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2 Das Neujahrstreffen

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Dr. Daniel Cuviella wollte die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbringen. Er hatte die größte Mühe gehabt, das seiner Frau plausibel zu machen, denn in ihrem Bekanntenkreis waren sie die einzigen, die nicht wegfuhren. Weihnachten und Silvester verbrachte man einfach an einem exklusiven Wintersportort in den Alpen oder man machte eine Fernreise und es sollten schon die Bahamas oder die Seychellen sein. In ihren Kreisen war das selbstverständlich. Letztlich hatte sie nicht akzeptiert, dass sie zu Hause bleiben sollte. Es gab so viele schöne Plätze auf der Welt, die sie noch nicht gesehen hatte, und es war eine langjährige Tradition, dass die Zeit zwischen den Jahren nur ihnen beiden gehörte.

Sie hatte zwar zugestimmt, aber nur, weil sie keinen Streit wollte. Allerdings war das jetzt schon das zweite Mal und immer würde sie nicht nachgeben. Cuviella steckte in einem Dilemma ihr gegenüber. Er merkte deutlich, dass seine Argumente nicht ausgereicht hatten, sie zu überzeugen. Aber er konnte seine Karten unmöglich offen auf den Tisch legen, dazu war die Vertraulichkeit der ganzen Angelegenheit viel zu wichtig.

Vor einem Jahr hatte ihn der Vorstandsvorsitzende gefragt, ob sie sich nicht unmittelbar nach Neujahr treffen könnten, er wolle einige strategische Fragestellungen mit ihm erörtern. Selbstverständlich würde er sich gerne mit ihm treffen, hatte er Prof. Alpwyler geantwortet. Wer würde eine solche Aufforderung seines Vorstandsvorsitzenden ablehnen, zumal der Professor mit persönlichen Kontakten äußerst sparsam war. Aber seinen Vorschlag, ihre Assistentinnen sollten einen Termin vereinbaren, hatte er erschrocken abgelehnt. Auf gar keinen Fall, das sei ein absolut vertrauliches Treffen, von dem niemand wissen solle, niemand. Es solle auch nicht in geschäftlichen Räumen stattfinden, er lade ihn zu sich nach Hause ein. Das war mehr als ein Ritterschlag und da hatte es Cuviella zum ersten Mal gedämmert, dass sich hinter dieser Aufforderung eine größere Sache verbergen könnte. Aber er sagte natürlich nichts. Sie hatten sich auf einen Termin am 2. Januar geeinigt und beide hatten die ganze Angelegenheit nicht mehr erwähnt. Bei der Verabschiedung an der Weihnachtsfeier hatte der Professor ihn gebeten, sich nicht vom Chauffeur fahren zu lassen und auch kein Taxi zu nehmen. Er fände es am besten, wenn er mit dem Tram2 käme, das wäre am Unauffälligsten.

Selbstverständlich war Cuviella mit dem Tram gefahren. Der Professor persönlich hatte ihm die Tür geöffnet, perfekt gekleidet wie immer. Lediglich auf sein Jackett hatte er verzichtet, er war ja schließlich bei sich zu Hause, hatte stattdessen einen grauen Norwegerpullover getragen. Die Begrüßung war sehr freundlich gewesen, Cuviella hatte den Eindruck eines privaten Treffens bekommen. Von den Hausangestellten war niemand zu sehen, auch Alpwylers Frau war nicht in Erscheinung getreten.

