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Immerhin brachte ihn diese Situation auf die Idee, bei Cristina anzurufen. Seit einiger Zeit lebten sie eine Freundschaft plus, was beide als sehr angenehm empfanden. Sie war eine Kollegin, die sich auf Italien spezialisiert hatte. Zu seiner Überraschung war sie zu Hause und hatte Zeit und Lust, ihn zu sehen. Strickmann verbrachte die Nacht bei ihr und fand morgens Sara auf der Schwelle seiner Haustür, eingeschlafen. Auf den ersten Blick konnte er sehen, dass sie ein frisches T-Shirt angezogen und ihre Haare gewaschen hatte. Er schlich sich davon, um das Frühstück einzukaufen. Als er mit zwei vollen Papiertüten zurückkam, schlief sie zwar immer noch, wurde aber sofort wach, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Sie nahm ihm eine Tüte ab und war erstaunt, dass man durch die Haustür sofort in die Küche kam.

Strickmann wandte sich dem Frühstück zu:

"Was trinkst du morgens?"

Es brauchte nur ein paar Handgriffe. Er brühte mit seiner alten Cafetera Kaffee auf, Sara deckte den Tisch und packte die Lebensmittel aus. Als sie nichts mehr zu tun hatte, begann sie, das herumstehende schmutzige Geschirr abzuwaschen:

"Sag mal, hast du vorgestern nicht gesagt, du seist ziemlich müde?"

"Ja, hab' ich. Aber du hast mich auf eine Idee gebracht und ich hab's mir anders überlegt."

"Ach so."

Es klang enttäuscht.

"Kommst du frühstücken? Und wenn wir schon beim Fragen sind: Gestern Abend fiel mir deine Beobachtungsgabe auf. Wo hast du das denn gelernt?"

"Ich habe in verschiedenen Detekteien gearbeitet, da lernt man das zwangsläufig."

Strickmann goss Kaffee ein und forderte sie auf sich zu bedienen. Sara griff zu, vor allem der französische Käse und die Bananen hatten es ihr angetan. Aber sie hörte nicht auf zu erzählen:

"Meine Arbeit als Mechatronikerin hat mich bald gelangweilt, das ist ein seelenloses Geschäft. Ich bin dann bei den privaten Ermittlern eingestiegen, habe bei einer Security-Firma als Kaufhausdetektivin angefangen. Danach kamen die Aufträge eifersüchtiger Ehefrauen. Das war hart, ich weiß nicht, wie viele Stunden ich in PKW oder hinter Bäumen gewartet habe. Da wird man leicht zur Kettenraucherin. Immerhin habe ich dabei gelernt, mit Kameras umzugehen, habe auch an internen Schulungen teilgenommen.

"Und die Bezahlung, war die o.k.?"

"Das weiß ich nicht mehr, das hat mich damals nicht sehr interessiert. Hauptsache, ich konnte etwas lernen und Praxis bekommen. So richtig spannend wurde es, als die Grundlagen vermittelt wurden: Abhören, Fahrzeuge verfolgen oder Personen ermitteln.

Am meisten interessierte mich alles, was mit Elektronik zu tun hatte."

"Auch Schlösser öffnen, schießen, juristische Grundlagen?"

"Schießen nicht – wie du weißt, tragen Privatdetektive keine Waffen. Zum Schluss kam schließlich das Organisatorische, da arbeitete ich in der Zentrale. Auch dabei habe ich viel gelernt, vor allem zu koordinieren und vom Ganzen her zu denken. Aber das spielt jetzt alles keine Rolle mehr, diese Zeiten sind vorbei. Warum hast du eigentlich die letzte Nacht mit jemand anderem verbracht?"

"Dir ging es im Nellie nicht besonders gut und du hast dich auf ein Gespräch mit mir eingelassen. Da geht es doch nicht, dass ich die Nähe ausnutze, die dadurch entsteht. Was, wenn du dich heute Morgen schlecht gefühlt hättest deswegen?"

