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1 Beat Bottmer

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Rolf Obergfell

Im Dreiländereck (2):

Karrieren

Roman


Vorwort

Die Fertigstellung dieses zweiten Berichtes aus dem Leben von Wolf Strickmann hat sehr viel länger gedauert als ursprünglich erwartet. Eigentlich hatte ich gedacht, dass eine gewisse Erfahrung dazu beitragen würde, den roten Faden der Geschichte ohne große Probleme finden und die verschiedenen Handlungsstränge schnell miteinander verknüpfen zu können. Aber so war es leider nicht. Es waren zeitraubende Recherchen an verschiedenen Schauplätzen notwendig und es galt, die charakterlichen Aspekte der einzelnen Personen akribisch auszuleuchten. Dazu kam eine persönliche Krise, weil mein ganzes Leben streckenweise nur noch aus Wolf Strickmann bestand und er meine freie Zeit, meine Träume, meine Gedanken und meine Gefühle völlig besetzt hielt. Darunter litt nicht zuletzt auch die Beziehung zu meiner Partnerin sehr. Die notwendige Distanz war nur dadurch wiederzugewinnen, dass ich die Aufarbeitung des vorhandenen Archivmaterials ruhen ließ und mich einige Zeit ausschließlich um mich selbst und die Personen in meinem Leben kümmerte.

Mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden und es wird keinen Weg zurück geben zu einem exzessiven Schreiben wie in den Jahren zuvor. Ich will die Zeit ohne Schreibtisch dazu nutzen, um mich in Ruhe in die Details einzufühlen und dadurch meinen Figuren gerecht zu werden. Ich hoffe, dadurch wieder ein eigenes Leben führen zu können.


Das Jahresende war für Wolf Strickmann schon immer eine schwierige Zeit gewesen, aber dieses Mal war es besonders hart. Wohin er auch schaute, seine Gegenwart versank im Alltagstrott und am Horizont zeichnete sich nur die übliche Routine ab. Es gab nichts, auf das er sich freuen konnte, wenn er morgens aufstand, und nichts, das ihn abends mit einem guten Gefühl zu Bett gehen ließ. Er lebte einfach so vor sich hin. Es gab kein besonderes Ereignis, das bevorstand, und kein Ziel, an dem er sich hätte orientieren können.

Die Kurieraufträge, die er annahm, stellten keine echte Herausforderung mehr dar. Er spulte sie ab nach seinem bewährten Schema, transportierte Gemälde, Fotonegative oder Urkunden vor allem nach Frankreich und trieb sich noch ein oder zwei Tage in Marseille, Lyon oder Paris herum. Sicher, er lernte diese Städte kennen. Aber er war während seiner Fahrten allein und wenn man seine Gefühle nicht mit jemandem teilen kann, erscheinen auf die Dauer auch die besten Museen öde und die interessantesten Szenekneipen steril. Er hatte keine Lust auf flüchtige Frauenbekanntschaften und auf der Canebière oder den Champs-Elysées kann man sehr einsam sein.

Auch zu Hause hatte er nur selten das Bedürfnis, jemanden zu sehen. Interessante Leute kannte er nur noch wenige, seine sozialen Kontakte hatten in der letzten Zeit wegen der vielen Kurierfahrten noch weiter abgenommen – er war ja nie da.

Außerdem gab es nicht viele Anlässe, auf andere zuzugehen. Er hielt sich viel in seiner Wohnung auf und verließ sie nur, um eine Runde zu joggen oder zu schwimmen. Außerdem waren da noch seine Einkäufe im Supermarkt und die regelmäßigen Gänge in die Stadtbibliothek. Für ihn war das ein Ausgleich zu den vielen Fahrten.