Dieses Mal war es wieder so, allerdings direkt am Neujahrstag, wie Cuviella zufrieden konstatierte. Solche Termine zeigten unmissverständlich den Status Alpwylers: Er brauchte sich nach niemandem zu richten und jeder wäre froh gewesen, zu einem solchen Termin eingeladen zu werden. Der Professor führte ihn in seine Bibliothek und Cuviella nahm demonstrativ den Akku aus seinem Handy. Alpwyler lächelte dankbar. Er hatte ein kleines Frühstück mit Fischspezialitäten auftragen lassen: Garnelensalat, Kaviar und Austern. Er selbst aß Heringssalat, eines seiner Lieblingsgerichte, wie er lächelnd erklärte. Bevor er seinem Gast einen guten Appetit wünschte, meinte er lakonisch, er könne auch Baguette ohne Knoblauch haben, falls er noch etwas Intimeres vorhabe. Cuviella wusste nicht, wie ihm geschah, eine solche Bemerkung hätte er von Alpwyler nie und nimmer erwartet. Der Alte hatte wenig Appetit und aß fast nichts. So hielt sich auch Cuviella zurück. Als der Hausherr auch noch den Tisch selbst abräumte und das Geschirr auf ein Sideboard im Flur stellte, wusste Cuviella überhaupt nicht mehr, wie er sich verhalten sollte.

Zum Glück holte Alpwyler danach seine Unterlagen aus einer Kommode und sie arbeiteten zwei Stunden lang konzentriert an der Analyse des Ist-Zustandes der HOSANTIS. Zunächst ging es nur um die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen der Firma. Sie gingen Land für Land durch in Bezug auf Kosten, Umsatz, Cashflow und Gewinn und erarbeiteten Zielvorgaben für die Länderreferenten. Alpwyler lag die Nachhaltigkeit der Produktionsprozesse für die verwendeten Rohstoffe und die dabei zu Grunde liegende Energiebilanz sehr am Herzen. Die erzielten Fortschritte waren ihm nicht schnell genug und er betonte mehrmals, dass eine sparsamere Verwendung von Energie sich unmittelbar in der Bilanz niederschlagen würde. An einer Stelle wurde er richtig pathetisch: Wir müssen unseren Enkeln doch eine Erde hinterlassen, auf der sie gut leben können. Wir haben schon genug auf Kosten der nächsten Generationen zerstört. Dagegen ließ sich nicht viel sagen, solange das nicht auf Kosten ihres Profits gehen würde, aber Cuviella wollte nichts übers Knie brechen. Das sollte alles langsam wachsen, denn er wollte die Mitarbeiter mitnehmen, er wollte diese ganzen Neuerungen nicht gegen sie durchsetzen, sondern mit ihnen. Dafür sah er großen Nachholbedarf bezüglich der Datensicherheit. Obwohl er kein Computerspezialist war, hatte er Alpträume bei dem Gedanken, dass jemand die Firmengeheimnisse knacken könnte. Ein großer Teil ihres Know-hows war nur durch Geheimhaltung geschützt und wenn die relevanten Informationen Unbefugten in die Hände fielen, wäre der finanzielle Schaden erheblich. Aber Alpwyler war zu seriös, um sich das vorstellen zu können. Immer wenn Cuviella auf dieses Thema zu sprechen gekommen war, hatte er diesen ungläubigen Blick geerntet, als ob er eine Räuberpistole erzählte, und das Gespräch entwickelte sich nicht mehr weiter. Zu seiner Überraschung ging Alpwyler dieses Mal auf einen Vorschlag ein, mit dem Cuviella diese Blockade erst gar nicht aufkommen lassen wollte: Man könnte Umweltschutz und Datensicherheit doch übergreifend organisieren, schließlich betraf das ja alle. Jede Abteilung sollte einen Vertreter abstellen, um zunächst einmal die Schwachstellen zu erkennen. Er nannte es zwei virtuelle Abteilungen einrichten. Der Gedanke gefiel Alpwyler und er würde schon dafür sorgen, dass dabei handfeste Ergebnisse zustande kommen würden.

Mitten in einem Satz ging die Tür auf und einer seiner Enkel kam herein:

"Granny, du söttisch cho."

Alpwyler fuhr dem Enkel zärtlich über den Kopf:

"Het das s'Großmami gsait?"

"Nei, ich ha das gsait. Ich ha a Brugg über dr Rhy baut."

"Und jetzt soll ich deine Brücke anschauen?"

"Jo, chumm."