"Und was, wenn ich mich jetzt schlecht fühlen würde gerade deswegen? Kann man nur Sex haben, wenn es einem gut geht? Nicht zum Trost, nicht um zu fühlen, dass da noch jemand ist?"

"Doch, natürlich. Aber ich finde, dafür muss man gut aufeinander eingespielt sein."

Damit änderte sich die Atmosphäre. Sara empfand Strickmanns Äußerung als abgrenzend und beschloss sich zu verabschieden:

"Ist es in Ordnung, wenn ich beim Abräumen nicht helfe?"

"Natürlich, du warst mein Gast. Gehst du nachher zu deiner Ex-Schwiegermutter?"

"Ich glaube ja. Ich will aber erst noch zu mir. Was machst du heute außer schlafen?"

"Ich muss noch etwas in Basel erledigen. Und meine nächsten Fahrten organisieren."

"Denkst du an mich?"

"Ja, klar. Ich komme dann auf dich zu."

Bevor Strickmann sich gut ausgeschlafen nach Basel aufmachte, wollte er noch schnell den Film vom Untergang des Weidlings auf einen USB-Stick kopieren. Damit wäre sichergestellt, dass nichts verloren gehen würde. Aber er konnte sein Handy nirgends finden. Als er keine Idee mehr hatte, wo er suchen könnte, rief er Cristina an in der Hoffnung, es bei ihr vergessen zu haben. Aber sie war schon wieder Richtung Italien unterwegs und konnte ihm deswegen nicht helfen. Er hinterließ ihr eine kurze Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, würde sich aber ein oder zwei Tage gedulden müssen, bis sie zurück war.

Er fuhr trotzdem nach Basel, wollte die Strömungsgeschwindigkeit des Flusses messen und nach einem leeren Bootliegeplatz suchen. Diese Weidlinge bestehen aus Bohlen, die an Heck und Bug nach oben gezogen und durch Spanten verstärkt werden. Früher wurden sie von Fischern benutzt um die Netze auszubringen. Ihre Vorwärtsbewegung geschieht durch Stakstangen, mit denen sich die Pontoniere5 vom Boden abstoßen, oder mit Hilfe von Stehpaddeln.

Unterwegs überlegte er, ob er eine Expressfahrt annehmen sollte. Eine Spedition wollte Frachtpapiere im Original nach Lyon schicken, er wäre schon am nächsten Vormittag wieder zurück. Aber er entschied sich dagegen, weil er wusste, dass die Fahrer auf der ganzen Welt genau mit diesem Mechanismus ihren Schlaf-wach-Rhythmus ruinierten: Immer noch eine Kleinigkeit obendrauf, immer noch einmal den Schlaf hinauszögern, zur Not immer noch einmal eine Hallo Wach einwerfen. Wenn sein Kunde auf der sofortigen Abfahrt bestand, musste er sich eben einen anderen Kurierdienst suchen. Andernfalls konnte er am nächsten Morgen losfahren. Das Büro der Spedition in Lyon war schon sehr früh besetzt, er konnte also bei Tagesanbruch starten und abends wieder zurück sein. Der Kunde war nicht erfreut über die Verzögerung, beauftragte ihn aber trotzdem mit der Fahrt.

In Lyon gab er die Frachtpapiere ab und fuhr sofort wieder los. Dieses Mal hatte er keine Lust, sich nach Erledigung des Auftrages noch in der Stadt herumzutreiben, obwohl er dort einen Brocante-Laden mit vielen Karaffen kannte. Während der Rückfahrt rief ihn Tina an: Sie konnte sein Handy nicht finden, er würde sich noch etwas gedulden müssen. Strickmann war ratlos: Wo sonst könnte er sein Handy verloren haben? Er würde noch einmal seine Wohnung absuchen müssen.

