn es einen Fluss hinuntertreibt und sich dabei um sich selbst dreht. Es ist außer Kontrolle und fällt jedem auf, der das Leben am Wasser kennt. Wolf Strickmann erging es nicht anders, obwohl er von einer Fahrt nach Marseille zurückkam und deshalb müde war und nur wenig aufmerksam. Er hatte bei seinem Basler Auftraggeber gerade die Formalitäten der Fahrt erledigt und beeilte sich nun, über die Mittlere Brücke zu seinem Wagen im Oberen Rheinweg zu kommen. Die dunklen Wolken im Westen verhießen nichts Gutes, in wenigen Minuten würde der leichte Sommerregen an Kraft gewinnen. Bis dahin wollte er geschützt in seinem Wagen sitzen. Als der herrenlose Kahn näherkam, konnte er deutlich erkennen, dass das Boot leck geschlagen sein musste, denn das Heck hing schwer im Wasser. Unmittelbar vor der Brücke war dann ein weiblicher Körper zu sehen, der stark blutete. Die Decke, die darübergelegt war, ließ nur den Kopf frei und war von der Hüfte an vollgesogen mit Blut.
Strickmann wechselte auf die flussabwärts gelegene Brückenseite. Während er wartete, bis der Weidling1 wieder zu sehen war, machte er sein Handy bereit. Sobald das Boot unter der Brücke hervorkam, nahm er eine Videosequenz auf und versuchte außerdem, so viele Details wie möglich direkt zu erfassen. Die Frau in dem Boot lag auf dem Rücken, ihr Gesicht war blutleer. Der Körper wirkte leblos, der Kopf seltsam verdreht – kein gutes Zeichen, falls jemand zugeschlagen hatte. Über ihren Körper war eine Decke gebreitet, auf der sich die Umrisse eines länglichen Gegenstandes abzeichneten – vielleicht eine Machete oder sonst ein langes Messer. Bevor Strickmann realisieren konnte, was geschah, versank das Heck mit einem Gurgeln. Dabei rutschte die Decke nach unten und gab die Sicht auf ein gelbes T-Shirt und den Oberkörper frei. Nach wenigen Sekunden war das Boot vollständig verschwunden und der Fluss wieder friedlich, wie wenn Strickmann eine Fata Morgana gesehen hätte.
Er schaute sich um. Keiner der wenigen Fußgänger verhielt sich auffällig: Offensichtlich war der versinkende Weidling außer ihm niemandem aufgefallen. Obwohl er Mühe hatte sich wach zu halten, rief er die 112 an, um die Polizei zu informieren. Die war aber schon längst alarmiert und hatte die Rettungsmaschinerie angeworfen, wollte lediglich seine Anschrift für eventuelle Rückfragen. Strickmann wusste, was das bedeutete: Innerhalb kürzester Zeit würden der rote Feuerwehrschlepper erscheinen, eine Gruppe professioneller Taucher der Wasserrettung und ein oder zwei Helikopter mit speziellen Suchscheinwerfern. Sie würden Schlauchboote aus grauem Gummi einsetzen, wie sie sie beim Schweizer Militär verwenden, und Weidlinge aus Aluminiumblech, dazu lange Stangen aus Holz, mit denen sie im ganzen Fluss herumstochern konnten. Schließlich würde noch ein Boot der Polizei kommen. Aber trotz des stundenlangen Aufwandes, den die Basler üblicherweise betreiben, standen die Chancen schlecht: Je nach Wasserstand war der Rhein an dieser Stelle zwischen fünf und acht Meter tief und hatte an diesem Tag eine beträchtliche Strömung.
Im Gegensatz zu den vielen Gaffern, die den technischen Aufwand bestaunten und den Nervenkitzel genossen, würde er zuerst einmal nach Hause fahren und schlafen. Er rechnete nicht damit, dass die Suchaktion Erfolg haben würde und für eine Schwerverletzte käme eh jede Hilfe zu spät.
Wie sich später herausstellte, stieg etwa zur selben Zeit in Lörrach ein junger Mann an der Haltestelle beim Röttler Schloss aus dem öffentlichen Bus und ging die Straße zur Ruine hinauf.
Die Burgruine Rötteln – heute ein Wahrzeichen der Stadt und von den Einheimischen Röttler Schloss genannt – wurde um 1100 erbaut und unter Ludwig XIV. 1678 zerstört. Der Fußgänger, der unterwegs zur Ruine war, machte aber nicht den Eindruck, als ob ihn das interessierte. Er schaute weder rechts noch links und hielt den Kopf gesenkt. Offensichtlich nahm er auch den Geruch von gegrilltem Fleisch nicht wahr, der von einer Gartenparty zu ihm herüberwehte. Die Musik und die Bierfröhlichkeit der Gäste prallten an ihm ab, ihre Sprüche und ihr Lachen erreichten ihn nicht. Die Schrebergärtner ihrerseits bemerkten nicht, dass der junge Mann seltsam gekleidet war für einen lauen Sommerabend: Er trug eine dicke, dunkle Daunenjacke, hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt. Bekleidet war er außerdem mit einer leichten Stoffhose und billigen Schuhen aus Leinen, wie sie in jedem Kaufhaus zu haben sind. Auffälliger waren da schon eine wollene Mütze und selbstgestrickte Fäustlinge, die ebenfalls nicht richtig in die Jahreszeit passten. Der schwarze Rucksack, den er bei sich trug, war prall gefüllt und offensichtlich schwer, denn er ging langsam und vornübergebeugt.
