Читать книгу Present in the Past - Ronald Nitz - Страница 4

Zeitreise in ein unbekanntes Land, oder doch nur ein Traum?

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Als Severin aufwachte fühlte er sich wie neu geboren, voller Energie und Tatendrang. Dass man so überschwänglich einen neuen Tag begrüßt, kannte er eigentlich nur als eine schwer umsetzbare Empfehlung aus den Selbsthilfebücher, die er regelmäßig las um seine Gedanken positiv auszurichten. Jetzt musste er sich nicht überwinden um den neuen Tag zu begrüßen, das funktionierte in dieser traumhaft schönen Umgebung wie von selbst. Plötzlich konnte er sich wieder erinnern, dass er mit diesen Bildern im Kopf und im Herzen einschlief. Also schloss er die Augen, da er glaubte, dass er sich immer noch in einem Traum befand. Nach einer Weile war sich Severin ganz sicher, dass er nicht mehr schlief, und öffnete erneut die Augen. Er war sich sicher, dass er nicht mehr träumte, und doch bot sich ihm derselbe Anblick wie zuvor. Er fühlte das Gras auf dem er lag, er nahm das Gras in die Hand und zog daran, bis einige Halme abrissen und sich manche Halme mitsamt der Wurzel aus dem Erdreich lösten. Gras, wie lange hatte er schon kein grünes Gras mehr gesehen geschweige denn angefasst. Aber wie war das möglich, wieso lag er in einer Blumenwiese, welche Umstände führten ihn an diesen traumhaften Ort mit einem türkisblauen Meer, einem weißen Sandstrand, grüne Bäume, Wolken am Himmel. Was in Gottes Namen war mit ihm geschehen? Die Wahrnehmung seiner neuen Situation bewirkte bei Severin einen Realitätsschock, der alle seine Körperfunktionen verlangsamte, ihn abrupt schwächte und ihn zwang mit Ruhe und Bedacht seine Lage zu analysieren und vorsichtig die neue Umgebung zu erkunden. Er erhob sich unter Aufbringung all seiner Kraft und machte langsame, kleine Schritte auf der Wiese. Das platt gedrückte Gras auf dem er gelegen hatte war keine Illusion. Keine Frage, das alles war echt. Das Gras fühlte sich wie Gras an, die Luft roch salzig und frisch. Der tieferliegende Strand und das Meer sahen genauso aus wie er es ein paar Stunden zuvor in seinem Wachtraum gesehen hatte. Dann drehte er sich um und blickte auf einen gesunden Wald hinter dem sich ein durchgehender Gebirgszug erhob. Obwohl der Strand und das Meer ihn lockten, wollte er zuerst zu den Bäumen landeinwärts gehen, er wollte sie berühren, daran rütteln um sicher zu gehen, dass, was eigentlich? Das alles war mit Sicherheit echt, aber sein Verstand weigerte sich vorerst anzuerkennen, was nun mal eindeutig klar war. Er war verreist! Hatte er eine Zeitreise gemacht, war er in einem Paralleluniversum, oder war er vielleicht tot und befand sich nun im Paradies? Vielleicht hatte sich in der Höhle doch ein Stein oder ein Felsen gelöst und ihn während des Schlafs erschlagen. Die Idee dass er im Paradies war gefiel ihm. Der Schock löste sich allmählich auf und er spürte wie Kraft, Freude und Begeisterung sich in ihm ausbreiteten. Er war bereit für neue Taten, für Erkundungen, Expeditionen in die unbekannte Umgebung. „Gott existiert, er hat meine Wünsche, die ich gar nie richtig formuliert habe, von der Seele abgelesen und ihn ins Paradies geführt. Gottes Wege sind wirklich unergründlich“, dachte er bei sich, und strahlte förmlich vor Freude und Seligkeit. Es war Severin egal, dass er als Mensch gestorben und sich nun als Geistwesen im Himmel befand, so was von vollkommen scheißegal. Das hier war einfach nur, WOW!!!, großartig, vollkommen, genau sein Ding, seine neue Heimat, seine Spielwiese, sein eigenes Paradies. Severin war in seinen Ferien schon in ähnlichen Gegenden gewesen, mit einem Meer wo das Wasser sauber war und man bis auf den Grund sehen konnte und mit Klippen zum runterspringen. Neben