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2035 n.Chr. Beginn der Dürrezeit

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Allmählich brach Chaos aus in Österreich. Einst eines der wasserreichsten Staaten der ganzen Welt, und wo die Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit bestes, unbehandeltes Trinkwasser aus dem Wasserhahn genießen konnten. Die Trinkwasserreservoirs in den meisten Gemeinden in Vorarlberg, das westlichste Bundesland Österreichs, neigten sich langsam aber sicher dem Ende zu. Mancherorts gab es zwar noch Trinkwasser, doch wurde dessen Gebrauch streng reglementiert. Wer beim Autowaschen, beim Gießen des Rasens und Gartens, oder gar beim Befüllen eines Swimmingpools erwischt wurde, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Diese Strafen waren in Vorarlberg Gemeindesache, und je nach Gutdünken der Gemeindeväter reichten die Strafen von finanziellen Bußen bis zu Freiheitsentzug. Jeder Haushalt wurde kontrolliert ob die Toilettenanlage deinstalliert und auf eine Trockentoilette umgestellt wurde. Diese Toiletten funktionierten ohne Wasserspülung, bei der die Fäkalien direkt in einen mit Sägemehl, Stroh oder mit ähnlichen Materialien gefüllten Behälter geleitet und dort kompostiert wurden. Die Ausscheidungen wurden biologisch nutzbringend als Kompost dünger oder zur Herstellung von Biogas verwendet. Die Baufirmen hatten Hochkonjunktur in dieser Zeit. Jeder Haus- oder Wohnungseigentümer war verpflichtet diese Umbauten der Toilettenanlagen durchzuführen. Auf dem Land waren diese Umbaumaßnahmen relativ einfach und mit geringem Kostenaufwand durchführbar, doch in den Städten und in Gemeinden mit größeren Wohnanlagen waren diese Umbauten sehr kostenintensiv. Vor allem an heißen Tagen war der Gestank in diesen Ballungszentren kaum auszuhalten, was dazu führte, dass viele Menschen die sich einen Umzug leisten konnten, aufs Land zogen. Die Landbevölkerung wehrte sich vehement gegen diesen unkontrollierten Zuzug von Menschen, da es nicht lange dauerte, bis immer öfter auch über dem Land der allgegenwärtige Geruch von Fäkalien lag. Das Geld nahmen sie aber alle gerne, da die Mieten, auch und vor allem in den abgelegensten Winkeln, wo früher niemand freiwillig hingezogen wäre, unverschämt hoch waren. Jeder Haushalt in Vorarlberg hatte eine eigene Wasseruhr, die exakt den Verbrauch von Trinkwasser anzeigte. Da es vorerst noch Wasser gab, wurden die Abgabemengen an Trinkwasser pro Haushalt und Kopf genau vorgeschrieben. Die damit zusammenhängenden Kontrollaufgaben wurden von Arbeitslosen verrichtet, von denen es mehr als genug gab zu dieser Zeit. In den Jahren vor 2035 kam es noch gelegentlich vor, dass manche Haushalte die zugestandenen Wassermengen deutlich überschritten, was zur Folge hatte, dass ihnen das Wasser abgedreht wurde. Wem dieses Missgeschick, aus welchen Gründen auch immer, einmal passierte, machte diesen Fehler kein zweites Mal, da die Leute sehr schnell begriffen was es bedeutet kein fließendes Wasser im Haus oder in der Wohnung zu haben. Später wurden Überbezüge von Wasser unter Strafe gestellt. Nach all den Kinderkrankheiten, die natürliche Folgen der vielfältigen und tiefgreifenden Umstellungen waren, wurden die neuen Regeln und Normen von der Bevölkerung erstaunlich schnell akzeptiert und umgesetzt.

Severin Freud, ein 50 Jahre alter Österreicher aus dem Rheintal in Vorarlberg, hatte schon vor 2035 mehrmals erlebt wie das Wasser in manchen Jahren im Sommer knapp wurde. In diesen niederschlagsarmen Sommer kam es nicht selten vor, dass die Vorgärten und Rasenflächen der Häuser verdorrten. Selbst auf vielen der höher gelegenen Almen versiegten in diesen heißen Sommer die Wasserquellen, sodass das Wasser für das Vieh angeliefert werden musste. Wenn das nicht möglich war, musste das Vieh ins Tal gebracht werden, was nicht weiter tragisch war, da es im Tal immer genügend Wasser und Futter gab. Vor dem Beginn der Dürrezeit konnte man sich aber immer darauf verlassen, dass nach einem niederschlagsarmen Sommer ausgiebig Regen fiel, der die Wasserreservoirs wieder auffüllte.

Für manche Länder des europäischen Kontinents wie Österreich, Schweiz, Deutschland, Norditalien, Teile von Frankreich und andere Länder, war dies eine noch nie da gewesene Herausforderung, weil sie immer ausreichend Wasser zur Verfügung hatten. Die Alpen, einer der ältesten Gebirgszüge der Welt, sind ein gigantischer Regenspeicher, der das lebensnotwendige Wasser über Jahre hinaus speichern kann. Der Regen versickert in den Sedimentschichten, und es dauert mitunter bis zu einem Jahr bis dieses Wasser an die Quelle gelangt, die Menschen seit jeher eingefasst haben um ihre Trinkwasserversorgung abzudecken. Diese Quellen waren nun versiegt, und die meisten Trinkwasserbehälter waren leer, was die Existenz von mehreren Millionen Menschen bedrohte. Es gab zwar zwischendurch immer wieder Regen, doch viel zu wenig und viel zu selten. Die schneereichen Winter blieben völlig aus. Das bisschen Schnee das auf Vorarlbergs Bergen ab 1500 Meter liegen blieb, schmolz spätestens zu Frühlingsbeginn. In diesen paar Tagen der Schneeschmelze führten höher gelegene Bäche und Flüsse Wasser, doch dieses Wasser versickerte in den ausgetrockneten Bach- und Flussbetten und erreichte nur sehr selten den Rhein. Selbst dieses hohe Aufkommen von Wasser während der Schneeschmelze reichte nicht aus um die Wasserbehälter zumindest zeitweise zu füllen.