Zu Hause fand er einen Anruf von Sara vor: Sie wollte ihn sprechen, es sei dringend. Da er fand, dass er ihr einen Rückruf schuldig war, rief er bei ihr an, würde sich aber zu nichts drängen lassen. Er verabredete sich mit ihr zu einem späten Frühstück am nächsten Tag in der Coffee Bar am Hebelpark. Sie war schon wieder enttäuscht.

Ihm gefiel die Vorstellung, eine ganze Nacht für sich zu haben, ein ausgedehntes Bad nehmen, im eigenen Bett liegen und durchschlafen zu können.

Am nächsten Morgen wachte er gerade noch rechtzeitig auf, um zum Frühstück mit Sara nicht zu spät zu kommen. Als er etwas außer Atem an der Coffee Bar ankam, war sie noch nicht da. Er ging ein paar Schritte durch den Hebelpark und ließ die Atmosphäre des Ortes auf sich wirken: das hellgrüne Gras mit dem gelben Klee, die mächtigen Bäume, Platanen und Linden, und den Taubenschlag. Obwohl er auf seinem Weg in die Innenstadt an diesem Ort jahrelang vorbeigekommen war, entdeckte er viele Dinge erst jetzt. Er hätte geschworen, dass der Taubenschlag vor zwei Wochen noch nicht an seinem Platz gestanden hatte, dass der ganze Park noch nicht auf einer Ebene gelegen hatte mit dem Bürgerssteig und dem Café, dass er nicht so offen war. Jetzt gab es ein kreisrundes Wackelbrett auf sechs dicken Stahlfedern und ein Mini-Trampolin für die ganz Kleinen. Eine schlanke Mutter mit langem, glattem Haar und eine braune mit einer schwarzen Angela Davis-Frisur waren in ein Gespräch vertieft, lachten immer wieder und warfen ab und zu einen Blick auf ihre Kleinen, die gedankenverloren miteinander auf dem Trampolin herumhopsten.

Strickmann ging zur Mitte der Wiese, setzte sich in einen der Liegestühle und betrachtete Hebels lebensgroße Statue, die 1910 aufgestellt wurde und deren Bronze eine beträchtliche Patina auf

weist. Der selbstbewusste Mann steht fest auf dem Boden und strotzt vor Kraft, was durch seine aufrechte Körperhaltung und einen Wanderstock ausgedrückt wird, der erst jüngst zurechtgeschnitten scheint. Sein linker Daumen hängt lässig an der Hosentasche, über seinem rechten Arm trägt er einen Mantel. Die Tafeln auf dem Sandsteinsockel sind voller Symbole aus seiner alemannischen Heimat: eine Hacke als Werkzeug, Hörnerkappen als Teil der Frauentracht und ein alter Mann in einer Wirtschaft, ein Weinglas in der Hand.

Gekrönt wird das Ganze von einem Spruch Scheffels, der Assoziationen an den blinden Sänger aus der griechischen Antike weckt:

S'isch kein meh cho,

der g'sunge het wie du …

Nach allem, was Strickmann wusste, war dieser Johann Peter Hebel eine seltsame Figur: Er war unbestritten der bedeutendste Autor, der im alemannischen Dialekt geschrieben und ihn dadurch literaturfähig gemacht hatte. Gleichzeitig Karriere als protestantischer Geistlicher. 1760 in Basel geboren, lebte er im Markgräflerland und starb 1826 an Darmkrebs in Schwetzingen. Seine kurzen Geschichten waren so detailliert und lebendig, dass sogar Bertold Brecht sie analysierte. Er wollte herausfinden, worauf ihre Wirkung beruhte. Gleichzeitig erreichten sie eine Tiefe, die man bei vielen Autoren vergeblich sucht. Dies galt vor allem für seine beiden Texte Kannitverstan und Die Vergänglichkeit, für die er auf die hochdeutsche Sprache zurückgegriffen hatte. Intime Beziehungen von ihm sind nicht bekannt, kein Wunder litt er gegen Ende seines Lebens an Altersdepression. Mit der Entscheidung, seine Themen aus dem bäuerlichen Lebensraum zu wählen und Alemannisch zu schreiben, schränkte er seine Wirkung sowohl zeitlich als auch örtlich erheblich ein.