dem Sandstrand sah er von seinem Standpunkt aus eine weitere kleine Bucht mit einem Kiesstrand, der durch einen ins Meer ragenden Felsen vom Sandstrand abgeschnitten wurde. Zwei derartig unterschiedliche Strände in unmittelbarer Nähe zueinander hatte er noch nie irgendwo gesehen. Die Kiesel erzeugten einen ganz eigenen Klang wenn das Meer in stetig gleich bleibendem Rhythmus ein- und ausatmete, und die Wellen kraftvoll über die Kiesel rauschten. Die grasbewachsene, fast ebene Anhöhe auf der er stand, war etwa 5 Meter oberhalb des Meeresspiegels und breitete sich nach links, rechts und nach hinten Richtung Wald etwa 300 Meter, circa 3 Fußballfelder weit aus. Nach vorne hin Richtung Meer fiel der Abhang in flachem Winkel ab. Mancherorts sah er einen Felsen aus dem Abhang ragen, doch größtenteils war die ganze Fläche des Abhangs ein leicht abschüssiger Sandstrand. Eine so kitschig schöne, idyllische Landschaft hatte Severin wahrscheinlich noch nie gesehen, weder in einem Prospekt noch im Fernsehen. Dies musste definitiv das Paradies sein. Er hatte ungehinderten Zugang zum Strand, nirgendwo gab es einen Zaun und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Die Ausdehnung der vor ihm liegenden Meeresbucht die durch die Gebirgsausläufer eingegrenzt war, war schwer abzuschätzen. Severin schätzte, dass sie sich von links nach rechts circa einen halben bis einen Kilometer ausdehnte. Links und rechts ragten die nur spärlich mit Gras bewachsenen Felsen bogenförmig in das Meer hinein, wobei die linke Felsflanke weiter ins Meer hinaus ragte, sodass keine Öffnung aufs Meer hinaus erkennbar war. Aber es musste wohl eine Öffnung geben, da es sonst keinen Wellengang gegeben hätte. Schiffe könnten hier wohl keine in die Bucht einfahren, dachte sich Severin. Wenn überhaupt, könnte nur ein kleines Ruder- oder Motorboot um die vielen in der Meeresbucht aufragenden kleineren und größeren Felsen herum manövrieren, falls es überhaupt möglich war durch den von hier aus nicht sichtbaren Eingang in die Meeresbucht zu gelangen. Um dies herauszufinden hatte Severin noch genug Zeit, eine Sehenswürdigkeit nach der anderen würde er genauestens erkunden. Es gab sogar Vögel, und das Kreischen der Möwen passte perfekt zu dieser Idylle, die ihn immer mehr faszinierte. Die Ausdehnung der Meeresbucht vom Strand bis hin zur Öffnung bei den Felsen schätzte Severin auf höchstens 100 Meter. Die Felsen welche die Meeresbucht begrenzten sahen aus wie zwei Hände die nach vorne gerichtet sind und sich bogenförmig ineinander verschränken, ohne dass sie sich gegenseitig berühren. Alles fühlte sich echt an, selbst die Uhr an seinem Handgelenk, die stehen geblieben war, was bis jetzt dreimal vorkam, und das auch nur weil die Batterie leer war. Die Batterie hatte er erst vor einem Monat, im Juni als er Geburtstag hatte, wechseln lassen. Severin konnte es nicht leiden wenn seine Uhr nicht funktionierte. Er hätte gerne gewusst wie spät es ist. Die Sonne stand in Blickrichtung nach vorne relativ hoch am Himmel, was bedeutete, dass vor ihm Süden und ungefähr Mittagszeit war, was er sofort mit Mittagessen assoziierte. Aber im vermeintlichen Paradies spielt die Zeit wohl keine Rolle, und Engel, oder was auch immer er jetzt war, brauchten seines Wissens nichts zu essen. Doch Severin spürte den Hunger und Durst sehr deutlich. Seit er von zuhause aufbrach und durch den Wald und das ausgetrocknete Flussbecken zu der Geröllhalde wanderte, auf der er eingeschlafen war, hatte er nichts mehr gegessen und getrunken. Um 15 Uhr marschierte er von zuhause los, und jetzt war es ungefähr 12 Uhr Mittag. Also hatte er mehr als 20 Stunden nichts mehr zu sich genommen, was eine gute Erklärung für seinen Mordshunger und seinen großen Durst