Das Jahr 2035 war der offizielle Beginn der Dürrezeit, nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auf der ganzen Welt. in diesem Jahr mussten die Bauern im Vorarlberger Rheintal zum ersten Mal Wasser zukaufen. Kleinmengen an Trinkwasser zu kaufen war für Menschen in vielen Ländern der Welt erschwinglich und alltäglich, doch Trinkwasser für Vieh zu kaufen war eine ganz andere Sache. Aus den Bächen konnten die Bauern kein Wasser mehr holen, weil sie ausgetrocknet waren. Selbst der Rhein, einer der größten Flüsse Europas war ausgetrocknet. Aus den Seen, die in Vorarlberg alle Trinkwasserqualität hatten, durften nur noch die Feuerwehr, manche Firmen und Bauern Wasser abpumpen. Firmen aus der Lebensmittelbranche und manche Bauern, die für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittel beauftragt wurden, und das waren nur die Wenigsten, durften streng reglementierte und kontrollierte Mengen Wasser abpumpen. Leute die ohne Bewilligung bei Nacht und Nebel versuchten aus den Seen Wasser abzupumpen, wurden sofort verhaftet oder von aufgebrachten, selbsternannten Hüter des Wassers zusammengeschlagen. Die Wasserhüter gingen sogar soweit, dass sie Wasserdiebe umbrachten. Es gab massenhaft Arbeitslose, weil viele Firmen die keine überlebenswichtigen Waren produzierten und Firmen die Wasser zur Herstellung ihrer Waren brauchten, ihre Angestellten entlassen und den Betrieb einstellen mussten. Firmen die Brunnenbohrungen anboten, schossen wie Pilze aus dem Boden. Für sie herrschten wahrlich goldene Zeiten, denn sie schlossen sich zusammen und einigten sich auf horrende Preise für eine Brunnenbohrung, die zumindest am Anfang der Dürrezeit vielen Menschen Zugang zu Trinkwasser ermöglichte. Wenn die Legislative versuchte den Wucherpreisen per Gesetz Einhalt zu gebieten, stellten die Bohrfirmen ihre Tätigkeit ein, was den Gesetzgeber dazu zwang seine Beschlüsse wieder aufzuheben, sodass die Bohrfirmen weiterhin sukzessive die Preise in die Höhe treiben konnten. Ihre Unverfrorenheit und ihre maßlose Gier büßte so mancher Arbeiter und Chef einer Bohrfirma mit dem Leben. Menschen die sich keine Bohrung leisten konnten, blitzten mit dem Ansuchen um eine Bohrung auf Ratenzahlung bei den Bossen ab, und rächten sich in manchen Fällen höchst unangemessen, indem sie den Arbeitern oder den Chefs auflauerten und sie kurzerhand umbrachten. Viele Menschen verloren ihre Hemmungen und wurden zu reißenden Bestien, die nur noch darauf aus waren zu überleben. Wobei die Brunnen zu Beginn des Dürrezeitalters gar nicht überlebenswichtig waren, denn in jedem Lebensmittelladen konnte man Wasser zu erschwinglichen Preisen kaufen. Es war zwar mittlerweile kein Gebirgsquellwasser mehr sondern entsalztes Meerwasser, aber immerhin konnte man mit diesem Wasser überleben. Gebirgsquellwasser konnte auch nicht importiert werden, weil die Länder ihr Wasser für sich behielten. Selbst im Himalayagebiet behielt das jeweilige Land das Wasser für ihre eigene Bevölkerung zurück, und stellte den Export des Wassers ein, obwohl sie damit ein Vermögen hätten verdienen können. Doch in Asien und auch auf anderen Kontinenten wo es gebietsweise noch genug Wasser gab, kam der Export von Wasser deshalb zum Erliegen, weil allerorts die Angst grassierte, dass die eigene Bevölkerung irgendwann kein Wasser mehr haben würde. Dieses Szenario war durchaus nicht abwegig, sondern vielmehr grausame Realität, was auch durchaus sein Gutes mit sich brachte. Die Industrienationen der Welt warfen vor der Dürrezeit ein Drittel der Lebensmittel in den Müll, was mittlerweile, zumindest den Medien zufolge, nicht mehr vorkam. Viele Menschen armer Länder starben zwar nach wie vor an Hunger, doch konnten sich die Menschen der reichen Industrienationen nun von ihren Schuldgefühlen befreien, die sie jahrzehntelang unterdrückt hatten, weil sie so viel Lebensmittel zur Verfügung hatten, dass sie den Überschuss auf den Müll werfen mussten. Mittlerweile hatte sich die Lage drastisch geändert, denn aufgrund des massiven Rückgangs der Nutzviehhaltung und der Landwirtschaft, war es vorbei mit der Verschwendung von Lebensmitteln. Diejenigen die am Meer wohnten waren zu Beginn der Dürrezeit die großen Verlierer, weil durch das Abschmelzen der Gletscher der Meeresspiegel anstieg und Millionen von Menschen ihr Zuhause verlassen mussten. Doch allzu weit entfernten sich die Menschen nicht vom Meer, weil in der Mitte der Dreißigerjahre des 21. Jahrhunderts beinahe alles Überlebenswichtige aus dem Meer kam. Fische, Algen als Futter für die Nutztiere, Strom aus den Tidenhubwerken, und das Allerwichtigste, entsalztes Wasser zur Trinkwasserversorgung. Es ging eigentlich ziemlich schnell, dass aus den Verlierern Gewinner wurden. Die Machtverhältnisse auf der Erde wendeten sich für viele Länder zum Besseren und für andere zum bedeutend Schlechteren, wie für viele mitteleuropäischen