Solche Probleme hatte Beat Bottmer nicht. Aufgewachsen in einem Dorf im Appenzell war er noch einer von den Burschen gewesen, die den Weg zur Schule auf Skiern zurückgelegt hatten. Er liebte die Berge und Kälte und Schnee waren für ihn so selbstverständlich wie das Eis auf dem Matterhorn. Es tat ihm weh, wenn Städter oder Ausländer geringschätzig vom Heidiland sprachen und damit so taten, als ob es nur die hoffnungslos rückständigen Landesteile gäbe und gelesen hatte das Buch von denen sowieso keiner. Im Gegensatz zu diesen modernen Banausen hatte Johanna Spyri immerhin gewusst, wovon sie redete, die Verkaufszahlen ihres Buches sind in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz bis heute unübertroffen. Über Weihnachten und Neujahr war er wieder dagewesen im Heidiland, Skifahren in Davos. Er hatte diesen Urlaub genossen. Die Schneelage war hervorragend und das Wetter sonnig, es hätte nicht besser sein können. Das Hotel, in dem er dieses Mal logierte, war ohne Fehl und Tadel, und um diese Jahreszeit war der internationale Jetset anwesend, da war nichts von wegen ländlicher Idylle. Das Haus erhielt dadurch ein exklusives Flair, wie er es sonst nur noch an der Côte d'Azur kennen gelernt hatte. Er wollte sich ein komplettes Wellness-Programm gönnen, es gab einen Swimmingpool mit Fitnessraum, Sauna und Bräunungsstudio – man konnte dort keineswegs nur Ski fahren. Dieses Mal war er auch um die Ecke in die Tennishalle gegangen und hatte ein paar Stunden genommen. Jetzt überlegte er sich ernsthaft, ob er nicht anfangen sollte, Tennis zu spielen. Das war aber keineswegs die einzige Veränderung, die es gegeben hatte. Es gab auch einen neuen Küchenchef. Er kam aus einem renommierten Hotel in Lyon, der Stadt von Paul Bocuse, und hatte zwei Michelin-Sterne mitgebracht. Seitdem, so sagten die Stammgäste, war das Essen noch eine Spur exquisiter geworden. Sein Einstand war das Weihnachtsmenü gewesen und er hatte alle Register gezogen. Es war ein voller Erfolg, er hatte von allen Seiten viel Anerkennung bekommen und jetzt musste man hier noch mehr aufpassen, dass man nicht zunahm. Der Höhepunkt war dann die Silvesterparty.

Seine Ehe war in einer tiefen Krise, aber nun ja, so etwas kam eben vor. Vielleicht war sie sogar schon vorbei, obwohl er seiner Frau zu Weihnachten einen teuren Diamantring geschenkt hatte. Es hatte sich angefühlt, als ob sie sich darüber gar nicht richtig gefreut hätte. Sie fühlte sich in seiner Welt einfach nicht wohl. Wahrscheinlich war es doch ein Fehler gewesen, eine Sozialpädagogin zu heiraten, dazu noch eine deutsche. Sie arbeitete als Leiterin in einem Kindergarten und engagierte sich sehr für die Kinder aus der Unterschicht. Die PISA-Studie, die in Deutschland große Defizite in der Vorschulerziehung zu Tage gefördert hatte, kam ihr gerade recht. Sie hatte getobt, als sie den eindeutigen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem schlechten Schulerfolg zur Kenntnis genommen hatte und gebrüllt, sie würde sich nie damit abfinden. Sie übertrug die Ergebnisse auf die Schweiz – warum soll man nicht von den Fehlern der anderen lernen? Danach hatte sie ihren Kindergarten vollständig umgekrempelt und vermittelte den Kleinen seit Neuestem systematisch Inhalte. Sie wollte auch nicht warten, bis in der Schweiz Hochdeutsch für die Lehrkräfte offiziell verpflichtend werden würde. Es lag doch auf der Hand, dass die Kinder mit der Standardsprache in ihrem Leben Vorteile haben würden. Bottmer schlug innerlich immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen: Seine Frau überforderte ihre Mitarbeiterinnen und verunsicherte die Eltern der Kinder. Es gab Konflikte ohne Ende und kaum war einer beigelegt, entstand an einer anderen Stelle ein neuer. Die Erzieherinnen waren orientierungslos und hatten ihre Motivation verloren, zwei hatten bereits gekündigt. Jetzt auch noch Hochdeutsch zu reden mit den Kleinen, das war einfach zu viel. Sie konnten es ja selbst nicht richtig, kamen in Basel mit ihrem Baaseldytsch sehr gut zurecht. Er hatte ihr die Situation mit viel Geduld an Hand von Managementprinzipien erklärt, aber sie wollte nicht hören. Außerdem arbeitete sie in einer Aktionsgruppe mit anderen Leiterinnen. Von dort brachte sie ihre neuen Ideen mit und von diesen Frauen ließ sie sich sehr beeinflussen. Sie sah nur die Kinder und wollte für sie – zugegebenermaßen – das Beste.