war. Folglich war er doch nicht im Paradies, und offensichtlich auch nicht gestorben. Eine Einsicht die Severin glücklich stimmte, weil der Gedanke auf diesem Stückchen Erde lebendig zu sein, überaus reizvoll für ihn war. Doch darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen, jetzt galt es vorrangig Trinkwasser zu suchen, wofür die Aussichten im Wald hinter ihm wahrscheinlich besser standen als unten am Meer. Andererseits würde er wahrscheinlich eher unten bei den Felsen etwas zum Essen finden als im Wald. Kleine am Felsen festsitzende Muscheln oder Muscheln vom Strand könnte er bestimmt roh essen, zumal es nicht so aussah als ob hier Abwasser ins Meer geleitet werde. Das Meerwasser schien auf den ersten Blick klar und sauber zu sein. Wasser war wichtiger, und da seine Kräfte bald schwinden würden, trottete er gemächlich Richtung Wald, den Blick immer am Boden umherschweifend falls er auf ein Vogelnest mit Eiern darin stoßen sollte. Wie ein halbrunder Zaun wurde diese fast gänzlich ebene Wiese von einem sanft ansteigenden waldbewachsenen Hügelring eingefasst. Wobei es von hier nicht möglich war einzuschätzen ob dies wirklich ein Hügel war, denn hinter den Bäumen ragte ein Gebirge auf, das ebenso gut in seiner Heimat in Vorarlberg hätte sein können. Ein Gebirge, das war eindeutig gut für ihn, denn wo ein Gebirge ist, gibt es meistens auch einen Fluss. Er würde Wasser finden, dessen war er sich fast sicher. Jedoch musste er darauf achten mit seinen Kräften hauszuhalten. Bei seinen Wanderungen in seiner Heimat hatte er sich oft genug verlaufen. Bei diesen Irrwegen folgte er meistens begehbaren Wildwechseln die in einer Sackgasse endeten oder er folgte Pfaden die in einem Tobel endeten. Um aus diesen Tobeln rauszukommen musste er oft gefährliche Abhänge hinauf klettern, was dumm und fahrlässig war. Nicht selten hängte er in einer Wand und hatte Angst davor weiter hinauf und noch mehr Angst davor wieder hinunter zu klettern. Es kam nicht oft vor, dass er sich in so gefährliche Situationen brachte, aber Severin wusste um die Unberechenbarkeit der Natur und um seine vergangenen Fehleinschätzungen die er mit Glück korrigieren konnte. Ein guter Kletterer war er bestimmt nicht, und mit seinen 50 Jahren musste er auch nicht mehr jeden unbekannten Winkel erforschen. Dennoch würde es immer eine seiner großen Leidenschaften bleiben Naturlandschaften die ihm gefallen zu erkunden, in neue ihm unbekannte Gegenden vorstoßen um Neues zu sehen, riechen, hören und fühlen. Und was für das Außen galt, musste auch für sein Inneres gelten. Severin gefiel es neue Seiten an sich zu entdecken, neue Methoden und Praktiken, sofern sie nicht zu exzessiv waren, auszuprobieren und kennenzulernen. In spirituell esoterischen Kursen und Ausbildungen fand und entdeckte er immer wieder neue Aspekte des Lebens, konnte neue Gefühle wahrnehmen und spüren, Erklärungen finden, Antworten auf seine Fragen finden, sich geistig und emotional weiterbilden. In seiner Heilpraktikerausbildung fand er einen neuen, intensiveren und direkten Zugang zu Geistwesen, zu seinem Schutzengel, zum Geistführer und vor allem zu Gott, der wirklich wie verheißen in seinem Inneren war und mit dem er Kontakt aufnehmen konnte wann immer ihm danach war. Bei einer schamanischen Ausbildung unternahm er Reisen in sein Unterbewusstsein, das ihm immer wieder Neues enthüllt, und er lernte dabei sein Krafttier und andere Geistwesen kennen. Bei angeleiteten und allein durchgeführten Visionssuchen bekam er Einsichten über sein Leben, die er im Alltag niemals entdeckt hätte. Severin war kein Gefangener der spirituell esoterischen Ausbildungsindustrie. Es konnten auch Jahre vergehen, bis ihn aus der Zeitung oder im Internet ein Kurs oder eine Ausbildung