Länder. Für Binnenstaatbewohner brachen bittere Zeiten heran. Die Bauern mussten ihren Tieren statt Heu und Grassilage nun getrocknete Algen verfüttern, und nicht wenige Bauern mussten sogar entsalztes Meerwasser zukaufen, weil die Menge an Wasser die sie den Seen entnehmen durften immer weniger wurde. Der Import von entsalztem Meerwasser wurde zwar staatlich subventioniert, doch Fleisch von Tieren die dieses Wasser tranken und getrocknete Algen fraßen, schmeckte nicht mehr wie Rind-,Schweine-,oder Hühnerfleisch wie es bis anhin geschmeckt hatte. Das Fleisch schmeckte irgendwie nach Hühner-, Schwein- und Rindfisch. Aber viele Menschen wollten nicht auf Fleisch verzichten, auch wenn das Fleisch alles andere als gut war. Sie konnten auch nicht darauf verzichten, denn sie mussten nehmen was da war. Alles wurde zunehmend überlebenswichtig, nicht nur Wasser und Nahrungsmittel, alles. Abgesehen vom Beginn des Industriezeitalters am Ende des 18. Jahrhunderts gab es wahrscheinlich in keiner Zeitepoche so viele Veränderungen wie zu Beginn des Dürrezeitalters im Jahre 2035. Selbst die Coronavirus Pandemie im Jahre 2020 und 2021 hatte nicht derart drastische Veränderungen mit sich gebracht wie die Dürrezeit. Der Verbrennungsmotor hatte ausgedient, erstaunlich viele alternative Energiequellen wurden entdeckt, die Menschen schütteten gewaltige Inseln auf dem Meer auf um sie zu bewohnen und sie unternahmen unzählige Flüge ins All um neue Lebensräume zu entdecken. Die Menschheit, mit zu vielen Ausnahmen, wurde auf dramatische Art und Weise in vielerlei Hinsicht sehr viel bewusster. Ressourcen wurden umweltschonend abgebaut, der Verbrauch von Wasser und Lebensmittel wurde auf ein Minimum reduziert, riesige Hallen wurden gebaut in denen Algen, Weizen, Mais und dergleichen mehr angebaut wurden, allerdings nicht immer mit Erfolg. Nach wie vor mussten Unmengen an Getreide und Futter für die Nutztiere, hauptsächlich Algen, importiert werden. Heizanlagen wurden größtenteils mit alternativen Energien betrieben oder aufgrund der Schließung vieler Betriebe einfach abgeschaltet. Das Internet, Handys, alle Arten von Computer und Server mit ihren riesigen Kühlanlagen, Klimaanlagen und alle erdenklichen elektrischen und elektronischen Geräte wurden optimiert. Diese Geräte konnten aber nicht flächendeckend auf alternative Energien umgestellt werden, da ihr Stromverbrauch enorm war, obwohl vielerorts Stromverbraucher jeglicher Art einfach wegrationalisiert wurden. Der Mensch musste sich damit auseinandersetzen, dass das Computerzeitalter unaufhaltsam zu Ende ging, was vor allem den alten Leuten nicht so viel auszumachen schien wie den jungen Leuten. Die Luftverschmutzung wurde stetig weiter reduziert. Die Menschen wurden dankbar für das was sie hatten, sie waren sich zwar immer noch selbst die nächsten, doch unter den vorherrschenden Umständen war dies eine durchaus verständliche Verhaltensweise.

Sowie sich im 3.Jahrhundert durch die Einführung des Christentums der Vielgottglaube allmählich in einen Glauben an einen einzigen Gott gewandelt hatte, so wandelte sich allmählich der Eingottglaube in einen Glauben an mehrere Gottheiten. Die Menschen hatten Angst, es kam wie schon seit der Frühzeit der Menschheit zu einer Verehrung der Erde, des Wassers, der Luft, in seltenen Fällen sogar des Feuers, als eigene Gottheiten. Die Erde wurde mittlerweile von den meisten Menschen als das gesehen und geschätzt was sie war und ist, nämlich die Spenderin allen Lebens. Der ungezügelte Diebstahl von Eis auf den Polkappen der Erde und in Gletscherregionen führte zu länderübergreifenden Auseinandersetzungen und Krieg. Die sogenannten Supermächte und jede Nation die es sich leisten konnte und über den nötigen militärischen Rückhalt verfügte, sprengten große Eismassen ab und schleppten sie mit ihren Schiffen in ihre Heimat. Diese Schiffe wurden von Kriegsschiffen und Abfangjäger begleitet und beschützt. Die Folge dieses Raubbaus an Gletschereis war verheerend, und leitete unaufhaltsam das neue Dürrezeitalter auf der ganzen Welt ein. Einzig die Urwald- und Gletscherregionen, die flächenmäßig stetig und unaufhaltsam weniger wurden und Länder mit Hochgebirge, wie die Länder am Himalaya, in den Rocky Mountains, den Anden und diverse andere Länder mit ausgedehnten Gebirgsregionen, wo es noch regelmäßige Niederschläge gab, blieben vorerst von der Dürre verschont. Die Trockenheit vielerorts beherrschte schon seit mehreren Jahren die Medien auf der ganzen Welt. Das Thema war allgegenwärtig, deshalb schenkten die Menschen den Nachrichten allmählich keine Aufmerksamkeit mehr, zumal ihre Trinkwasserversorgung vorerst gesichert war, und stetig konsumierte Negativschlagzeilen und Weltuntergangsmeldungen den Menschen empfindlich aufs Gemüt schlugen. Dabei war das Thema hochbrisant, und der Untergang der Menschheit ein durchaus realistisches Szenario. Selbstverständlich