Als Sara ankam, war sie gut gelaunt, hatte ihren ruinierten Nagellack entfernt und ein paar Ideen mitgebracht, was sie an diesem angebrochenen Sonntag unternehmen könnten. Strickmann dachte zum ersten Mal daran, dass sie vielleicht auf der Pirsch war, aber ihm war das zu eng. Außerdem hätte er nicht gedacht, dass sie sich nach ihren Nackenschlägen emotional so schnell stabilisieren würde. War seine Anwesenheit der Grund, gehörte sie zu den Frauen, die nicht allein sein konnten?

So war er ganz zufrieden, als sie plötzlich ernst wurde und vom Besuch bei Margret Hausler erzählte, ihrer Ex-Schwiegermutter in spe. Ihre Geschichte war etwas wirr, sie hüpfte von Punkt zu Punkt und hatte offensichtlich keine Vorstellung von einem Gesprächsziel oder davon, welche Aspekte wichtiger waren als andere. Frau Hausler hatte einen Marmorkuchen gebacken, die beiden Frauen miteinander Kaffee getrunken.

Sara ging es wohl vor allem darum, dass Margret sich besser fühlen konnte. Der Anfang des Gesprächs war sehr schwierig, Margret konnte zuerst überhaupt nicht sprechen, weinte einfach still vor sich hin. Dann redete sie über ihren Sohn. Sein Suizid war ein furchtbarer Verlust für sie, ohne dass klar wurde, worin ihre Berührungspunkte bestanden, ob sie in einer gemeinsamen Wohnung nur nebeneinanderher gelebt hatten oder ob allein schon seine Anwesenheit für die Mutter wichtig gewesen war. Strickmann bekam den Eindruck, dass es vor allem um Margrets Selbstbild ging, das nun als falsch entlarvt war: Ihrem Kind war es nicht gut ergangen, es hatte kein schönes Leben gehabt. Bis vor Kurzem hatte sie sich in diesem Punkt noch etwas vormachen können: Er ist anständig, gesund, nimmt keine Drogen. Sein Beruf als Autoverkäufer ernährte seinen Mann, eines Tages würde er sein eigenes Geschäft aufmachen und ein Autohaus führen, er würde jemand sein in Weil. Und auf ihn war Verlass, mit ihm konnten seine Freunde Geschäfte per Handschlag machen. Aber jetzt war das nicht mehr möglich, diese Gedanken waren nun als Lebenslügen entlarvt. Dann sprach sie über sich: Ihre Ehe war ein Fiasko, ihr Mann eines Tages einfach gegangen. Sara war sich nicht sicher, ob sich da eine verlassene Ehefrau selbst bemitleidete oder ob da noch Gefühle waren. Die ältere Tochter Nicole hatte ihr Elternhaus mit 17 verlassen und lebte nach allem, was sie von ihr wusste, auf der Straße. Irgendwann hatte Margret angefangen, im Alkohol Trost zu finden. Jetzt war sie nicht mehr in der Lage, große Entscheidungen zu treffen, lebte schon lange ein passives Leben. Veränderungen hatte es nur durch das Fernsehprogramm gegeben und die monatlichen Hartz IV-Überweisungen. Genau genommen schaute sie auf ungelebte zehn Jahre zurück. Konkret befürchtete sie, dass das Sozialamt sie nach dem Tod ihres Sohnes zwingen könnte, ihre Dreizimmerwohnung aufzugeben – für sie eine Horrorvorstellung. Wie sollte sie einen Umzug bewältigen, geschweige denn bezahlen? In dieser Situation erinnerte sie sich an Nicole, die sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nur ganz sporadisch bekam sie Hinweise von Bekannten, die ihr angeblich irgendwo begegnet waren, manchmal auch an verschiedenen Orten gleichzeitig. Sie wagte es kaum auszusprechen, aber Kontakt zu ihr, das wäre schon etwas, daran könnte sie sich festhalten. Sara kam mit Margrets Art zu erzählen nur schlecht zurecht. Sie wurde immer wieder von Tränen unterbrochen und versteckte sich hinter Formulierungen wie vielleicht…, könnte man nicht … oder irgendwie … Sie als Person kam in dieser Geschichte nicht vor – Sara gewann zunehmend den Eindruck, wie wenn Margret keinerlei eigene Existenzberechtigung empfände. Am Ende des Gesprächs bedankte sie sich überschwänglich, sie habe darüber noch nie so ausführlich reden können, weil es einfach niemanden gegeben habe, der ihr habe zuhören wollen.