ansprach, die er dann auch machte. Diese Ausbildungen kosteten zum Teil viel Geld, doch wie andere Leute viel Geld für teure Autos, Reisen oder dergleichen ausgeben, so leistete sich Severin hin und wieder eine Ausbildung für seinen Geist, sein Herz, seine Seele und nicht zuletzt auch für seinen wissbegierigen Verstand. Severin empfand diese Ausbildungen stets als eine Bereicherung, die zu einem stetig veränderten Selbstverständnis beitrugen, das er gut aushalten konnte. Nichts bleibt wie es ist, und schon gar nicht wenn ständig neue Eindrücke, Erkenntnisse und Lebensinhalte in das eigene Leben einfließen. Das war auch der Grund wieso er sich beruflich und privat eine Veränderung herbei sehnte, und nun war sie da. Rund um ihn herum breitete sich diese Veränderung aus, und zwar in einem Ausmaß das er gar nicht richtig einordnen konnte, und ihm doch ein wenig Angst machte. Es war weniger die Angst vor Durst oder Hunger zu sterben, vielmehr war es die Angst vor der Ungewissheit und die Angst vor seinem Kontrollverlust. Plötzlich vermisste er auch Menschen die ihm nahestanden, oder überhaupt jemand mit dem er sich austauschen, jemand mit dem er sein neues Schicksal gemeinsam tragen konnte. Während er auf der Wiese ging und seinen Gedanken nachhing, die offensichtlich an keinem Ort auf Gottes Welt zur Ruhe kommen, erreichte er die ersten Bäume. Es war ein Mischwald, er sah Buchen, Eichen, Eschen, Föhren, Weißtannen, Birken und vor allem Fichten. Severin liebte Fichtenwälder, weil er oft und gerne Pfifferlinge und Steinpilze suchte die mehrheitlich dort zu finden sind wo Nadelgehölze wachsen. Wenn an heißen Tagen die Sonne auf lichte Fichtenwälder scheint, breitet sich ein betörender Duft aus der mit nichts vergleichbar ist, außer einem Schaumbad mit Fichtennadelduft. Vielleicht war er Nachtgewandelt, erhob sich aus seinem Schlaflager und wanderte im Wald umher. Doch bei ihm zuhause in Vorarlberg gibt es kein Meer, im Paradies war er auch nicht, also musste er wohl noch auf der guten alten Mutter Erde wandeln, aber wo? Er würde die Antwort noch finden, dessen war er sich sicher. Jetzt galt es Wasser zu finden, und wo Gras und Bäume wachsen gibt es auch Wasser. Als er auf dem Waldboden entlang ging, knackten brechende Zweige unter seinen Füßen. Am Anfang des Waldes war der Waldboden mit Moos bewachsen und mit Tannennadeln übersät und gab unter seinem Gewicht nach. Je tiefer Severin in den Wald hinein kam, umso mehr Hindernisse musste er umgehen. Der Wald wurde eindeutig nicht bewirtschaftet. Überall lagen Äste, umgestürzte Bäume und Felsbrocken in unterschiedlicher Größe. Im Boden taten sich Löcher auf und von manchen Bäumen hingen geisterhaft meterlange Flechten und Moose. Manche dieser Löcher waren so groß, dass man darin ein Auto hätte versenken können. Trotz der geisterhaft wilden Atmosphäre fühlte sich Severin auf Anhieb wohl und sicher im Wald. Er musste daran denken wie er zuhause unzählige Male im Wald ein Feuer machte, und eine Wurst auf einem Holzspieß zum Grillen ins Feuer hielt. Solche Gedanken musste Severin aber schnell unterdrücken, weil sich dadurch sein Hunger schmerzhaft meldete. Mehr noch als der Hunger quälte ihn allmählich der Durst, doch daran durfte er einfach nicht mehr denken. Wer weiß wie lange er noch unterwegs sein muss, um seinen Hunger und seinen Durst zu stillen. Ein freches Eichhörnchen huschte 10 Meter vor ihm vorbei und kletterte einen Baum hoch. In der Mitte des Baumes hielt es noch einmal inne um neugierig den Eindringling in seinem Revier zu erkunden, bis es schließlich weiter kletterte und Severins Blick entschwand. Es gab auch Vögel im Wald. Der Eichelhäher hatte schon nach den ersten Schritten die Severin im Wald gemacht hatte mit seinem ratschenden