machten sich viele schlaue und besorgte Menschen Gedanken zu dieser bevorstehenden Realität und versuchten diesem Alptraum entgegenzuwirken. Am 12. August 2028 wurde das letzte auf der Welt betriebene Kohlekraftwerk in China abgeschaltet, und dies auch nur auf Druck der Russen und Amerikaner. Zum ersten Mal verfolgten die Supermächte ein gemeinsames Ziel, die Abschaffung der Emissionen auf der Erde. Autos mit Verbrennungsmotoren gab es schon vor 2030 so gut wie keine mehr. Außer den Militärs der Supermächte, wurde der Zivilverkehr erstaunlich schnell auf Solarenergie, Wasserstoff oder sonstige Energiequellen, die nur wenig Emissionen produzieren, umgestellt. Bei der Entsorgung von kaputten Akkus der Elektroautos, ging man mit größter Achtsamkeit vor. Der Flugbetrieb wurde deutlich reduziert, da Reisen nur noch für wenige Menschen leistbar war. Selbst Flugzeuge und Schiffe mussten auf Alternativenergien umstellen, doch das endete in vielen Fällen mit Katastrophen, weil die Technik für Flugzeug-Bahn und Schiffsantriebe nicht so reibungslos funktionierte wie bei den Autos. Nur mit Solarenergie war es unmöglich diese Verkehrsmittel anzutreiben, und meist gab es kombinierte Wasserstoff-Solarantriebe die oft in einer gewaltigen Explosion endeten. Dennoch waren die Ingenieure und Techniker höchst effektiv in ihrem Schaffen. In allen Küstenstaaten der Welt entstanden neue Tidenhubwerke, in vielen Länder der Welt entstanden Solar- und Windparks zur Herstellung von Strom. Selbst in den Alpenländern wurden Windräder und Solaranlagen gebaut, was in den Hochzeiten des Schitourismus undenkbar gewesen wäre. Immer wieder hörte man, dass Wissenschaftler neue, saubere Energiequellen entdeckt hatten, aber auch bisher ungenannte und übersehene Treibhausgasemittenten wurden entlarvt, nämlich die Atmer. Tiere und Menschen die atmen, stoßen enorme Mengen an CO2 aus, doch laut Aussagen der Wissenschaftler hatten sie auch für dieses Problem in naher Zukunft eine Lösung parat. Wie diese jedoch aussehen sollte, wurde den Menschen vorerst noch vorenthalten. Die Menschen brauchten vorerst noch keine Angst davor zu haben, dass sie wegrationalisiert werden, da die Pflanzen eine gewisse Menge an CO2 für die Photosynthese und der damit verbundenen Produktion von Sauerstoff und zum Aufbau der Biomasse benötigen. Einem anderen tragisch unterschätzten Verursacher von schädlichen Emissionen, sollte es laut Medien bald an den Kragen, oder vielmehr ans Hinterteil gehen. Wissenschaftler hatten darauf hingewiesen, dass das Nutzvieh kein unerheblicher Verursacher der Luftverschmutzung war, und stellten einen Katalysator vor, der diesem Übel entgegenwirken sollte. Die Anwendung dieser Katalysatoren steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. Dennoch blieb das Thema in den Medien präsent, obwohl die Nutzviehhaltung, zumindest in Österreich, auf ein Minimum reduziert wurde.

Severin begrüßte diese Entwicklung, obgleich er ein bekennender Fleischesser war und immer noch ist. Auch er machte es sich zur Pflicht seinen Lebensmittelkonsum auf das Notwendigste zu beschränken. Diese Maxime hatten sich viele Menschen auferlegt, was deutlich zur Reduktion der Emissionen beitrug und vor allem der Verschwendung von Lebensmitteln Einhalt gebot. In Vorarlberg wurden Restaurants, Hotels, Imbissbuden, Kantinen und Großküchen regelmäßig kontrolliert ob in irgendeiner Weise Lebensmittel verschwendet wurden. Der Begriff Lebensmittel umfasst als Oberbegriff sowohl das Trinkwasser als auch die Nahrungsmittel. Das war natürlich schwer zu kontrollieren, doch musste sich jeder der genannten Betriebe jederzeit auf eine unangemeldete Kontrolle gefasst machen. Diejenigen Betriebe denen das Vergehen der Lebensmittelverschwendung nachgewiesen werden konnte, mussten, ohne eine zweite Chance zu erhalten, ihren Betrieb von einem auf den anderen Tag zusperren. Die Behörden kamen den Betrieben insoweit entgegen, dass sie unsinnige EU-Richtlinien kurzerhand aufhoben. Manche Erneuerungen wurden einfach von irgendwelchen Amtsträgern beschlossen, ohne dass es dafür eine rechtliche Grundlage gab. Im umgekehrten Fall wurden erlassene Gesetze, wie zum Beispiel das Verbot, dass Betriebsküchen ihre Lebensmittelabfälle nicht an Bauern abgeben dürfen, kurzerhand aufgehoben. Es gab viele Beispiele für solche unsinnigen Gesetzeserlässe aus Vorzeiten, die von vielen Betriebsleitern anarchistisch ignoriert und kaum jemals von der Exekutive geahndet wurden. Selbstverständlich gab es genug Menschenschafe die obrigkeitshörig waren, und es nicht wagten Entscheidungen zu ihrem eigenen Wohle zu treffen. Und lustiger Weise traf es bei diesen Kontrollen genau diese Schafe am härtesten, da man ihnen in vielen Fällen Lebensmittelverschwendung nachweisen konnte. Sie glaubten sich rechtfertigen zu können da sie sich ja an das Gesetz gehalten hatten, doch wurden sie auf unsanfte Art auf