Sie hatten über die Feiertage ihre Kinder mit den Enkeln eingeladen und nun musste er Familienoberhaupt spielen. Es war tatsächlich ein gutes Gefühl, die Kinder wieder einmal beisammen zu haben. Wenn es auch manchmal etwas laut wurde, sie genossen den Trubel und das Leben in ihrem großen Haus. Es war fast so wie früher, aber nur fast. Die Tochter lebte mit einem Bergbauingenieur in Kanada und hatte zwei kleine Kinder, der Sohn arbeitete für eine große Schweizer Bank in Dubai und seine Schwiegertochter würde ihn demnächst zum vierten Mal zum Großvater machen. Sie war deswegen in Dubai geblieben, der Sohn war alleine gekommen. Die Kinder und Enkel brachten die weite Welt mit ins Bruderholz3, wo er mit seiner Frau in einer alten Villa wohnte. Sie hatten sie als frisch getrautes Paar in den 1960er Jahren gekauft, als es in diesem Stadtteil noch nicht viele Häuser gegeben hatte. Inzwischen war das natürlich anders, Basel hatte sich ausgedehnt. Seine Gemahlin hatte zu ihrer Entlastung vor einiger Zeit zwei neue Hilfskräfte eingestellt, die den Haushalt organisierten und Haus und Garten pflegten. Eine dritte Frau ging ihm seit kurzem als Privatsekretärin zur Hand. Und während der Weihnachtsferien konnten sie jetzt morgens alle ausschlafen, kleine Ausflüge in den Jura oder den Schwarzwald unternehmen und hatten viel freie Zeit. Sie hatten es schön miteinander.

Während er das alles Cuviella so knapp wie möglich erklärte, wurde der Kleine ungeduldig und nahm seinen Großvater an der Hand:

"Granny, du söttisch jetz cho."

Es gelang Alpwyler noch, mit seinem Gast einen Termin für den folgenden Tag auszumachen und ihn zur Haustür zu bringen. Die Verabschiedung war herzlich, aber kurz. Dann nahm ihn sein Enkel in Beschlag.

Der Heimweg genügte Cuviella um zu begreifen, was sich soeben abgespielt hatte. Der Alte hatte jedem seiner Argumente aufmerksam zugehört, hatte Verständnisfragen gestellt und Notizen gemacht. Unter dem Vorwand, seine Gedankengänge überprüfen zu lassen, hatte er ihm Einblick in die unterschiedlichsten Fragestellungen gegeben, selbst in solche, die mit seinem Ressort überhaupt nichts zu tun hatten. Als sie ihr Gespräch beendeten und Alpwyler die Skizzen, Tabellen und Netzpläne einsammelte, die auf dem Tisch verstreut lagen, war ein beträchtlicher Stapel entstanden. Der alte Fuchs hatte alles einkassiert, auch das, was Cuviella notiert hatte. Er war ein ausgebuffter Profi und so langsam begriff Cuviella, warum sein Gastgeber schon so jung Vorstandsvorsitzender geworden war und sich zur Seele des ganzen Unternehmens entwickelt hatte. Ohne ihn ging nichts bei der HOSANTIS und was er über die Firma nicht wusste, war nicht wissenswert.

Die Konsequenzen aus all diesen Einzelheiten erschienen ihm zu diesem Zeitpunkt allerdings noch unglaublich: Wenn er Vorstandsvorsitzender der HOSANTIS wäre und sich einem Mitarbeiter gegenüber so verhielte, gäbe es dafür nur eine einzige rationale Erklärung: So verhält man sich, wenn man jemanden weit oben auf noch höhere Aufgaben vorbereiten will.

Aber die einzige Stelle, die dafür in Frage kam, der Stellvertretende Vorstandsvorsitz, war gerade erst besetzt worden. Konsequent weitergedacht konnte das nur heißen, dass es in nicht allzu ferner Zukunft zu einem größeren Stühlerücken kommen würde. Vielleicht wurde die Organisationsstruktur der erwarteten Umsatzentwicklung angepasst? Nach den neuesten Gerüchten, die per Flurfunk verbreitet wurden, stand der Verkauf des Firmengebäudes am Voltaplatz zur Diskussion. Bei allen Vorteilen, die man sich bei der HOSANTIS davon versprechen mochte, würde das eine Menge Staub aufwirbeln in der Stadt. Ob es im Zusammenhang mit einem Umzug Stellenbesetzungen geben würde?