Alarmruf die Waldbewohner über einen Neuankömmling informiert und gewarnt. Der Häher war nicht gleich zu sehen, erst als er zwischen den dicht stehenden Bäumen umher flog und angeberisch mit seinen Flugkünsten durch das dichte Astwerk manövrierte, waren seine unverkennbaren blau schimmernden Federchen zu sehen, die charakteristisch für den Eichelhäher sind. Bestimmt gab es auch Meisen, Eulen, Rehe, Spechte, Fuchs und Hase. Was für eine unverhoffte und höchst willkommene Überraschung! Gibt es hier vielleicht auch Wölfe oder gar Bären? Der plötzliche Gedanke an diese Wildtiere behagte Severin nicht besonders, und so achtete er auch aufmerksam auf Spuren am Boden. Einem Angriff von Wölfen oder von einem Bären könnte für ihn höchst ungünstige wenn nicht sogar tödliche Folgen haben. Offensichtlich war der Tod auch hier allgegenwärtig, doch da er bis vor kurzem davon ausgegangen war, dass er tot war, gelang es ihm die Gedanken an die Fleischfresser, ans Verhungern und Verdursten und allgemein an den Tod zu verdrängen. Wieso sollte ihn, welche Macht auch immer, hier her führen nur um dann irgendeines Todes zu sterben. Nein, der Tod konnte ihn mal kreuzweise, oder besser, ihn vielleicht vorübergehend oder zumindest einstweilen an ihm vorüber gehen. Schließlich wollte er sich nicht unbedingt mit dem Tod anlegen, das wäre doch ein wenig vermessen gewesen. Severin schritt wohlgemut voran bis ein riesiger Felsblock ihn am Weitergehen hinderte. Er musste links an ihm vorbei gehen, wobei er sich vorstellte wie dieser gewaltige Felsen irgendwo im Gebirge abgebrochen und mit donnerndem Lärm und erderschütternd bis hier her gerollt war. Welch ein gewaltiges, grandioses Spektakel musste dieser Felsen veranstaltet haben. Eigentlich war der Waldstreifen gar kein Hügel, wie er zuerst annahm. Es war ein relativ ebener Wald der sich zwischen zwei Wiesen erstreckte. Nachdem er den großen Felsen passierte, konnte er durch die Lücken der Bäume das Gebirge sehen, das nicht mehr allzu weit weg war. Den Wald hatte er in etwa einer halben Stunde durchquert, was bedeutete, dass der Wald an der Stelle wo er ihn durchquert hatte, ungefähr 2 Kilometer breit war. Der Marsch zehrte immer mehr an seinen Kräften und bisher hatte er weder etwas Essbares noch Wasser gefunden. Als er aus dem Wald trat, erstreckte sich vor ihm eine ausgedehnte, unebene Grasfläche auf der kleine Büsche wuchsen und auf der überall unterschiedlich große Steine und Felsbrocken lagen. Wie eine Weide auf einer Gebirgsalm mutete das Gelände an, und erneut drängte sich Severin der Vergleich mit Gegenden in seiner Heimat auf. Sogar die Berge waren grasbewachsen, zum Teil bis hinauf zu den Gipfeln. Das unebene Gelände erstreckte sich über einige hundert Meter bis zum Fuße der Berge, die unterschiedlich hoch aber an keiner Stelle, soweit er es von seinem Standpunkt aus beurteilen konnte, einfach zu überqueren waren. Severin ließ sich treiben und wanderte möglichst kräftesparend nach rechts. Um den Steinen, Gräben und Büschen auszuweichen, ging er am Waldrand entlang, der relativ gut begehbar war. Er konnte nirgends eine besondere Veränderung der Vegetation oder des Geländes entdecken, die auf ein Wasservorkommen, einen Bach, einen See, ein Tümpel oder dergleichen hingewiesen hätte. Auch akustisch gab es keinerlei Hinweise auf Wasser. Umso erstaunter war Severin als sich plötzlich vor ihm unzählige Wasserrinnen befanden. Die Wasserläufe waren alle unterschiedlich breit, die einen waren nur wenige Zentimeter breit und andere bis zu einem Meter. Beim erst besten breiteren Wasserlauf tauchte Severin seinen Kopf in das unbeschreiblich herrlich kühle Nass. Solch ein Einblick bot sich ihm schon viele Jahre nicht mehr. Frei zugängliches und verfügbares