Für sich selbst genügten ihr die Dinge, die sie sich von ihrem Gehalt kaufen konnte und wenn sie sah, welche Summen ihr Mann ausgab, wurde sie verlegen. Sie konnte weder seinen BMW schätzen, noch die gesellschaftlichen Anlässe, zu denen er sie anfangs mitgenommen hatte. Als Gastgeberin allerdings konnte sie glänzen, sie kannte das aus ihrem Elternhaus. Ihr Großvater war noch Bauer gewesen. Nach dem 2. Weltkrieg hatte er aber schnell begriffen, wie viel man auf dem Schwarzen Markt mit Medikamenten verdienen konnte und da er gegenüber von Basel auf deutschem Gebiet wohnte, saß er sozusagen an der Quelle. Er war fast jede Nacht unterwegs und kannte die Grenze wie kein anderer. Es gelang dem Zoll nie, ihn zu fassen, es gab keine knackenden Äste im Unterholz oder verräterische Glut von brennenden Zigaretten. Als sich nach dem Krieg die chemische Industrie Basels auf deutschem Gebiet vergrößern wollte, verkaufte er ein paar Äcker und verdiente damit ein Vermögen. Seitdem hatte er keinen Pflug mehr in der Hand gehabt und keine Kuh mehr gemolken. Mit diesem Grundkapital war er in das deutsche Wirtschaftswunder gestartet und hatte nebenbei an der Börse erfolgreich spekuliert. Das war damals keine große Sache, jeder konnte erfolgreich spekulieren, das Wirtschaftswunder lief ja auf vollen Touren. So war über zwei Generationen das Familienvermögen entstanden.

Er hatte keineswegs eine schlechte Partie gemacht mit dieser Frau, aber die Schuhe, in denen er ging, waren für sie einfach zu groß. Sie war das brave Frauchen geblieben, das sich für ihre Kinder engagierte. Bei ihr waren es nur nicht die eigenen, sondern die anderer Leute.

Deswegen hatte sie auch wenig Verständnis für ihn und seine berufliche Situation. Seine Eltern mussten sich das Geld für die Ausbildung ihrer Söhne am Mund absparen. Er wusste, was es hieß, abends hungrig zu Bett zu gehen und hatte begriffen, dass sich dieses Schicksal über eine erstklassige Ausbildung korrigieren ließ. Wenn seine Klassenkameraden auf Partys waren, saß er über seinen Büchern; wenn seine Verbindungsbrüder wieder einmal irgendwo bei einem sinnlosen Besäufnis waren, schlich er sich früh nach Hause und paukte noch für eine Klausur. Es war hart gewesen, aber seine Rechnung war aufgegangen: Nach dem Studium konnte er sich seinen Arbeitsplatz aus mehreren Top-Angeboten auswählen. Heute, mit 42, war er als Pharmazeut Stellvertretender Direktor bei HOSANTIS und auf dem Sprung zu einer großen internationalen Karriere. Trotzdem ging ihm alles viel zu langsam. Er sah sein Leben als Erfolgsgeschichte und war gerade damit beschäftigt, die besten Kapitel zu schreiben, die noch fehlten.

Nur eben, ihr abstruses Weltbild – sich derart zu engagieren für sozial benachteiligte Kinder! Die brauchte man doch gar nicht. Man konnte sich die Besten auswählen und der Rest war überflüssig. Schön, man war ja sozial, musste sie irgendwie durchfüttern. Aber doch nicht mit Kaviar und Champagner, dafür genügten doch Schwarzbrot und Obstsaft. Wer hatte denn ihm etwas geschenkt? Nein, nein, sie lebten in einer Leistungsgesellschaft und die, die Leistung brachten, waren oben und die anderen unten. Mit ihren Einstellungen war sie ihm absolut keine Stütze bei seiner Karriere.

Die Weihnachtsfeier im Hotel war etwas verkniffen geraten und sie war nach den Feiertagen alleine nach Hause gefahren. Da war eine Distanz zwischen ihnen, die einfach nicht mehr zu überbrücken war. Es stimmte ja, er hatte eine Geliebte gehabt, wenn er es auch nie zugegeben hatte. Aber das war schon eine Weile vorbei und dieses Opfer von ihm hatte keinerlei positive Auswirkungen auf ihre Beziehung gehabt. Seine Frau war von ihrer Ehe genauso frustriert wie er und deswegen klappte es auch nicht mehr im Bett. Wenn er nach Hause kam, würde er der Sache wohl ein Ende machen.