Gefühlsmäßig kam er immer wieder auf die neue Privatsekretärin Alpwylers zurück. Sie wirkte unsicher und Alpwyler brauchte viel Geduld mit ihr. Die Unterlagen, die sie ihm während ihres Gespräches holen sollte, blieben in den Tiefen der Regale und des Computers stecken und obwohl er sie offensichtlich in die Struktur seines Arbeitszimmers eingewiesen hatte, musste er ihr alles zeigen. Aktuell sparte sie ihm keine Zeit ein sondern kostete ihnwelche. Schließlich bat er sie höflich, die beiden Herren allein zu lassen und nach der Besprechung mit Cuviella wiederzukommen. Aber sie durchschaute die Situation und war peinlich berührt.

Cuviella hatte jetzt ein weiteres Problem mit seiner Frau: noch einen Termin mit dem Alten am nächsten Tag. Wie sollte er ihr das plausibel machen? Er schwankte zwischen völliger Offenheit und gerade so viel Andeutungen, dass es nicht zu einem Eklat kommen würde. Aber genau genommen kam völlige Offenheit überhaupt nicht in Betracht, die ganze Angelegenheit war viel zu brisant. Dann wollte sie sich aber mit einer ehemaligen Schulfreundin treffen, die gerade in Basel Station machte, und das Problem stellte sich überhaupt nicht. Sie fragte nicht einmal danach, was er während ihres Kaffeeklatsches unternehmen würde – normalerweise ein sicheres Zeichen dafür, dass sie schon längst ahnte, was da auf sie zukam.

Er fuhr eine Station länger mit der Tram und ging vom Bankverein zu Fuß zu seiner Wohnung in der St. Alban-Vorstadt. Das Gefühl dazuzugehören, angekommen zu sein, das er empfand, seit er in diesem Quartier wohnte, entspannte ihn mental. Zusammen mit der körperlichen Bewegung konnte er sich dadurch auf das Wesentliche konzentrieren und neuen Assoziationen nachgehen. Dieses Mal ging es um die Frage, wie er es anstellen könnte, am nächsten Tag bei Alpwyler nicht wie ein Ignorant dazustehen, weil er nur über die strategischen Informamationen verfügte, wie sie einem normalen Vorstandsmitglied zur Verfügung stehen. Irgendwie wollte er Alpwyler in seiner Entscheidung für ihn bestärken, er sollte seine Wahl für ihn nicht bereuen. Was also würde er bei seinem Informationsstand strategisch ändern? Leider fiel ihm nicht viel ein, er hatte sich in den letzten Jahren bewusst nur mit seinem Ressort befasst, hatte sich nicht mit irrelevanten Informationen belasten wollen. Aber ob das jetzt ausreichen würde? Der einzige Ansatzpunkt, den er sah, war das außerordentliche Wachstum der Firma: Er hatte schon lange das Gefühl, dass die Gesamtleitung des Konzerns von der Leitung der rein Schweizer Aktivitäten abgetrennt werden sollte. Wie wäre es denn, wenn man die Schweizer Standorte unter einer Leitung auf Landesebene zusammenfasste wie bei anderen Ländern auch? Die Zentrale würde an einem kostengünstigeren Standort neu gebaut und an der Voltamatte wäre genügend Platz für die Leitung Schweiz.

Je genauer er sich in diese Situation hineindachte, desto mehr gefiel sie ihm. Er würde die Zentrale allerdings nicht aus Kostengründen irgendwo auf der Welt in den Busch setzen, die HOSANTIS war schließlich ein Schweizer Unternehmen. Vielleicht irgendwo im Baselbiet4 – oder im benachbarten Elsass. Man brauchte letztlich nur eine Machbarkeitsstudie anfertigen zu lassen und Aspekte wie Steuersätze, Verkehrsanbindung und Akzeptanz bei den Führungskräften von vornherein mitberücksichtigen. Die Spezialisten würden dazu nur ihre Checklisten aus den Schubladen holen müssen.