Gebirgsquellwasser, das unvergleichlich schmeckte und ihn zutiefst demütig machte. Wieso war ausgerechnet ihm das Glück beschieden solch eine Wonne erleben zu dürfen? Das Wasser schmeckte ausgezeichnet, es breitete seine wohltuende Wirkung in kürzester Zeit in seinem ganzen Körper aus. Er spürte ein unbeschreibliches Prickeln, als würden all seine Zellen mit neuer Energie aufgeladen und all seine Lebensgeister zu neuem Leben erwachen. Wegen seiner anerzogenen Schamhaftigkeit blickte Severin in alle Richtungen und versicherte sich, dass ihm niemand zusieht, dann zog er sich nackt aus und legte sich der Länge nach in einen breiten Wasserlauf. Die Kälte des Wassers machte ihm nichts aus, er wälzte und räkelte sich darin wie ein unbefangenes Kind, das viel zu lange auf das lebendig machende Wasser verzichten musste. Als er seinen Durst gelöscht und sich gewaschen hatte, stieg er aus dem Wasser, und erstarrte vor Dankbarkeit, Demut, Liebe und Ehrfurcht vor dem Leben. Er wünschte sich, dass all die verzweifelten Menschen in seiner Heimat, die in letzter Zeit immer mehr wurden, auch hier sein könnten um sich an dem Wasser des Lebens zu laben. Nicht aus Einsamkeit sondern zum Wohle seiner Mitmenschen hegte er den Wunsch, und dass sie gemeinsam mit ihm hier im Paradies sein könnten. Natürlich war dies nicht möglich. Zum einen wäre dieses Idyll viel zu klein für all die Menschen, und zum anderen wusste er nicht wie sie überhaupt hier her kommen sollten. Er wusste ja nicht einmal wie er selbst hier her gekommen war. Doch dem auf den Grund zu gehen war nicht vordringlich. Nachdem er sich in aller Demut bei Gott für all das Schöne und Erhabene um ihn herum bedankt hatte, wusch er seine Wäsche und hängte sie auf die Zweige der umstehenden Fichten. Einen Wasservorrat brauchte er sich nicht zulegen, vorerst noch nicht, da die Wasserstellen leicht und schnell erreichbar waren, egal an welchem Ort auf dieser Landfläche er sich gerade befand. Severin schätzte, dass der weitest entfernte Punkt nicht weiter als 3 Kilometer weit weg war, egal ob er sich am Meer oder an der entferntesten Gegend des Waldes oder der Wiese befand. Seltsam war es schon, dass die vielen kleinen und größeren Wasserläufe nicht in einen Bach mündeten. Der Waldgürtel war wie ein natürlicher Staudamm und er konnte nirgends entdecken dass ein Bach in den Wald mündete. Wie es schien, versickerte das Wasser in dieser weit ausgedehnten alpähnlichen Landschaft. Aber was würde passieren wenn es regnet oder sich das Schmelzwasser hier ansammelt, würde dann die ganze Gegend überschwemmt, und das ganze Gebiet ein einziger Sumpf sein? Wie auch immer, Severin wollte es nicht zulassen, dass sich solche Gedanken in seinem Bewusstsein festsetzten. Er wollte sein Dasein genießen, sich um nichts und niemand Sorgen machen, einfach sich am Leben erfreuen und das beste erwarten und so wie es aussah, hatte er auch allen Grund dazu. Die Temperatur war angenehm, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Vielleicht war hier Sommer und vielleicht wachsen hier auch Beeren. Bisher hatte er zwar keine gefunden, nicht einmal eine leere Heidelbeerstaude, doch möglich wäre es allemal dass hier Beeren wachsen, und so zog er weiter in die Richtung in die er vorher gegangen war. Irgendwann würde er an die Küste gelangen. Sollte er bis dahin nichts zu essen gefunden haben, konnte er sich immer noch an den Muscheln laben. Der Gedanke daran war zwar nicht sehr erbaulich für ihn, doch um zu überleben würde er selbstverständlich auch Muscheln essen, sofern er sie bei sich behalten konnte. Es machte ihm Spaß über die vielen kleinen und großen Wasserrinnen zu gehen und zu springen. Die Grasflächen hielten seinen 90 Kilo stand, er sank nirgends ein. Das Gelände war kein