Sara nahm Anteil an Margrets Schmerz – das war schon allein daran zu erkennen, dass Margret so viel und so lange erzählte. Aber Sara hütete sich, ihr Hoffnungen oder gar irgendwelche Versprechungen zu machen. Das erwies sich als klug, denn gegen Ende des Gesprächs begann Margret zu spekulieren, wie wohl alles gekommen wäre, wenn Ernst noch lebte: Alle Probleme hätten sich im Handumdrehen lösen lassen oder wären erst gar nicht entstanden. Auch die Verabschiedung sei schwierig gewesen. Margret hatte das Gefühl, Sara würde sie im Stich lassen und wollte deshalb das Gespräch überhaupt nicht beenden. Sie bekam erst wieder etwas Boden unter die Füße, als sie begriff, dass Sara über das Gehörte nachdenken und sich bei ihren ehemaligen Kollegen umhören wollte, was denn in einer solchen Situation zu tun sei.

Strickmann war in dieser Situation sehr direkt:

"Und jetzt fragst du mich?"

Sie wurde verlegen, fühlte sich ertappt. Zögernd antwortete sie:

"Ja, jetzt frage ich dich."

"Ich möchte dir die Antwort schuldig bleiben, möchte erst dar über schlafen. Wenn ich soweit bin, melde ich mich."

Sara verabschiedete sich, wollte noch eine Freundin besuchen. Strickmann sträubte sich, dieses Problem überhaupt an sich heranzulassen. Es führt zu nichts, wenn man sich die Probleme der ganzen Welt auf die eigene Schulter lädt. Er genoss die Sonne, den Milchkaffee und das französische croissant. Als er darüber nachdachte, was ihm an dieser Situation das Wichtigste war, fiel ihm sofort eine Antwort ein: nicht losfahren zu müssen, sich zu keiner Fahrt verpflichtet zu haben. Der ganze Tag gehörte ihm, er konnte ihn vertrödeln, konnte in den Lesesaal der Uni gehen, konnte machen, wozu immer er Lust hatte. Beginnen würde er wohl mit dem Vakuum in seinem Kühlschrank, er hatte nicht einmal mehr Milch im Haus. Gleich hinter der Schweizer Grenze gab es in Riehen einen Supermarkt, der auch sonn- und feiertags geöffnet hatte – ein Segen für jemanden wie ihn. Von dort wäre es nur noch ein Katzensprung bis zur Fondation Beyeler6, wo er schon länger nicht mehr gewesen war.

Zu Hause wartete ein interessanter Auftrag auf ihn. Schon allein die Tatsache, dass in einer Weinhandlung jemand am Sonntag arbeitete, war außergewöhnlich. Durch einen Rückruf erfuhr er, dass ein Großhändler in Freiburg bis Mittwoch früh eine Weinprobe aus Saint Émilion bei Bordeaux benötigte. Strickmann hatte den Eindruck, dass eine Lieferung fehlgeleitet worden war und sich jetzt ein paar Flaschen Wein in einem Zug nach Moskau oder sonst wohin befanden. Er vereinbarte den üblichen Preis, allerdings mit einer hohen Erfolgsprämie. Nachdem er die Verkehrsverbindungen recherchiert hatte, übernahm er den Auftrag und buchte einen Flug.