Mehr konnte er nicht tun, alles Weitere wäre zu spekulativ gewesen. Er wusste ja nicht einmal, was Alpwyler ihm gegenüber alles offenlegen würde, er würde am nächsten Tag längst nicht alle Insiderinformationen erhalten. Unter Alpwyler galt das Prinzip need to know, jeder Mitarbeiter erfuhr nur das, was er zur Erledigung seiner Arbeit wissen musste. Aber natürlich galt auch der Umkehrschluss: Je mehr Alpwyler offenlegen würde, desto umfassender war die Aufgabe, an die er ihn heranführen wollte.

Der Alte hatte den Wunsch geäußert, ihn nach dem Mittagessen zu sehen. Dadurch hätte er morgens genügend Zeit, sich seiner Familie zu widmen. Sie würden sich ungestört ihren Plänen zuwenden können und wären zeitlich völlig ungebunden, was die Dauer ihrer Besprechung betraf – open end nannte Alpwyler das. Bei allem Stolz über diese Situation hoffte Cuviella inständig, dass es damit auch gut sein würde, denn danach würde er die Versprechungen einlösen müssen, die er seiner Frau in den letzten Monaten gegeben hatte. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie schon alles organisiert hätte und der Abflugtermin schon feststünde. Und ihm würde es ja auch guttun, irgendwo an einem Strand in der Wärme auszuspannen.

Der zweite Tag war beträchtlich mühsamer und ihr Gespräch dauerte sehr viel länger. Dieses Mal sagte Cuviella von sich aus, dass er sein Handy erst gar nicht mitgebracht habe. Alpwyler schmunzelte zufrieden und bedankte sich. Auf die Frage nach seinen strategischen Vorstellungen empfahl Cuviella die Einrichtung einer Holding, in der die Entscheidungen von weltweiter Relevanz getroffen wurden und eine rein Schweizer Direktion, die formal auf derselben Stufe stand wie die anderen Länderdirektionen. Alpwyler nahm dazu nicht Stellung, wollte aber ein Gebäude auf dem Immobilienmarkt zukaufen, falls es ein geeignetes Angebot gäbe. Dieses Thema war damit abgeschlossen, die Details würde er umgehend ausarbeiten lassen.

Die Eile, die sich darin ausdrückte, wurde Cuviella bewusst, als Alpwyler zu seinem Lieblingsthema kam, dem Krebs-Projekt. Einleitend machte er noch einmal deutlich, wie gut die HOSANTIS für morgen gerüstet sei, dass das Alter ihrer Produkte auf allen Ebenen geringer sei als das bei der Konkurrenz der Fall war und dass mittelfristig mit einem anhaltend überdurchschnittlichen Wachstum zu rechnen sei. Zudem seien in den letzten Wochen in der Forschung große Erfolge erzielt worden, die zu den höchsten Erwartungen berechtigten. Er freue sich darüber, allerdings müsse er als Stratege auch an übermorgen denken.

Aber eben, beim wichtigsten Zukunftsprojekt, ihrer Krebsforschung, gebe es seit Monaten kaum Fortschritte. Im Gegenteil, die Lizenzverhandlungen um diesen unverzichtbaren Wirkstoff kämen nicht vom Fleck, die Vorstellungen der Gegenseite liefen auf eine finanzielle Knebelung hinaus. Und jetzt gebe es Informationen, die einen Geheimnisverrat plausibel erscheinen ließen.