Sumpf, vielmehr eine gut durchwässerte Wildwiese auf der Blumen, Stauden und Büsche wuchsen. Severin war kein Bauer, doch seiner Einschätzung nach wäre es hier ideal um Viehzucht und Ackerbau zu betreiben, nur mit was? Und plötzlich sah er sie, es waren eindeutig Heidelbeerstauden, an denen zwar noch viele grüne aber auch schon einige reife Früchte hangen. Vor ihm im Wald breiteten sich unzählige Heidelbeersträucher aus, so weit das Auge reichte. Dies war einst ein gewohntes Bild in Vorarlbergs Wäldern. Er fand es nur ungewöhnlich, dass er auf dem Herweg keinen einzigen Heidelbeerstrauch und keine Pilze gesehen hatte, und hier war alles voll mit Beeren und vereinzelt sah er auch ihm bekannte Pilze, die er vorerst unberührt ließ. Wie ein Verhungernder, im wahrsten Sinne des Wortes, machte er sich über die Heidelbeeren her. Sein Mund und seine Hände nahmen in kürzester Zeit eine blauviolette Farbe an. Mehr als genug Beeren waren reif und einfach herrlich, wunderbar, saftig, süß und köstlich. Nachdem sich Severin ungezügelt den Magen vollgestopft hatte, setzte er sich auf den Waldboden und machte eine Pause. Die Muscheln konnten also noch warten. Da Heidelbeeren nicht sonderlich kalorienhaltig sind und kein Fett haben, würde er bald wieder hungrig sein. Also zog er seine Socken aus, stülpte das Innere nach Außen und füllte die Socken randvoll mit Heidelbeeren. Während des Pflückens fand er an lichten Stellen auch ein paar Walderdbeeren, die noch süßer und um eine Haube besser waren als die Heidelbeeren. Severin wollte nicht wählerisch sein, doch die Walderdbeere war und würde immer seine Lieblingsbeere sein. Noch einmal ging er zurück zu den Wasserläufen und wusch sich den Beerensaft so gut es ging von den Händen und vom Gesicht. Er nahm noch einige Schlucke Wasser und ergötzte sich an dem kühlen, erfrischenden Nass, indem er sich mit sauberem Wasser bespritzte. Dann nahm er seine Kleider auf und ging zurück zum Wald. Um nicht auf den Heidelbeersträuchern herum zu trampeln, ging er wieder ein Stück zurück in die Richtung aus der er gekommen war. Da er nun nicht mehr darauf fixiert war Wasser und Essbares zu finden, war er offen für andere Sinneseindrücke. Er hörte das unverkennbare Kreischen von Raben, er entdeckte Pilze, Beeren die er nicht kannte, Buchäcker die ihm später eine willkommene Mahlzeit sein würden, Amseln, der wehmütige Ruf von Raubvögeln die hoch über ihm mühelos durch die Luft schwebten. Er entdeckte Löcher im Boden die wahrscheinlich Fuchs- oder Dachsbaue waren. Große, weitläufige Farnbeete, einen mächtigen Ahornbaum, zierliche weiße Birken, herumliegende kleine Bäume und Äste in allen Größen mit denen er später einen Unterstand bauen würde. Dabei wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er weder ein Feuerzeug noch ein Messer bei sich hatte. Seine spärliche Bekleidung genügte ihm völlig bei Tag, doch was würde sein wenn die Nacht hereinbricht. Würde er dann frieren, und wie sollte er sich gegen die Kälte schützen? Feuer machen ohne Feuerzeug oder Feuerstein war nicht sein Ding. Das hatte er schon mehrfach probiert, doch hatte er nie die Geduld aufgebracht einen trockenen Ast so lange zwischen den Handflächen zu drehen, dass die trockenen Gräser und der Bast von Bäumen, die er auf ein flaches Holz gelegt hatte, zum Brennen kamen. Er war stets ein Outdoortyp, kein Survivaltyp. Er liebte es im Freien zu übernachten, aber immer mit einer Isomatte und einem Schlafsack. Beim geringsten Anzeichen von Frieren packte er sein Zeug zusammen und machte sich auf den Heimweg und schlief in seinem Bett. Feuer machte er mit einer Anzündhilfe die er mit einem Feuerzeug anzündete, und nicht mit sich schnell drehenden Ästen und dergleichen. Er verschmähte zwar nie die reifen