Es blieben ihm noch gut drei Stunden bis zum Check-in am Flughafen Basel-Mulhouse. Bisher hatte er alle Fahrten per Auto oder Motorrad erledigt, es war das erste Mal, dass er dazu einen Flieger benutzen würde. Er hatte auch noch nie etwas abgeholt.

Für ihn war es selbstverständlich, dass es etwas wegzubringen galt. Und dass diese Weinhandlung ausgerechnet ihn angerufen hatte, war natürlich ein Indiz für die Qualität seiner Arbeit: Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit – so langsam sprach sich das wohl herum. Es gab ihm ein gutes Gefühl, obwohl er genau wusste, dass diese Wein-Sekretärin sich genauso gut nur durch die Gelben Seiten telefoniert haben konnte ohne die geringste Ahnung, mit wem sie da in Kontakt trat.

Er rief Sara an, fragte, ob sie mitkommen wolle. Nach einer solchen Tour würde er viel mehr über sie wissen: Was sie unter ein bisschen Französisch verstand, ob sie sich in einer fremden Großstadt wie Bordeaux orientieren, wie gut sie selbstständig agieren konnte. Das wären harte Informationen, wie sie durch kein noch so intensives Gespräch zu erhalten gewesen wären. Sie war gleichzeitig überrascht und erfreut, begriff sofort, was für eine Chance sich ihr da bot. Nachdem er ihr die Einzelheiten erklärt hatte, stutzte sie:

"Du willst auf dem Rückweg ein paar Flaschen Wein in den Flieger mitnehmen?"

"Ja. Jeder drei Flaschen – das geht sogar noch als Handgepäck."

"Und was sagt die Security dazu?"

Daran hatte er nicht gedacht:

"Ich kläre das. Zur Not fahren wir mit dem Zug zurück."

Sie trafen sich am Schweizer Bahnhof in Basel, Sara trug Jeans, die nicht zerschlissen waren. Von Strickmanns Vorschlag, im Flieger das Gespräch mit Margret zu analysieren, hielt sie allerdings nicht viel. Sie war schon lange nicht mehr geflogen, wollte deshalb lieber die Abläufe auf dem Flughafen bewusst registrieren und die Situation im Flugzeug genießen. Auf dem Rückflug wäre immer noch genug Zeit dafür.

In Bordeaux kaufte sie noch am Flughafen einen Stadtplan. Strickmann kannte sich nicht aus oder tat zumindest so:

"Weißt du, wo das ist, dieses Saint Émilion?"

"Nein. Du hast gesagt, ich könne mitgehen. Das ist doch etwas anderes als selbstständig eine Fahrt zu unternehmen. Außerdem habe ich nicht mehr viel Zeit gehabt."

Er gab ihr einen Zettel mit der Adresse:

"Es ist ein legendäres Weindorf aus dem 8. Jahrhundert, hat 2.000 Einwohner und liegt ungefähr 40 Kilometer östlich der Stadt. Mehr weiß ich auch nicht, ich war noch nie da."

Am Weingut wartete wie telefonisch vereinbart ein Mitarbeiter auf sie und präsentierte ihnen stolz die Weinprobe, in einer Holzkiste stoßsicher verpackt. Es war für Sara etwas mühsam, bis er verstanden hatte, dass die Flaschen unverpackt sein sollten, weil sie sie als Handgepäck in das Flugzeug mitnehmen wollten. Wahrscheinlich hatte der Mann sie selbst vorbereitet, denn jeder einzelne Nagel, den er wieder entfernen musste, tat ihm sichtlich weh. Als er sah, wie sie die Flaschen nachlässig in Plastiktüten verstaute, wurde er nervös und bat um einen Moment Geduld, er wolle schnell einen film à bulles holen.