die vorgenommenen Erneuerungen und Gesetzesnovellierungen hingewiesen, indem ihre Betriebe dicht gemacht wurden. Dieses „Schafsverhalten“ oder „behaviour of the sheeps“ wirkte sich bei den Gegnern der Raucher genau gegenteilig aus. Hatten sie in Österreich, das eine der letzten Bastionen in Europa war in der man bis zum Sommer des Jahres 2019 noch in Restaurants rauchen durfte, schwer zu kämpfen für ihre angenommenen Ansichten, so waren sie plötzlich eine nicht zu unterschätzende Übermacht. Den wenigen Raucher die es noch gab und sich beim Rauchen erwischen ließen, drohten vielfältige Strafen, von Geldstrafen über Zusammenschlagen, ja sogar Tote hatten die Schafe nun auf dem Gewissen, nach dem Motto „lieber ein toter Raucher als eine Rauchwolke die die Luft verschmutzt“. Diese Raucher waren selbst schuld und starben aus Dummheit, weil sie sich zu spät auf die Veränderungen eingestellt hatten. Früher war eine Herde Schafe einfach nur eine dumme Herde Schafe die blökend einem einzigen Schaf nachrennt. Im Dürrezeitalter wurden diese Schafe zu Wölfen, weil es sie in Massen gab und die Lebensumstände aus kleinkarierten, unbedeutenden Menschen etwas machte, das endlich gebührenden Respekt erhielt und sich bedeutend fühlen konnte. In Severins Augen waren sie Menschen zweiter Klasse. Er hatte erlebt wie im Jahre 2020 seine Eltern das Restaurant, das seit 3 Generationen in Familienbesitz war, zusperren musste. In seiner Heimatgemeinde mit ca. 3500 Einwohnern gab es zu viele Raucher, die sich nach dem erlassenen Rauchverbot nicht mehr im Restaurant blicken ließen. Eine Kompensation durch Nichtraucher trat auch nicht ein, und so wurde Severins Familie aufgrund eines diskriminierenden Erlasses die Lebensgrundlage entzogen. Severin kannte Rauchergegner, die nur in der Masse ihr Blökkonzert anstimmten, und verabscheute sie alle mehr denn je. Er hatte kein Problem damit dass Rauchen mittlerweile verpönt war, vielmehr litt er unter den Schafen. Es war für ihn schlichtweg unverständlich wieso es den Wirtshausbetreibern nicht freigestellt war, sich als ein Raucher- oder Nichtraucherlokal zu deklarieren. Seine Devise war, wer in kein Raucherlokal gehen möchte, soll in ein Nichtraucherlokal gehen. Eine Bedienung die nicht in einem Raucherlokal arbeiten möchte, sollte sich ihren Lebensunterhalt in einem Nichtraucherlokal verdienen. Die Mächtigen wollten den Menschen immer schon vorschreiben was sie tun und lassen sollen. Aber dass im 21. Jahrhundert nach der Aufklärungs- und Selbstverwirklichungsepoche und Nazideutschland das Schafsverhalten immer noch derart präsent war bei den Menschen, war für Severin unerklärlich. Er war ein einfach gestrickter Handwerker der als gelernter Tischler in vielen Bereichen im Bau- und Baunebengewerbe arbeitete. Severin war Vater von vier Kindern, ledig, solo, Wohnungseigentümer, schuldenfrei, mit einer optimistischen Lebenseinstellung gesegnet und er hatte einen unstillbaren Drang nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Für ihn war das Jahr 2035 der Beginn von etwas ganz Neuem. Wie alle anderen auch hatte er Angst vor all diesen vielen, einschneidenden Veränderungen. Es war nicht einmal so sehr die Angst vor der Lebensmittelknappheit, den vielen Gesetzesänderungen oder gar die Angst um seine Kinder. Es bereitete ihm Angst, dass bei ihm persönlich eine drastische Veränderung passierte, und dies gleich in mehrerlei Hinsicht. Nach der Trennung von seiner damaligen Lebensgefährtin im Jahre 2031 und die damit einhergehende Trennung von den Kindern, lebte er ein relativ bescheidenes, unaufgeregtes Leben. Er war kein klassischer Einzelgänger, hatte aber eindeutig die Tendenzen einer zu werden, weil er das Alleinsein zunehmend liebte. Als Jugendlicher und junger Mann war er gesellig, umgänglich und herdenkonform, doch schon als 30-Jähriger wurden ihm Feste jeglicher Art zunehmend lästig. Er entwickelte Charakterzüge und Eigenschaften die man gemeinhin als seltsam erachtet, wie etwa das Bedürfnis nach dem herrlich harmonischen allein sein wollen, was für viele Menschen eine schreckliche Vorstellung ist, weil sie nicht allein sein können. Er hatte zunehmend das Bedürfnis nach Rückzug, Abschottung, ein Leben in einer stressfreien Umgebung, das Bedürfnis nach Harmonie im Berufs- und im Privatleben. Hin und wieder machte er eine Weiterbildung, einen Kurs, ging auf einen Vortrag oder besuchte ein Konzert. Geburtstags-, Nikolaus-, Weihnachts-, Hauseinweihungs- oder sonstige Feiern versuchte er standhaft zu meiden. Im Jahr 2030 war Severins letzter Freund gestorben, und die einzigen engen Beziehungen die er noch hatte, waren die zu seinen zwei ältesten Töchtern, zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Die dritte Tochter und sein Sohn wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben, und so stellte Severin irgendwann seine Versuche zur Kontaktaufnahme mit ihnen ein.