Zu seiner Überraschung war nach Weihnachten Isabelle Tschudy im Hotel aufgetaucht. Sie arbeitete auch bei HOSANTIS und vertrat im Vorstand das Personalwesen. Ihre Karriere war plötzlich in den Steilflug übergegangen, ohne dass das viele bemerkt hätten. Es sah so aus, als ob sie ihr Ressort im Griff hätte und soweit zu hören war, hatten ihre Beiträge in den Vorstandssitzungen Substanz.

Bei der obligatorischen Silvesterparty tanzte man miteinander, einigte sich auf ein privates Du. Es war Prominenz gekommen, es gab verschiedene Räume mit unterschiedlicher Musik, man hatte Spaß. Sie war alleine da. Plötzlich merkte er, dass sie nur noch mit ihm tanzte, obwohl bei seinen Tanzschritten oft Gefahr im Verzug war. Da ihm das zu eng wurde, suchte er sich von da an bewusst andere Tanzpartnerinnen, die auch alleine gekommen waren. Wenn er mit denen tanzte, konnte er die Probleme mit seiner Frau genauso gut vergessen wie mit Isabelle und es würde später am Arbeitsplatz keine Komplikationen geben. Und er wusste, wie man sich fühlte, wenn man an Silvester allein war, hatte es früher oft genug selbst erlebt. Keine dieser Single-Frauen würde alleine schlafen wollen in dieser Nacht. Als er aber einen Moment nicht aufpasste, war Isabelle wieder da und wollte die nächste Runde mit ihm tanzen. Er würde nachher den Raum wechseln, dorthin gehen, wo eine Rock'n Roll Band spielte und die jüngeren Semester Bewegungen machten, die mit Tanzen eigentlich nicht mehr viel zu tun hatten. Dorthin würde Isabelle nicht kommen.

Jetzt aber hatte sie ihn überrumpelt und er bemühte sich, diesen Foxtrott zu bewältigen, ohne zu oft neu ansetzen zu müssen. Sie war eine sehr gute Tänzerin, schien einfach über das Parkett zu fliegen und ihre Beine machten ihre Bewegungen wie von selstständig. Aber ihr ging es nicht ums Tanzen:

"Du weichst mir aus?"

"Kommt es dir so vor?"

"Ja. Und du beantwortest eine Frage mit einer Gegenfrage. Was ist los mit dir?"

"Ich möchte heute Nacht alleine ins Bett gehen, das ist alles."

"Warum das denn?"

"Meine Frau ist heute Nachmittag im Streit nach Hause gefahren. Ich fühle mich einfach nicht gut."

"Und was glaubst du, was deine Frau an Silvester zu Hause macht? Briefe schreiben oder fernsehen?"

"Das ist gut möglich, aber ich habe darüber nicht nachgedacht. Es interessiert mich eigentlich auch nicht."

"Schade."

An dieser Stelle machte das Orchester eine Pause. Bottmer begleitete Isabelle zu ihrem Platz, sie verabschiedete sich von ihm mit einem schüchternen Lächeln. Er fühlte sich erlöst, sowohl vom Tanzen als auch von diesem aufgedrängten intimen Gespräch. Scheinbar ziellos verließ er den Tanzsaal und ging einfach

der Musik nach, dorthin, wo härtere Rhythmen und wummernde Bässe herkamen. Mit etwas Geduld würde er schon etwas finden, das ihm die Nacht verkürzen würde, da war er sich sicher.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er erstaunt, ein langhaariges Dummchen neben sich zu finden und erst allmählich konnte er sich wieder erinnern. In ihrer rührenden Naivität hatte sie ihm beim Tanzen erzählt, dass sie über Silvester nach St. Moritz gekommen war, um sich einen Mann aus dem Jetset zu angeln und so war sie eben bei ihm im Bett gelandet. Obwohl sie Davos nicht von St. Moritz unterscheiden konnte, war sie ein schnuckeliges Kätzchen und fing an zu schnurren, kaum dass sie aufgewacht war. Er hatte Nachholbedarf und sie brauchte einen Schwanz, wenn auch nur als Eintrittskarte in die Kreise der Prominenten. So bearbeitete er sie noch einmal, bis sie genug hatte, und benutzte sie danach beim gemeinsamen Frühstück als Trophäe, sonnte sich in den heimlichen Blicken anderer Männer. Sonst wollte er nichts von ihr, sie war für ihn Frischfleisch mit zwei Hohlkörpern, einem, wo sich bei anderen Leuten das Gehirn befindet, und einem anderen zum Andocken.

