Читать книгу Spurensuche zur Entwicklungsgeschichte des Menschen - Rolf W. Meyer - Страница 5
1. Die Meinungen der Gelehrten gehen auseinander
ОглавлениеAls im Jahre 1856 bei Steinbrucharbeiten im Neanderthal bei Düsseldorf 16 Knochen in der Feldhofer Grotte entdeckt wurden, hielt man sie zunächst für die Knochen eines Höhlenbären. Der Elberfelder Lehrer Johann Carl Fuhlrott (1803–1877) jedoch erkannte, dass es sich um Überreste eines eiszeitlichen Menschen handelte. In Anlehnung an den Fundort wurde der Name Neanderthaler gewählt. [1] Der Anatom und Prähistoriker Rudolf Virchow (1821–1902), der die Zellularpathologie begründet hatte, hielt hingegen die Funde für Reste eines anatomisch modernen Menschen, dessen Knochen krankhaft verändert waren. Durch seine Autorität verhinderte Virchow über Jahrzehnte eine allgemeine Akzeptanz des Fundes in Deutschland. Fuhlrott starb 1877 verbittert und ohne Anerkennung gefunden zu haben. Virchow beharrte auf seiner Meinung und starb 1902 ohne von der Existenz des Neanderthalers überzeugt zu sein. Neben wissenschaftlichen waren auch politische Gründe für die Missdeutung der Fossilien aus dem Neandertal verantwortlich. Dieser Knochenfund war der Auslöser für international gegensätzlich geführte Diskussionen und zugleich der Beginn der Erforschung der Menschwerdung. Der Fund aus dem Neanderthal, der ein zentrales Beweisstück für die Abstammung des Menschen darstellt, brachte im 19. Jahrhundert ein jahrtausendealtes kirchliches Weltbild ins Wanken und schließlich zum Einsturz. Seine Berühmtheit verdankte der Knochenfund dem zeitlichen Zusammentreffen mit der Veröffentlichung von Charles Darwins Hauptwerk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“, das im Jahre 1859 erschien. Erst 1871 veröffentlichte Darwin sein Werk über die Abstammung des Menschen. [2]
Im Jahre 1908 wurde in einer kleinen Höhle bei La Chapelle-aux-Saints in Mittelfrankreich ein Neanderthaler-Skelett gefunden, von dem mehr erhalten war als von jedem anderen bis zu diesem Zeitpunkt. Die von dem französischen Anthropologen Marcellin Boule (1861–1942) ausgearbeitete Studie über diesen Fund („Der Alte von La Chapelle-aux-Saints“) sollte das Bild des Neanderthalers nachhaltiger beeinflussen als alle bisherigen Veröffentlichungen. Dieses Bild wies die Neanderthaler als äußerst primitive und „äffische“ Wesen aus. Moderne Untersuchungsmethoden und in Verbindung damit neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen jedoch, dass der Neanderthaler ein intelligenter Mensch auf einer relativ hohen Kulturstufe gewesen war.
Die Aussage der Evolutionslehre von Charles Darwin (1809–1882), dass der Mensch sich aus tierlichen Vorfahren nach allgemeinen Regeln der Evolution entwickelt hat, schockierte viele religiöse Menschen, da für sie die Aussagen der biblischen Schöpfungsgeschichte ausschlaggebend waren. [3] Im Jahr 1925 fand ein Prozess vor einem Gericht in Dayton, Tennessee statt, bei dem es um ein im selben Jahr verabschiedetes Gesetz ging, welches untersagte, „Theorien zu lehren, die der Bibel in Bezug auf die Entstehungsgeschichte der Menschheit widersprechen.“ [4] Da der Lehrer John Thomas Scopes die Evolutionstheorie von Charles Darwin an öffentlichen Schulen gelehrt hatte, wurde er in diesem Prozess zu 100 Dollar Bußgeld verurteilt. Der Scopes-Prozess ging unter dem Namen „Scopes Monkey Trial“ („Scopes Affenprozess“) in die Geschichte ein. [5] Auch heute noch beziehen sich viele Menschen als Anhänger des Kreationismus ausschließlich auf die biblische Schöpfungsgeschichte. Die Anhänger der Theorie des Intelligent Design berufen sich auf einen „intelligenten Schöpfer“, der ihrer Meinung nach das Wunder der Schöpfung steuerte. [6]