Eine Freundin oder Lebensgefährtin hatte er schon seit einigen Jahren nicht mehr, doch der Wunsch nach einer Beziehung mit einer Frau war bei Severin stetig präsent und immer lebendig. Nur ergab es sich eben nie, weil er auf dem Gebiet der Partnersuche nie den aktiven Part übernommen hatte, was sich mangels gesellschaftlicher Interaktion als Nachteil erwies. Bei seinen Wanderungen in der Natur, meist im Wald, traf er so gut wie nie eine potenzielle Partnerin. Severin war in vielerlei Hinsicht ein zwiespältiges Wesen der seine eigenen Widersprüche manchmal nur schwer aushalten konnte. Eigentlich wollte er den Menschen Wohlwollen entgegenbringen, doch sobald ihm jemand zu nahe kam und die Interaktion zu kontrovers wurde, zog er es vor den nervigen Menschen aus dem Weg zu gehen. Severin war konfliktscheu, ging aber keinem Kampf aus dem Weg, er war harmoniebedürftig, brauchte aber von Zeit zu Zeit das Chaos um sich lebendig zu fühlen. Er liebte alles Schöne und sehnte sich nach Liebe und Veränderung. Seine Vorstellung von einer passenden Lebensgefährtin hatte sich während seines Singledaseins konkretisiert. Seine zukünftige Partnerin sollte seine widersprüchlichen Charakterzüge und Verhaltensweisen aushalten können, sie sollte eine Bereicherung für sein Leben sein und auf körperlicher, spiritueller und emotionaler Ebene kompatibel sein. Severin spürte es tief in sich, dass die Zeit für umfassende Erneuerungen gekommen war. Er spürte den Wind der Veränderung. Das Jahr 2035 war genau die richtige Zeit um eine Zwischenbilanz zu ziehen, sich Gedanken zu machen was er wollte und was nicht, und diese Wünsche versuchte er so genau wie möglich zu formulieren. Eine Partnerin die den Haushalt macht, gut kochen kann und gut im Bett ist, aber ihn sonst den ganzen Tag nur nervt hatte er schon einmal und wollte er nie wieder. Da zog er es lieber vor alleine zu bleiben und das Beste daraus zu machen. All diese Gedanken und noch mehr gingen ihm durch den Kopf als er an einem herrlich warmen Sommertag durch sein Dorf Richtung Wald wanderte. Die Gedanken bedrängten ihn aus allen Richtungen, und er spürte instinktiv, dass ihm eine Veränderung bevorstand. Nur wusste er nicht welcher Art sie sein würde. Im Wald würde er die Ruhe finden um sich seinen stürmischen Gedanken einem nach dem anderen anzunehmen. Was ihn jedoch mehr als alles andere in den Wald trieb, war diese unerklärliche Angst. Er konnte sie zwar soweit begreifen, dass etwas Neues auf ihn zukam das ihm Angst machte, aber was? Veränderungen gab es zuhauf in den Dreißigerjahren des 21. Jahrhunderts, und er wünschte sich ja auch Veränderung. Zwar nicht das Ausbleiben des Regens und der damit einhergehenden Dürre und all der Folgeerscheinungen, aber eine Veränderung die ihn bereichert und Abwechslung in seinen Alltag bringt, wollte er unbedingt. Abgesehen von einer Lebensgefährtin, wünschte er sich eine neue Aufgabe, vielleicht auch einen Ortswechsel, ein finanzieller Segen, oder war es nur die Angst davor, dass sich vielleicht gar nichts in seinem Leben ändern würde. Die Gedanken und die Angst quälten ihn. Es war Zeit sich an Gott zu wenden, und während er sich in Gedanken versunken immer tiefer in den Wald treiben ließ, kam er an ein Flussbett. Severin wusste wo er war, er kannte sich aus in dieser Gegend, doch wie er hier her kam war neu für ihn. Er hatte einen neuen Weg durch den Wald gefunden, und stand nun in einem ausgetrockneten Bachbett in einem Talkessel, der von den Einheimischen besonders in sehr heißen Sommertagen aufgesucht wurde. An der Stelle wo er sich befand, konnte er etwa 150 Meter in Richtung Osten, und nicht ganz so weit in die entgegengesetzte Richtung blicken. Das Bachbett war relativ eben an der Stelle wo er stand, und weckte viele schöne Erinnerungen. Früher, als es noch genügend Wasser gab, war er an heißen Sommertagen oft mit seiner Familie hier. An vielen Stellen entlang des Flusses konnte man baden und sich in der wunderschönen Natur vom stressigen Berufsalltag erholen. Der Fluss war früher mit wenigen Ausnahmen in beide Richtungen begehbar. Eine Flusswanderung in der Saiblach war ein Abenteuer, ein Hochgenuss für alle Sinne, einfach wunderschön. Und nun war hier nur noch eine trockene Steinwüste. Vor 3 Jahren, im Jahre 2032 führte die Saiblach zum letzten Mal oberirdisch Wasser. Als die Wasserspeicher der am Fluss liegenden Gemeinden allmählich zur Neige gingen, kamen viele Menschen mit Pickel und Schaufel, mit kleinen Handpumpen und Fässern auf dem Rücken ins Saiblachtal. Sie gruben überall entlang dem Flussbett Löcher und entnahmen dem Fluss das letzte noch verbleibende Wasser. Die Menschen nahmen gewaltige Strapazen auf sich und schleppten ihre Werkzeuge und Wasserkanister immer weiter den Talkessel hinein bis wenige Kilometer vor den Ursprung des Flusses. Als die Leute bemerkten, dass sie durch Trinken und Schwitzen mehr Wasser verbrauchten als sie dem Fluss entnehmen konnten, stellten sie das Graben ein. Viele Menschen kamen auch nachts an den Fluss um das Wild zu schießen, das im ausgetrockneten Flussbett vergeblich nach Wasser