Am folgenden Tag traf er Isabelle, als sie im Hotel einen Tee trank. Trotz des schlechten Wetters war sie bester Laune, kam endlich einmal dazu, sich den Zauberberg anzuschauen. Ob er nicht mitkommen wolle?

"Ein Zauberberg? In welchem Märchen kommt der vor?"

"Mensch, Der Zauberberg ist Weltliteratur."

"Worum geht es da?"

"Um ein Sanatorium für Tuberkulosepatienten unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg."

"Und das steht noch?"

"Es heißt heute Waldhotel und hat noch ein Zimmer so eingerichtet wie damals ein Patientenzimmer."

Bottmer überlegte einen Augenblick und bemerkte, dass angesichts des Regens und des heftigen Windes nicht viel zu unternehmen war. Und alleine würde er dort nie hingehen. Isabelle freute sich über seine Zusage.

Das frühere Lungensanatorium war ein beeindruckender Kasten von Hotel, hatte mit einem Krankenhaus nichts mehr zu tun. Das übriggebliebene Patientenzimmer war klein und hatte ein Fenster in der weiß lackierten Zimmertür. Überhaupt war alles weiß: das Holzbett, der Kleiderschrank, der Stuhl und der große Handtuchhalter am Waschbecken. Einzig zwei Sessel waren eine Ausnahme, sie waren braun bezogen. Die schweren Armaturen am Waschbecken waren im Jugendstil geformt.

Auf den ersten Blick machte es einen rigiden Eindruck, wahrscheinlich weil keinerlei persönliche Gegenstände vorhanden waren. Und doch hatten in solchen Zimmern viele Leben unter dramatischen Umständen geendet – Thomas Mann schildert das bis ins Detail. Denselben Eindruck machte der Speisesaal, von dem eine Reihe Fotos ausgestellt waren. Auffällig waren dabei der Kontrast zwischen Schwarz und Weiß und das Bemühen um Eleganz – ebonisiertes Holz und weiße Stofftischdecken.

Ein Gespräch mit Bottmer über die damalige Situation der Patienten war nicht möglich, er blockte seine Gefühle ab, machte lediglich ein paar abfällige Bemerkungen über den damaligen Stand der Medizin und wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Isabelle war frustriert, denn genau deshalb hatte sie ihn eingeladen mitzukommen, sie wollte mit diesen Gefühlen nicht allein sein. Ihr Versuch, zu Beat Bottmer eine emotionale Nähe herzustellen, war gescheitert.

Die folgenden Tage sah Bottmer Isabelle hin und wieder in einem Café oder auf der Piste, jedes Mal in Begleitung eines anderen Mannes. Beim Auschecken aus dem Hotel stellte sich heraus, dass sie gleichzeitig abreisten. Er glaubte nicht an einen Zufall und war von ihrer Hartnäckigkeit beeindruckt. Sie musste einigen Aufwand betrieben haben, um den Zeitpunkt seiner Abreise zu erfahren. Da die Heimfahrt allein nicht sehr lustig zu werden versprach, bot er ihr an, sie mitzunehmen. Sie war angenehm überrascht, als er ihr sagte, dass er zunächst mit dem Taxi nach Bad Ragaz fahren und von dort aus mit der eigenen Maschine nach Basel fliegen würde, nahm seine Einladung sofort an.

Die Fahrt zum Flugplatz war kurzweilig, sie verstanden sich gut, lachten viel und der anschließende Flug war beeindruckend. Sie war wohl noch nicht oft über die Alpen geflogen und schon gar nicht in einem so kleinen Floh wie diese Cessna. Wenn Bottmer in Eile war oder einfach nicht im Stau stehen wollte, griff er immer auf diesen Typ zurück, hatte darauf schon hunderte von Flugstunden absolviert und fühlte sich absolut sicher. Einzig der Wetterbericht war nicht optimal, sie würden streckenweise Wolkenfelder durchqueren müssen und dabei war er völlig auf seine Instrumente angewiesen.

Als es soweit war, gab sein Passagier die üblichen Bemerkungen von sich: Wie heimelig und geborgen sie sich fühle, wenn sie durch die Watte flogen und ihre Sicht nur bis zu den Flügelspitzen reichte, wie schön es sei, so ganz ohne Aufregung durch die Luft zu schweben. Die Wolkentürme begeisterten sie, die mit Watte gefüllten Täler riefen Laute des Entzückens hervor. Bottmer knurrte ab und zu etwas zur Bestätigung, war aber vollauf mit der Beobachtung der Instrumente beschäftigt.