Er war völlig anonym: Niemand konnte ihn erkennen oder gar der Polizei Angaben machen, um ein Phantombild zu erstellen. Als diese seltsame Gestalt auf die Zurufe der feiernden Anwohner nicht reagierte, sich auch nicht zu einer Grillwurst einladen ließ, wandten sie sich anderen Dingen zu. Es gab genug Interessantes:
Die Musik dröhnte laut und stampfend, Steaks und Würste waren reichlich vorhanden und die Salate, die die Gäste mitgebracht hatten, vom Feinsten. Die Stimmung war überschwänglich, ihr Bierfass gerade erst angestochen. Die Party war in vollem Gange und es würde eine lange Nacht werden.
Der Fußgänger ging unbeirrt seines Weges die Steigung zur Ruine hinauf, wie ein programmierter Roboter. Nicht einmal die Wolken, die am Himmel aufzogen, hatten etwas zu tun mit ihm. Seine dicke Kleidung trieb ihm den Schweiß ins Gesicht. Auch die Intimgeräusche aus der einen oder anderen Erdgeschosswohnung reichten nicht bis zu ihm, er trug Kopfhörer. Wenn er sie wahrgenommen hätte, hätte ihn auch das nicht interessiert, so etwas berührte ihn nicht mehr.
Trotz seines seltsamen Äußeren fiel er niemandem weiter auf – oben am Schloss treffen sich oft Gruppen junger Leute, auch nachts. Als er nur noch ein paar Meter vom Parkplatz an der Burg entfernt war, bemerkte er im letzten Licht das drohende Unwetter und ging etwas schneller. Wind und Regen konnte er jetzt nicht gebrauchen. Über die alte hölzerne Zugbrücke erreichte er den Eingang. Er wusste, dass dort ein Bewegungsmelder angebracht war, mit dem ein lautloser Alarm ausgelöst würde. Sobald er den massiven Zaun aus Stahldraht überwunden hatte, musste er sich beeilen, denn in wenigen Minuten würden die ersten Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes auftauchen. Sein Weg führte ihn vorbei an der Zisterne und dem Burgfried im oberen Teil. Auf dieser Ebene befindet sich ein kleiner Raum, dessen Fensteröffnung nach Westen zeigt und durch ein Absperrgitter gesichert ist. Dort holte er eine Flasche Strohrum2 aus seinem Rucksack, nahm ein paar große Schlucke, rang nach Atem und schüttelte sich. Dann blickte er durch die alte Fensteröffnung an der Mauer hinunter. Mit dem, was er sah, war er zufrieden: An ihrem Fuß verläuft ein schmaler Streifen Gras, direkt dahinter befindet sich ein Geröllfeld mit scharfkantigen Steinen. Die Sprunghöhe entspricht ungefähr dem vierten Stock.
Während er immer wieder mit deutlichem Widerwillen große Schlucke Rum hinunterwürgte, las er noch einmal den Text durch, den er zu Hause auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. Schließlich setzte er das Datum und seinen Namen darunter und versuchte, das Blatt zu den anderen Papieren in eine Prospekthülle zu schieben. Das gelang ihm nicht sofort – er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und der Alkohol wirkte bereits. Nun steckte er die Plastikhülle zusammen mit seinem Ausweis in eine Innentasche seiner Jacke, nahm eine der dünnwandigen Glasflaschen aus dem Rucksack und stellte sie griffbereit auf die Umfassungsmauer. Nachdem er seine Jacke ausgezogen, sorgfältig zusammengefaltet und ebenfalls auf die Mauer gelegt hatte, schulterte er den Rucksack vor seiner Brust, öffnete den Reißverschluss ein bisschen und übergoss sich mit der bräunlichen Flüssigkeit aus der Flasche. Noch ein letzter Blick nach Westen, wo sich in der Weite ein wolkenverhangener Horizont erstreckte. Nach kurzem Zögern überwand er das Fenstergitter, riss ein Streichholz an und sprang mit einem Schrei als lebende Fackel ins Nichts. Beim Aufprall unten auf den Steinen zerbarsten die Glasbehälter in seinem Rucksack. Das Benzin darin tränkte seine Kleidung und spritzte in alle Richtungen. Der entstehende Feuerball und die damit verbundene Explosion waren so gewaltig, dass nicht nur die inzwischen eingetroffenen Sicherheitsleute aufmerksam wurden, sondern selbst die Partygäste im angrenzenden Wohngebiet Verdacht schöpften und Alarm schlugen. Aber der enorme Aufwand von Polizei und Feuerwehr kam zu spät: Dass das Feuer schnell gelöscht werden konnte, spielte keine Rolle mehr, der Mann war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der niedergehende Regen löschte die letzten Glutreste, der Rettungswagen fuhr ohne Blaulicht zurück, leer.