Beeren die er fand, war aber auch nie darauf aus sie extra im Wald zu suchen, weil er Essen und Trinken stets bei sich hatte, wenn er länger als ein paar Stunden in der Natur unterwegs war. Gejagt hatte er auch schon lange nicht mehr und vom Fallenstellen hatte er keine Ahnung wie auch vom Bauen von Unterkünften ohne geeignetes Baumaterial und Werkzeug. Soweit er sich bis jetzt ein Bild von seiner Situation machen konnte, hatte er nicht nur keinerlei Ausrüstung, geschweige denn Werkzeug bei sich, es sah definitiv so aus, als lebte in dieser Gegend keine Menschenseele, von der er sich irgendetwas ausleihen hätte können. Hier ist das Paradies, und niemand bewohnt diesen außergewöhnlichen, wunderschönen Flecken Erde, wunderte er sich. Das konnte doch nicht möglich sein! Vielleicht war es auch nur das Ferienidyll eines reichen Menschen, oder gar ein Naturschutzreservat indem er sich nun illegal aufhielt. Und wenn schon, falls er hier entdeckt und des unbefugten Betretens eines Naturschutzgebietes beschuldigt würde, so hätte er zumindest menschliche Interaktion, und einsperren würden sie ihn wohl kaum wegen eines derartig harmlosen Vergehens. Wer weiß, vielleicht war dieser Flecken Erde eine Insel auf der er strandete. Fehlte nur noch ein Freitag, oder besser noch, eine Freitagin. Welch eine verlockende Aussicht, eine von ihrem Stamm ausgestoßene junge, vollbusige Mitbewohnerin. Er würde sie Monday oder Sunday taufen, falls sie eine andere Sprache sprechen sollte. Na ja, Träume sind erlaubt, dachte er sich. Überleben würde er hier, genau wie Robinson Crusoe, das stand für Severin fest. Er kam der Küste immer näher, und seiner Einschätzung nach, war er nicht mehr weit entfernt von dem Platz auf der Wiese wo er aufgewacht war. Wieder blickte er auf die Uhr, nur um erneut festzustellen, dass sie stehen geblieben war. Severin hatte ständig das Bedürfnis zu wissen wie spät es ist. Er wollte wissen wie lange er brauchte um von A nach B zu kommen und um welche Zeit die Sonne auf und unter geht. Seine trivialen Gewohnheiten meldeten sich und wollten befriedigt werden. Ihm war durchaus bewusst, dass er seine Gewohnheiten in seiner Situation nicht befriedigen konnte. Dennoch hatte er das Bedürfnis nach Orientierung und Struktur. Er wollte wissen wie lange etwas dauert oder wann Essenszeit ist. Nur widerstrebend befasste er sich mit dem Gedanken, dass er sich anderweitig orientieren musste. Er würde lernen müssen mit den Entbehrungen umzugehen und auf seine Instinkte zu vertrauen, sofern es diese Instinkte überhaupt gab. Wie kann ein Instinkt, eine Ahnung, ein Bauchgefühl vertrauenswürdig sein, wenn man es nie oder nur selten braucht, fragte er sich während er auf der Wiese dahin marschierte. Als er den Platz mit dem niedergedrückten Gras erreichte an dem er aufgewacht war, blieb er stehen und blickte mit einer Mischung aus angstvoller Unsicherheit und fassungslosem Staunen auf das unendlich weite silbern glitzernde Meer. Die stundenlange Wanderung, das viele Grübeln und die Wechselbäder seiner Gefühle hatten ihn müde gemacht. Da er immer noch nackt war, zog er seine noch feuchten Kleider und seine Schuhe an, und legte sich auf das von der Sonne aufgewärmte Gras. Er verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und ließ sich von der stetigen, lauwarmen Meeresbrise die Gedanken aus seinem Kopf wehen. Über ihm zogen vereinzelte Wolken über den klaren, blauen Himmel. In diesem Moment fühlte sich Severin frei, glücklich, zufrieden, völlig im Reinen mit sich und der Welt, genau so wie gestern, als er in der Höhle einschlief. Die rauschende Meeresbrandung mit ihrem regelmäßigen, trägen Rhythmus wiegten Severin in einen tiefen und festen Schlaf.

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