Nach einer Viertelstunde riss die Wolkendecke auf und unter ihnen lag eine von Licht überflutete Landschaft. Die pyramidenförmigen Berge, die mit einem Mantel aus Schnee bedeckt waren und im Schein der Sonne funkelten, entlockten ihr Ausrufe der Bewunderung. Sie erkannte Eiger, Mönch und Jungfrau und gab die Dame von Welt, die sich auch in den Schweizer Alpen auskennt. Er hatte genau deswegen einen Umweg in Kauf genommen und war einen Bogen geflogen, was sie natürlich nicht bemerkt hatte.

Sie interpretierte diese schneebedeckte Gebirgslandschaft geometrisch, womit sie immerhin Bottmers Interesse weckte, denn das hatte er noch nie gehört: Da gab es weiße Quader wie Bauklötze oder rechteckige Flächen, topfeben wie ein zugefrorener See, vereiste Bänder, die jeder andere als Gletscher bezeichnet hätte. Sie sah gefährliche Zacken und Grate und überall verstreut wie von Zyklopenhand hingeworfene Trümmer. Die Bergspitzen waren Kegel oder Pyramiden, steil abfallende Felswände hatten die Form von Trapezen. Als Bottmer etwas tiefer ging, konnte sie zugeschneite Bergstraßen erkennen, geschlossene Pässe oder Dörfer, deren Häuser sich aneinander schmiegten wie um sich gegenseitig zu wärmen. Neben einzelnen Wolkentürmen unter ihnen gab es schneefreie Täler mit Straßen wie Bindfäden und riesige nackte Felswände, die ihr Angst machten. Die graubraunen Geröllfelder mit grünen Einsprengseln waren für sie Flickenteppiche, das Grün angepappt, und befestigte Straßen bezeichnete sie als Mauern in der Landschaft. Manche waren wie mit dem Lineal gezogen, andere krochen in Haarnadelkurven die Hänge hinauf. Die Schattenseiten der Berge waren ihr unheimlich, die in Gold getauchten, der Sonne zugewandten, entzückten sie.

Kurz darauf beobachtete sie den Abgang einer Lawine und wurde nachdenklich, als ihr bewusst wurde, dass die Schneise, die sie sah, ein Symbol der Verwüstung war. Was sich auch immer zwischen den beiden Rändern befunden hatte, befand sich jetzt nicht mehr dort, war überrollt, zerquetscht oder in Trümmern, begraben unter Schnee und Eis. Zum Glück entdeckte sie unmittelbar daneben eine dunkle Gesteinsformation in Form eines gleichschenkligen Dreiecks, die mit kleinen Plättchen aus Eis und Schnee überzogen war: Tobleronezacken nannte sie das und musste lachen. Im Übrigen war alles wunderbar, apart, traumhaft und glitzernd, die Welt wie ein Märchen. Diese Ästhetisierung säuerte Bottmer an. Eine Winterlandschaft bedeutete für ihn Kälte und Nässe, die Fortbewegung war schwierig und ein Abkommen vom Weg gefährlich. Wie oft war er müde und durchnässt von der Schule nach Hause gekommen, hatte geweint vor Erschöpfung und musste sich erst einmal an die Kunst1 setzen, um sich aufzuwärmen. Das warme Zuckerwasser, das seine Mutter zubereitet hatte und ihm an den Ofen brachte, war das Köstlichste, was er sich überhaupt vorstellen konnte. Die Wärme floss direkt in jede Zelle seines Körpers. Aus dieser Zeit wusste er, wie er sich retten konnte, falls sie in dieser lebensfeindlichen Landschaft abschmieren sollten und er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was dann aus den erstaunten Ohs! und Ahs! seiner Personalchefin werden würde.

Genau genommen war es nicht überraschend, dass sie ihn noch zu einem Kaffee bei sich zu Hause einlud und auch nicht, dass er das Angebot dieses Mal annahm. Für ihn war es der erfolgreiche Abschluss seines Weihnachtsurlaubs und er würde mit ihr sowohl über detaillierte Aspekte in der Firma als auch über seine weitere Karriere reden können. Außerdem hatte er von nun an eine Informantin im Vorstand, die er sich warmhalten würde. Und vielleicht waren ihre anderen Ohs! und Ahs! ja auch ganz interessant. Das Feld war bestens vorbereitet und so ein kleiner Flug über die Alpen hatte noch immer gewirkt. Ein bestimmter Typ Frau schätzte diese Geste aus der großen Welt.

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