Ob Cuviella seine Meinung teile, dass dieses Problem ohne Ansehen der Person geklärt werden müsse? Selbstverständlich tue er das, wenn es um die HOSANTIS ging, verstand der Alte keinen Spaß. Außerdem hatte er damit seine Karten aufgedeckt – und Cuviella hatte gewonnen: Alpwyler hatte zuerst Stellung bezogen und ihn erst danach um seine Meinung gefragt: Er wollte ihn ab jetzt gar nicht mehr prüfen. Cuviella war ein gnadenloser Taktiker, aber in dieser Situation fiel es selbst ihm schwer, unbefangen zu bleiben.

Alpwyler war dabei, das Thema einzukreisen und gab dadurch Informationen preis, die für Cuviella völlig neu waren. Seit dem Herbst bestand der Verdacht des Geheimnisverrats – der Werkschutz ermittelte, seit drei, vier Monaten war die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Alpwyler ging davon aus, dass zu Beginn nur die Telefongespräche und E-Mails bestimmter Personen kopiert und ausgewertet worden waren. Ergebnis: null. Die Mengen an Papier, die er inzwischen gesichtet hatte, ließen nur den Schluss zu, dass der Kreis der Verdächtigen erweitert worden war und dass die Polizei in Information ertrank. Schließlich wussten sie ja überhaupt nicht, was sie suchten. Deshalb wurden immer wieder Mitarbeiter der HOSANTIS zur Auswertung herangezogen. Deuzisberger, ein vielversprechender junger Rechtsanwalt, war schon beteiligt gewesen, der Leiter des Werkschutzes war es immer noch. Fortschritte bei den Ermittlungen: null.

"Ich möchte mit Ihnen im Brainstorming-Verfahren alternative Vorgehensweisen diskutieren. Fangen wir an."

Cuviella konnte seine Überraschung nur dadurch überspielen, dass er ohne Pause Stichwörter produzierte:

"Kosten noch einmal durchkalkulieren. Verwandte Wirkstoffe untersuchen. Konkurrenzprodukt abklären."

"Nicht schlecht für den Anfang bei null. Noch etwas?"

"Konkurrent aufkaufen. Konkurrent unter finanziellen Druck setzen, damit er auf unsere Lizenzgebühr angewiesen ist."

Als Cuviella zögerte, forderte Alpwyler ihn auf, ganz unbefangen weiterzureden.

"Selbst Werkspionage betreiben. Die Patentschrift noch einmal analysieren."

Als Cuviella wieder zögerte, griff Alpwyler sofort ein:

"Na, da haben wir doch schon eine ganze Menge. Der Reihe nach, das Einfachste zuerst: Die Kosten brauchen wir nicht neu zu kalkulieren, weil die Forderungen der PHARMACHEM aktuell 20 % höher sind als zu Beginn der Gespräche. Und wir haben schon damals abgelehnt. Außerdem ist unsere Kriegskasse nicht mehr so voll wie vor einem Jahr, weil wir inzwischen eigene Aktien zurückgekauft haben. Wir befürchten eine feindliche Übernahme. Aktuell sind wir nicht in der Lage, die PHARMACHEM zu übernehmen."

"Verwandter Wirkstoff?"

"Lassen Sie uns zuerst über die Analyse der Patentschrift reden. Damit ist der Punkt verwandter Wirkstoff gleich miterledigt. Wie Sie wissen, kommen die heißen Informationen in den Patentschriften nicht vor. Man gibt nur so viel preis, dass man den Prozess oder das Produkt schützen lassen kann. Die Detailebenen, die danach noch kommen, sind durch Geheimhaltung am besten geschützt. Selbst wenn man diese Informationen hätte, könnte man sie nur intern verwenden, z.B. um den Wirkstoff in Kombination mit anderen Stoffen zu testen. Damit ließen sich lediglich drei oder vier Monate Zeit gewinnen. Wir versuchen das natürlich, aber ich verspreche mir nicht viel davon. Selbst wenn wir diese Informationen hätten, könnten wir die Ergebnisse nicht vermarkten – eine sehr frustrierende Angelegenheit. Und schlussendlich haben alle verwandten Wirkstoffe gravierende Nebenwirkungen, zumindest bis jetzt. Wir wissen noch nicht warum, aber im Biozentrum läuft eine Studie darüber. Dort gibt es ein paar fähige Leute, da müssten demnächst die ersten Ergebnisse kommen."