suchte. Eigentlich war es Wilddieberei, worauf in Vorarlberg hohe Geldstrafen standen. Die Jagdpächter und ihre angestellten Jäger wurden jedoch der vielen Wilddiebe nicht Herr, und in ihrem eigenen Interesse verzichteten die Jäger darauf die Wilddiebe mit Waffengewalt zu vertreiben. Zudem war es äußerst schwierig die Wilddiebe zu stellen, weil sie von den unmöglichsten Stellen in den Talkessel eindrangen und sich in der Nähe vom Flussbett gut versteckten. Die Jäger wussten, dass verzweifelte Menschen unberechenbar sind. Die Wilddiebe wollten ihre Familien ernähren, und da sie alle bewaffnet waren, ließen sich die Jäger immer weniger blicken, zumal die Wilddiebe auf ihresgleichen losgingen und sich gegenseitig die Beute abnahmen, was nicht selten in einer tödlichen Schießerei endete. Auch Severin hatte in der Nähe das ein oder andere Wild erlegt, und obwohl er die Gegend besser kannte wie die meisten anderen, wurde ihm die Jagd am Fluss zu gefährlich. Manche Wilddiebe waren mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet, und dagegen war man machtlos, es sei denn man legte sich selbst ein Nachtsichtgerät zu, was bedeutete, dass man sich auf einen Krieg einließ der in diesem Talkessel einige Tote forderte. Als dann das Wild nicht mehr kam, war es schnell vorbei mit diesem hinterhältigen Guerillakrieg, und es kehrte wieder Ruhe ein im Talkessel. Während er im trockenen Bachbett dahinwanderte gingen Severin unzählige Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf. Erinnerungen an das ausgelassene Planschen seiner Kinder im Wasser, der Geruch von Lagerfeuer, die vielen Schüsse der Wilderer die ihm Talkessel hallten, das Anpirschen auf das Wild und später das Verstecken vor den Wilddieben. Wie sollte es im Beruf weitergehen? Viel zu lange schon machte er seinen Job als Tischler. Wie oft nahm er sich vor eine andere Ausbildung zu machen. Doch anfangs war es die Familie die er verhalten musste und die Schulden auf sein Haus die er abbezahlen musste, und ihn von einer beruflichen Veränderung abhielten. Nach der Trennung von seiner Frau waren es die monatlichen Alimente die er für seine Kinder zahlen musste, die es ihm unmöglich machten Geld anzusparen um eine andere Ausbildung zu machen, aber welche? Danach war es das Alter, und die damit einhergehende Bequemlichkeit die ihn seine Veränderungsabsichten unterdrücken ließen. Seit Jahren schon lebte er in derselben 3-Zimmer Wohnung im selben Ort wo er immer schon lebte. Gewiss, vielen Leuten war ein schlechteres Los beschieden als ihm, ein viel schlechteres. Aber viele Leute führten auch ein abwechslungsreicheres, interessanteres und liebevolleres Leben als er. Warum bedauerte er sich plötzlich nur so sehr? Warum wollten seine Kinder keinen Kontakt mehr mit ihm? Er liebte sie doch, oder liebte er sie zu wenig? Severin drehte sich um, um nachzusehen ob niemand in der Nähe war, denn die ersten Tränen rannen ihm über die Wangen, und er konnte nichts dagegen tun. Was war nur los mit ihm, er hatte doch sein Leben im Griff, er fühlte sich stark, gereift, liebevoll. Den Trennungsschmerz hatte er doch schon längst überwunden, er hatte gelernt sich selbst zu lieben und für seine Lebensumstände dankbar zu sein. Sein Leben hatte er auf einem stabilen Fundament Stück für Stück errichtet, und nun fühlte es sich für ihn an als würde dieses Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Immer tiefer versank er in Selbstmitleid, Selbstzweifel, Scham, Angst und Trauer. Nichts fühlte sich mehr gut an, die Tränen flossen wie Bäche aus seinen Augen über die Wangen und trübten seine Sicht, er wurde durchgeschüttelt von Weinkrämpfen wie er sie noch nie zuvor hatte. Immer wieder, wie Wellen brachen die Tränen aus seinem Inneren hervor. Unkontrollierbare Trauer und Verzweiflung erschütterten sein Selbstbild. Er weinte laut, erbärmlich und herzzerreißend, und er konnte nichts dagegen tun. Völlig entkräftet sackte er in sich zusammen, und lag wie ein Häufchen Elend auf den harten Steinen im Flussbett. Severin gab seine Selbstkontrolle auf, er ließ es zu, dass sich der Herzschmerz in jede Zelle seines Körpers ausbreitete und vollständig die Kontrolle übernahm, bis er glaubte, dass nichts mehr von ihm übrig war. Wie lange er so auf dem Flussbett lag, wusste er im Nachhinein nicht mehr. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit in der er dem Nichts immer näher kam. Wie ein Phönix verbrannte er vor Schmerz und Trauer, bis er spürte wie allmählich, wie ein unscheinbares Licht in der Ferne, die Kraft wieder in seinen Körper zurückkehrte, und er sich aus der unbequemen Lage erheben konnte. An einer uneinsichtigen Stelle am Abhang setzte er sich auf einen Stein, blickte erneut in alle Richtungen ob irgendjemand in der Nähe war und seinen Schwächeanfall mitbekommen hatte. Aber es war niemand zu sehen, und so ließ er die letzten Wellen der Tränen über sich ergehen, die sich nun nicht mehr wie Schmerzen anfühlten. Vielmehr fühlte er sich gereinigt. Die Gedanken die ihn so sehr bedrängten waren weg und alles fühlte sich zunehmend leicht an, als hätte er sich verliebt. Nun