Im Dezember 1912 wurde während eines Treffens der Geologischen Gesellschaft in London den Wissenschaftlern ein außergewöhnlicher „fossiler“ Schädel vorgestellt. Er ähnelte im Wesentlichen demjenigen eines modernen Menschen, jedoch hatte er einen Unterkiefer, der äffische Merkmale aufwies. Gefunden hatte ihn der Amateur-Archäologe Charles Dawson (1864–1916) in einer Kiesgrube bei dem Dorf Piltdown in der englischen Grafschaft Sussex. Die damaligen britischen Gelehrten waren davon überzeugt, dass es sich bei diesen Fragmenten um die Überreste einer bisher unbekannten Form der Vorfahren des Menschen handelte. Sie gaben dem Fund zu Ehren seines Entdeckers Charles Dawson den wissenschaftlichen Namen „Eoanthropus dawsoni“ („Dawsons Mensch der Morgenröte“). Erst 1953 entlarvten drei Wissenschaftler der Universität Oxford den „Piltdown-Menschen“ als Fälschung. Sie konnten nachweisen, dass das „Fossil“ aus einem künstlich gealterten modernen Menschenschädel und einem neuzeitlichen Orang-Utan-Unterkiefer bestand. Aus dem Fall „Piltdown-Mensch“ haben die Anthropologen gelernt, dass zu hoch gesteckte Erwartungen in die Irre führen können. [7]
1917 prägte der Nervenarzt Sigmund Freud (1856–1939) den Begriff „Kränkungen der Menschheit“ für „umstürzende wissenschaftliche Entdeckungen, die, so Freuds These, das Selbstverständnis der Menschen in Form einer narzisstischen Kränkung in Frage gestellt haben“. [8] Freud nennt dazu drei große Einschnitte, „die der naive Narzissmus des menschlichen Bewusstseins durch den historischen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis erlitten habe.“ [9] Es handelt sich dabei um:
Die kosmologische Kränkung: Die Aussage des Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543), dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (Kopernikanische Wende). [10]
Die biologische Kränkung: Die Erkenntnis von Charles Darwin, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist und damit ein Produkt der Primatenevolution ist. [11]
Die psychologische Kränkung: Die von Sigmund Freud entwickelte „Libidotheorie des Unbewussten“, die besagt, dass sich ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens entzieht. [12]
An ausgewählten Beispielen aus der Homininenforschung soll aufgezeigt werden, wie Lehrmeinungen von Wissenschaftlern [13] widerlegt wurden:
In der Shanidar-Höhle, die sich im Norden des Iraks in der Provinz Arbil befindet, wurden in der Zeit von 1953 bis 1960 die Skelettreste von sieben Neanderthalern geborgen. Die Ausgrabungen leitete der amerikanische Anthropologe Ralph S. Solecki. Eines der 1960 freigelegten Skelette (Shanidar IV) erregte besondere Aufmerksamkeit. [14] Die Mitglieder des Sozialverbandes des erwachsenen Neanderthalers hatten den Toten vor etwa 60.000 Jahren bestattet und, darauf deuteten Pflanzenreste hin, auch Blumen in das Grab gelegt (Ralph S. Solecki: „Shanidar. Die ersten Blumenmenschen“). Später schrieb Solecki: „Dieser Mann starb vor ungefähr 60.000 Jahren […] und doch bringt uns die Entdeckung, daß er mit Blumen bestattet wurde, die Neandertaler geistig näher, als wir je gedacht hätten. […] Daß die Neandertaler mit Blumen in Verbindung gebracht werden, fügt unserem Wissen um ihre Menschlichkeit eine neue Dimension hinzu. Es deutet darauf hin, daß sie eine >Seele< hatten.“ [15] In seiner Veröffentlichung von 1999 wies der amerikanische Zoologe Jeffrey D. Sommer jedoch nach, dass das Pflanzenmaterial nicht durch Menschenhand in das Grab gelangt war sondern durch persische Wüstenmäuse (Meriones persicus). [16] Diese Nagetiere verwenden Blüten, um damit ihre Erdhöhlen auszupolstern. Somit sind wahrscheinlich diese Nager für die große Zahl von Blütenpollen in dem Neanderthaler-Grab Shanidar IV verantwortlich.