"Was soll das denn sein, ein Bullenfilm?"

"Nur Geduld. Auf Deutsch heißt das Noppenfolie. Er nimmt seine Arbeit wichtig."

Als er endlich zurück war, brachte er eine ganze Rolle mit und fühlte sich zu einer Erklärung verpflichtet:

"Jede dieser Flaschen kostet mehr als 1.000 Euro. Da wäre es nicht gut, wenn unterwegs eine beschädigt würde."

Sara war beeindruckt und zeigte das auch ganz offen. Die Verabschiedung war dann auch eine ziemlich fröhliche Angelegenheit, bei der Sara mehrmals beteuerte, dass es nun genau so sei, wie sie es für den Transport benötigten. Um ein Haar hätte sie vergessen, den Empfang der Warenprobe zu quittieren.

Sie beschlossen, sofort zum Flughafen zurückzufahren, obwohl es noch über fünf Stunden waren bis zum Check-in. So würde ihnen genügend Zeit bleiben, in Ruhe etwas zu essen, sich mit der Security auseinanderzusetzen oder sogar noch in ein Hotel zu gehen und etwas zu schlafen.

Nachdem sich die Beamten an der Sicherheitskontrolle die Verschlüsse der Weinflaschen genau angesehen hatten, erhielt Sara von einem von ihnen einen Hinweis darauf, welcher der sechs Weine der beste sei und sie konnten anstandslos passieren. Im Restaurant übersetzte ihr Strickmann ein paar Gerichte auf der Speisekarte und entschied sich für eine Scheibe tête de veau7. Sie verzog das Gesicht, meinte, das sei nicht gerade das, was sie gewohnt sei, und blieb bei dem, was sie kannte: Steak mit pommes frites und Salat. Danach war noch Zeit für eine Analyse von Saras Gespräch mit Margret:

"Wie siehst du denn ihre Situation?"

"Sie ist eine gebrochene Frau, hat nun mit ihrem Sohn ihren Lebensinhalt verloren. Wofür soll sie jetzt leben? Deswegen taucht an ihrem Horizont nun ihre Tochter auf, für die sie sich bisher nicht interessiert hat. Es ist der Versuch, ihre bisherigen Lebensumstände beizubehalten, indem sie einfach ihren Sohn durch ihre Tochter ersetzt."

"Was war denn dein Ziel in diesem Gespräch?"

"Mein Ziel? Ich wollte wissen, wie es ihr geht, sie ein bisschen aufmuntern, indem ich sie besuche."

"Ich finde, das ist eine typisch weibliche Herangehensweise und ich finde das nicht schlecht."

"Weiblich? Was soll denn daran weiblich sein?"

"Wie ich dich verstanden habe, ging es dir um das Befinden von Margret, du wolltest, dass es ihr besser geht."

"Natürlich. Was denn sonst?"

"Der sachliche Aspekt fehlt. Margret hat als Ziel formuliert, dass sie ihre Tochter zurückhaben will. Wenn man dieses Ziel akzeptiert, könnte man fragen, wie das denn erreicht werden kann. Warum ist Nicole damals auf Trebe gegangen, wo lebt sie jetzt, wie könnte man sie ausfindig machen?"

"Das klingt aber nicht gerade einfach."

"Da hast du natürlich recht. Aber darauf kommt es nicht an."

"Worauf kommt es denn an?"

"Auf die richtigen Fragen – sie müssen zum Ziel führen. Wenn die Antworten zu schwierig sind, geht es eben nicht."

"Warum sollte man Margrets Standpunkt nicht akzeptieren?"