"Nicht gerade ermutigend."

"So ist es. Mir ist das alles zu vage und zu langsam."

"Bleibt der finanzielle Druck."

"Wenn wir ihnen diese Industriespionage nachweisen könnten und die ganze Geschichte an die große Glocke hängten – was würde Ihrer Meinung nach passieren?"

"Sie würden die Lizenzverhandlungen mit uns abbrechen und wahrscheinlich würde ihr Aktienkurs sinken. Entweder weil sie mit illegalen Methoden gearbeitet haben oder weil sie zu dumm waren, solche Methoden anzuwenden."

Alpwyler lächelte gequält:

"Wie wäre es, wenn wir einen eigenen Schnüffler auf diese Sache ansetzten? Er müsste gut sein, ein kreativer, unorthodoxer Typ – zumindest bis zu einem gewissen Punkt, denn zu viel soll er nicht herausfinden. Und keiner, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängt. Wir müssten ihn mit viel Unterstützung, viel Vollmachten und viel Geld ausstatten. Das letzte brauchte er ja nicht zu wissen."

"Was wäre sein Auftrag?"

"Wir wären einen Schritt weiter, wenn dieses feindliche U-Boot versenkt werden könnte."

"Ist es identifiziert?"

"Ja. Aber wir können die Sache nicht auffliegen lassen ohne eindeutige Beweise. Wir blamieren uns sonst bis auf die Knochen."

"Wer ist alles eingeweiht?"

"Wer vom Staatsanwalt alles eingeweiht worden ist, weiß ich nicht. Könnte ich bei Gelegenheit mal nachfragen. Bei uns wissen nur drei Leute davon und alle sind über jeden Zweifel erhaben: der Sicherheitschef, Sie und ich. Deuzisberger ist involviert, kennt aber die Zusammenhänge nicht. Und dabei soll es auch bleiben."

"Ich? Ich weiß den Namen doch gar nicht."

"Den erfahren Sie jetzt von mir."

"Und wer ist es?"

"Ich betone noch einmal: Seine Identität ist nicht gerichtsverwertbar erwiesen. Es ist bisher nur ein Verdacht, wenn auch ein schwerwiegender. Es gibt erhebliche Indizien und er ist der Hauptverdächtige. Ich wünsche, dass der Kurier das übernimmt, ich habe ein Loblied gehört auf ihn – von einer absolut zuverlässigen Quelle. Machen Sie ihm klar, dass uns Seitensprünge, Steuerhinterziehung und Besuche in Schwulenbars nicht interessieren. Wir brauchen einen Beweis, der den Hauptverdächtigen oder einen anderen überführt. Und zahlen Sie ihm, was er verlangt, ich will ihn unbedingt."

Cuviella verstand, was die Formulierung Ich wünsche … aus dem Mund Alpwylers bedeutete und sah ihn fragend an.

"Der Hauptverdächtige ist Beat Bottmer."

Alpwyler wunderte sich, dass Cuviella keinerlei Reaktion zeigte:

"Warum bleiben Sie so stumm? Stimmt etwas nicht?"

"Ich brauche den Namen des Kuriers oder wenigstens eine Telefonnummer."

Alpwyler musste lachen:

"Das habe ich vergessen zu fragen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass wir so schnell Bedarf haben würden für ihn. Sie bekommen einen Anruf."

Für Alpwyler endete das Gespräch mit einem seltsamen Gefühl: Er hatte Cuviella so viele brisante Einzelheiten mitgeteilt und der hatte so gut wie keine Emotionen gezeigt. Alpwyler hatte mit einem solchen Verhalten schlechte Erfahrungen gemacht: Allzu viele Menschen in seinem Leben hatten sich so verhalten, weil sie ihre Gefühle absolut unter Kontrolle haben wollten – wie wenn sie etwas zu verbergen hätten. Aber konkret konnte er mit diesem Gedanken nichts anfangen.

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