Bislang galt Australopithecus („Südaffe“) als älteste, gut erforschte Vormenschenform. Ihr berühmtester Vertreter war Australopithecus afarensis („Südaffe aus Afar“, auch „Lucy“ genannt). Das zeitliche Vorkommen der Australopithecinen war vor 4 bis 1 Millionen Jahren in Afrika. In Verbindung damit wurde Jahrzehntelang die Savannentheorie vertreten, der zufolge spätestens bei Australopithecus „das Herabsteigen von den Bäumen bzw. das Verlassen des Waldes zum aufrechten Gang geführt haben soll. In der offenen Fläche [der Savanne] soll der Gang auf zwei Beinen gemäß der Darwinschen Evolutionstheorie zu Vorteilen geführt haben, da [z.B.] der aufrechte Gang einen besseren Überblick über den hohen Bewuchs der Savannenlandschaft geführt haben soll.“ [17] Eine neue Vormenschenform, von der man im Zeitraum von 1992 bis 2008 Skelettreste und Zähne von insgesamt 35 Individuen mit einem archäologischen Alter von 4,4 Millionen Jahre in Äthiopien gefunden hatte, widerlegt nun die Savannentheorie. Bei dieser Vormenschenform handelt es sich um Ardipithecus ramidus („Wurzel der Bodenaffen“), der eine Mischung aus Homininen- und menschenaffenähnlichen Merkmalen zeigt. Rekonstruktionen haben ergeben, dass sein Körperbau deutlich an den aufrechten Gang angepasst war. Das bedeutet: Die Entwicklungstendenz zum aufrechten Gang erfolgte bereits in den ostafrikanischen Waldbereichen und nicht erst in der Savanne. [18]
Seit 1991 hatte man unter der Leitung des Paläoanthropologen David Lordkipanidze bei Dmanisi in Georgien hominine Fossilien ausgegraben, die auf 1,75 bis 1,8 Millionen Jahre datiert wurden. Man deutete sie als Angehörige der Gattung Homo. Sie gelten als mögliches Bindeglied zwischen den frühesten Vertretern der Gattung Homo aus Afrika und den späteren, aus Afrika bekannten Fossilien des Homo erectus. Bisher vertrat man in der Paläoanthropologie folgende, aus afrikanischen Vormenschen-Funden abgeleitete Ansicht: Die ersten aus Afrika ausgewanderten Menschen besaßen ein Hirnvolumen von mindestens 1000 ccm, sie waren etwa 170 cm groß und verfügten über fortgeschrittene kulturelle Techniken. Die homininen Fossilien von Dmanisi widerlegen nun diese Aussage. Da bei den Grabungen auf einer Fläche von knapp 20 x 20 Metern etwa sieben Individuen unterschiedlichen Alters aus der gleichen Zeitepoche (1,8 Millionen Jahre) gefunden wurden, ergibt sich nun für die Wissenschaftler die Möglichkeit, Aussagen über die Variationsbreite der anatomischen Merkmale in dieser Homo-Population zu treffen. Dies könnte zu einer Neubewertung der Abgrenzung von Arten führen.
Nach Winfried Henke et al. ist „die Rekonstruktion von Stammbäumen gleichsam phylogenetische [stammesgeschichtliche] Geschichtsschreibung. Das Kriterium Verwandtschaft ist das natürliche biologische Ordnungssystem eines Stammbaumes“. [19] Die Grundidee des Stammbaumes ist eine Zuordnung nach dem Ähnlichkeitsprinzip: Organismen, die gleiche Merkmale aufweisen, müssen auch nahe verwandt sein und in einem Stammbaum benachbart eingeordnet werden, da sie die Merkmale von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Die Zuordnung nach dem Ähnlichkeitsprinzip wird aber dadurch erschwert, dass gleiche Merkmale nicht in jedem Fall homolog sind, sondern auch konvergent durch Anpassung an vergleichbar ähnliche Lebensbedingungen entstanden sein könnten. [20] Für eine Interpretation von verwandtschaftlichen Verhältnissen sind aber nur die homologen Merkmale hilfreich. Eine große Bedeutung zur Klärung verwandtschaftlicher Beziehungen im Hinblick auf die Homininen-Forschung kommt der Genetik zu. So lässt sich molekulargenetisch nachweisen, dass die Abspaltung der Entwicklungslinie von Schimpanse und Bonobo von der Entwicklungslinie der Homininen vor etwa 7 Millionen Jahren erfolgte. Die bisherigen Forschungsergebnisse der Paläogenetik, deren Begründer der schwedische Mediziner und Biologe Svante Pääbo ist, und die zahlreichen afrikanischen Neufunde aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwingen die Wissenschaftler das Konzept der Homininenevolution neu zu überdenken. [21] Daher ist es angebracht den Begriff „Stammbaum“ durch den Begriff „Stammbusch“ zu ersetzen, da sich eine lineare Höherentwicklung zum anatomisch modernen Menschen nicht mehr überzeugend begründen lässt.
2008 veröffentlichte der Molekular- und Neurobiologe Joachim Bauer sein Buch „Das kooperative Gen – Abschied vom Darwinismus“. Darin stellt er die jüngeren Ergebnisse der Genforschung dar und erläutert eine neue Sichtweise im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen den Genen eines Genoms [22] und deren Bedeutung für die Evolution von Organismen. Im Gegensatz zu Charles Darwin und Vertretern der Synthetischen Evolutionstheorie [23] sind für Bauer genetische Mutationen keine zufälligen Veränderungen. Seiner Ansicht nach „steuerten die Gene selbst als kreative Akteure die Evolution eines Organismus mit, indem sie sich entsprechender molekularer Werkzeuge (sog. Transposable Elemente [24]) bedienten, die […] normalerweise unter strikter Kontrolle gehalten werden“. [25] Im Gegensatz zu der von Richard Dawkins vertretenen These vom „egoistischen Gen“ postuliert Joachim Bauer im Hinblick auf die Funktionsweise der Gene ein Prinzip der molekularen Kooperation und Kommunikation. [26] Für ihn sind demnach Gene kommunikative Moleküle und das Genom ist für ihn ein System, das zur Wahrnehmung von äußeren Signalen befähigt ist. Umweltfaktoren können also über sog. epigenetische Mechanismen die Ablesbarkeit von Genen langfristig beeinflussen. [27]