"Zum einen macht sie sich damit völlig abhängig von ihrer Tochter. Es liegt nicht in ihrer Macht, ob Nicole zu ihr zurückkommt – eine fast dreißigjährige Frau! Irgendwann fangen Kinder eben an, ihr eigenes Leben zu leben. Aus deinem Bericht habe ich den Eindruck gewonnen, dass Margret die typische Mutterrolle gespielt, sich für ihre Familie aufgeopfert hat und jetzt, da keiner sie mehr braucht, keinen Sinn mehr sieht in ihrem Leben. Ich habe nur eine große Leere wahrgenommen. Zum anderen übersieht sie, was sie selbst tun kann. Eine Alkoholikerin könnte zum Beispiel eine Entziehungskur machen, sich professionelle Hilfe holen, wieder anfangen, ein eigenes Leben zu leben. Aber dazu müsste sie sich natürlich ihren Problemen stellen und die größeren Zusammenhänge sehen."

Sara schwieg betroffen, meinte dann vorsichtig:

"Und das alles hätte ich mir vorher überlegen sollen?"

"Vielleicht. Auf den ersten Blick sieht es jedenfalls so aus, dass ich an Deiner Stelle diese emotionale Ebene extrem vernachlässigt hätte. Wenn das Gespräch mit Margret weitergehen kann, liegt das sicherlich daran, dass du sie emotional stabilisiert hast, dass sie Vertrauen gefasst hat zu dir."

"Das ist doch nicht schlecht, oder?"

"Natürlich ist das nicht schlecht. Ich will dich keineswegs kritisieren, will dir nur sagen, dass die sachlichen Aspekte auch wichtig sind, nicht nur die emotionalen. Zunächst einmal sieht es so aus, wie wenn wir uns perfekt ergänzten. Wir müssen nur darauf achten, dass wir beide Aspekte beachten. Und dann hoffe ich natürlich, dass solche Gespräche wie das hier dazu führen, dass ich in Zukunft auch an die emotionale Seite denke."

"Und ich an die sachliche?"

"Wäre schön, ja."

Wieder entstand eine Gesprächspause, die schließlich von Sara beendet wurde:

"Ich dachte, du wolltest mich als Kurierfahrerin haben."

"Das will ich auch. Aber du hast so viel Erfahrung als Ermittlerin, wer weiß, was da noch alles möglich ist. Und über deine selbstverständlichen Kompetenzen haben wir ja noch gar nicht gesprochen."

"Als da wären?"

Sie lächelte spitzbübisch, wollte die positiven Aspekte von ihm hören und wusste, dass er das auch wusste.

"Ich war zunächst einmal mit mir beschäftigt. Es war nicht so einfach mich zurückzuhalten, denn ich wollte dir ja keine indirekten Hinweise geben: nicht automatisch eine Richtung einschlagen, kein Ziel aussprechen, dein Zögern aushalten. Da habe ich wahrscheinlich nicht bemerkt, was du alles kannst. Aber es bleibt auch so noch genug übrig: dein schneller Aufbruch; der bewusste Lernprozess, in den du dich auf dem Flughafen begeben hast; deine Gelassenheit in der fremden Großstadt; deine kommunikativen Fähigkeiten auf Französisch – ich habe kein einziges Mal eingreifen müssen, war lediglich nur das Netz, das dich zur Not aufgefangen hätte. Aber es war keine Not. Reicht das?"

"Es klingt auf jeden Fall nicht schlecht für den Anfang."

"Ist es auch nicht. Dann lassen wir das jetzt. Ich würde gerne zu unserem Gate gehen und dort noch ein bisschen herumsitzen. Du kannst dir gern noch ein Hotelzimmer suchen."

"Kommst du mit?"

Dabei beobachtete sie seine Mimik genau. Strickmann ahnte so etwas und vermied bewusst den Blickkontakt mit ihr:

"Möchte ich eigentlich nicht, ist mir jetzt zu viel Aufwand."

In der Wartezone vor dem Gate waren kaum Leute. Sara legte sich auf die erste Sitzreihe, band sich eine blaue Schlafmaske über die Augen und legte den Kopf auf Strickmanns Schenkel. Nach wenigen Atemzügen war sie eingeschlafen.

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