grämte er sich nicht mehr wegen seinen Kindern die ihn ignorierten. Eine völlig neue Erkenntnis breitete sich wie ein weiches, buntes Tuch über sein Herz, weil er seine Kinder als Engel sah, die ihm beibrachten sich selbst zu lieben, anstatt ihnen nachzutrauern. Diese Erkenntnis fühlte sich unbeschreiblich tröstend und bereichernd an. Es drängte sich ihm der Vergleich mit einer Batterie auf, was soeben mit ihm geschehen war. Er wurde förmlich bis zur Neige leer gemacht und ausgequetscht, und nun wurde er wieder auf wundersame Weise aufgeladen. Severin fühlte sich immer stärker, liebevoller, mit sich und der Welt im Reinen. Er wollte sich wieder bewegen, und so ging er leicht und beschwingt weiter dem Flussbett entlang, ohne darauf zu achten, dass die Zeit unaufhaltsam voranschritt. Er schwelgte in seinem Hochgefühl und wollte es in dieser wunderschönen Umgebung bis zur Neige auskosten. Nur zögernd drang die Tatsache in sein Bewusstsein durch, dass es allmählich dunkel wurde. Severin erholte sich zunehmend von seinem Gefühlsrausch, und realisierte seine prekäre Lage. Es war zu gefährlich den Heimweg durch das Flussbett anzutreten, weil es bald dunkel werden würde und er keine Taschenlampe bei sich hatte. Überhaupt war er nicht ausgerüstet um im Freien zu übernachten. Er hatte kein Feuerzeug, keinen Schlafsack, nichts zu essen und zu trinken dabei, und doch war es ihm egal. Er würde die Nacht im Freien überstehen, dessen war er sich sicher, und so überwand er sehr schnell den Schock der ihn kurzzeitig überkam. Da er keine Angst vor unerwartet auftretenden Wassermassen haben musste, machte er sich entspannt auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Während er so dahin ging, nahm er wahr wie sich das Flussbett veränderte. Jedes Mal wenn er hier entlang ging, sah die Umgebung ein bisschen anders aus, mal mehr mal weniger, je nachdem wie viele Erdrutsche sich von den Hängen lösten und wie groß sie waren. Vor einigen Jahren löste sich weiter taleinwärts eine riesige Mure die den ganzen Fluss wie ein Staudamm aufstaute. Als die ersten am Fluss ansässigen Betriebe kein Wasser mehr zur Produktion ihrer Ware und zur Kühlung der Maschinen hatten, machten sich 3 Männer auf den Weg entlang des Flusses, um nachzusehen was geschehen war. Alle 3 Männer kamen während ihrer lebensgefährlichen Erkundungstour ums Leben. Während sie immer weiter hochgingen in Richtung Quelle, barst der Erdwall der das Wasser staute, und durch den gewaltigen Druck des aufgestauten Wassers, brauste das Wasser mit enormer Geschwindigkeit Richtung Tal. Die Dorfbewohner erzählten sich immer noch wie schrecklich es damals geklungen hatte, als die Wassermassen ins Tal stürzten. Wie ein minutenlanges, ohrenbetäubendes Donnergrollen habe es geklungen, und von den drei Männer wurde nur noch einer mehrere Kilometer weiter unten gefunden. Zumindest ging man damals davon aus, dass die unkenntliche und unidentifizierbare Leiche einer der drei Männer war. Dieses Schicksal würde Severin mit Sicherheit nicht ereilen, dessen war er sich sicher. Doch allmählich drängte die Zeit, und es wurde immer dunkler. Nach einer weiteren Flussbiegung sah Severin zu seiner Rechten einen abgegangenen Erdrutsch, der eine Höhle im Felsen freilegte. Während all der Jahre die er in diesem Flussbett unterwegs war, hatte er noch nie eine Höhle im Felsen entdeckt. Von Neugier getrieben kletterte an der Geröllhalde hinauf, und spähte in das Innere der Öffnung. Die Dunkelheit ließ es nicht zu die Höhle weiter als 5 Meter zu erkunden. Severin befand den Platz oben auf der Geröllhalde für perfekt um darauf zu übernachten. Er entfernte die größeren Steine und ebnete sich mit dem feineren Geröll einen Platz auf dem er, so bequem wie es den Umständen entsprechend möglich war, schlafen konnte. Hier war er auch sicher vor Steinschlägen und Erdrutschen. Severin legte sich hin und fühlte sich sicher und wohl in seiner Haut. Den tragischen Unfall der drei Männer blendete er aus, und übergab sich wieder dem Hochgefühl seiner kürzlich erfahrenen Läuterung, Reinigung und der erhebenden Einsichten. Es war nicht nur die Einsicht dass seine Kinder Engel waren die ihn ein Stück auf seinem Lebensweg begleitet haben und ihm etwas beibrachten, es war auch die Einsicht, dass sein Leben einen Sinn hatte, dass alles was geschah richtig war und dass er nichts zu bereuen hatte. Er selbst war völlig in Ordnung, alles fühlte sich richtig an, und er war genau so wie Gott ihn haben wollte. Erhabene Gedanken, die wunderbare Gefühle in ihm auslösten.

Mit unter dem Kopf verschränkten Armen stellte sich Severin vor, wie er auf einer grünen mit Blumen bewachsenen Wiese liegt. Hinter ihm hörte er das Rauschen der Bäume die sich träge im sanften Wind bewegen, und vor ihm dehnt sich das Meer unendlich weit aus. In seinem Wachtraum hörte er die regelmäßig anbrandenden Wellen und das leise Flüstern des Windes der durch die Gräser streicht. In diesem Hochgefühl und den wunderschönen Bildern im Kopf fiel Severin in einen tiefen und festen Schlaf.

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