Читать книгу Present in the Past - Ronald Nitz - Страница 5

Vorarlberg

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Als er mit schmerzenden Gliedern aufwachte, lag er im Eingang der Höhle auf dem Plateau der Geröllhalde, genau an derselben Stelle an der er am Tag zuvor eingeschlafen war. Severin brauchte eine Weile um sich dessen bewusst zu werden, und an der neuen, alten Wirklichkeit anzuknüpfen. Es konnte unmöglich sein, dass dies alles nur ein Traum war, und doch deutete alles darauf hin. Einen derartig realistischen Traum hatte er sein ganzes Leben noch nie. Welch eine enttäuschende Erkenntnis, dass er all diese Erlebnisse und Eindrücke von der unvergleichlichen Natur die er mit all seinen Sinnen wahrgenommen hatte, nur ein Traum waren. Dennoch war es tausendmal besser als nichts. Der Traum war erfrischend, berauschend und er fühlte sich kraftvoll und mit sich im Reinen. Statt enttäuscht zu sein, entschloss sich Severin dankbar zu sein, dass er das alles erleben durfte, auch wenn es nur ein Traum war. Und wenn schon, für ihn fühlte sich der Traum echt an. Gott gewährte ihm einen Ausblick aufs Paradies, was für ihn eine riesengroße Bereicherung war, die ihm höchst willkommen war. Severin stand auf, warf noch rasch einen Blick in die Höhle die er sehr bald genauer erkunden würde. Auf den ersten Blick gab sie nicht viel her. Es war noch zu dunkel um jede Vertiefung in der Höhle erkennen zu können. Es schien nicht so als würde sie weit in den Felsen hinein ragen, dennoch erschrak er als er erkannte, dass der Höhlenboden mindestens 5 Meter unter ihm war. Wenn er sich nur drei oder viermal während des Schlafs umgedreht hätte, wäre er über die Geröllhalde entweder in die Höhle oder vorne ins ausgetrocknete Bachbett gerollt. Gott sei Dank war er kein Schlafwandler, und so machte er sich mit den Eindrücken der vergangenen Nacht frohgemutes auf den Heimweg. Im Zwielicht der Morgendämmerung konnte er genug sehen um zu erkennen wohin er seine Füße setzte. Während er durch das Bachbett wanderte und unbeschwert mit frohem Herzen über die Steine balancierte, gingen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf. Severin verspürte das dringende Bedürfnis mit jemandem über seinen Wahnsinnstraum zu sprechen, aber mit wem? Mit seinen Verwandten die ihm momentan am nächsten standen wollte er nicht unbedingt über das Erlebte sprechen, dazu war ihre Beziehung zu oberflächlich. Aber wieso eigentlich nicht? Wer eine Veränderung in seinem Leben herbeiführen möchte, muss auch die nötigen Taten folgen lassen. Severin war bereit für Veränderungen, obwohl, ausgerechnet mit den Verwandten anfangen? Wenn überhaupt, dann würde er zuerst mit seinen beiden ältesten Töchtern reden. Abgesehen davon war ja nichts Weltbewegendes geschehen. Es war ja nur ein Traum.

Wie triste und öd war die Landschaft hier im Vergleich zu derjenigen aus seinem Traum. Ein staubtrockenes Flussbett, an den Hängen auf beiden Seiten lagen überall umgestürzte, entwurzelte, tote Bäume. Als er weiter talauswärts einen Hang hinaufstieg um durch den Wald nachhause zu gehen, drängte sich ihm erst recht der Vergleich mit dem Wald aus dem Traum und seinen Erinnerungen auf. Nur noch wenige Fichten trugen vereinzelt noch grüne Nadeln. Wahrscheinlich konnten die Bäume die Luftfeuchtigkeit absorbieren um so am Leben zu bleiben. Mit ihren Wurzeln konnten sie keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen. Es gab noch viele grün belaubte Büsche, die offensichtlich nicht so viel Wasser brauchten wie die Bäume. Ein Feuer würde hier verheerende Folgen haben, was in der näheren Vergangenheit vielerorts der Fall war. Wer dabei erwischt wurde wie er im Freien, auf welche Weise auch immer, ein Feuer machte, auch wenn es nur das Anzünden einer Zigarette war, wurde schwer bestraft. Auch in diesen Fällen griffen die Menschen mittlerweile auf Selbstjustiz zurück, was seines Erachtens durchaus akzeptabel war, da Pyromanen in der Vergangenheit enorme Schäden angerichtet hatten. Viele von Pyromanen gelegte Feuer aber auch Feuer die aus Unachtsamkeit entstanden wie beispielsweise ein weggeworfener Zigarettenstummel, wurden aufgrund des Wassermangels nicht gelöscht, wodurch viele Menschen ihr Zuhause verloren. Erstaunlicherweise kamen viele dieser zwanghaften Brandstifter aus den Reihen der Feuerwehr, und die meisten aus Unachtsamkeit entstandenen Feuer gingen auf das Konto der Raucher. Kinder und Jugendliche waren ebenfalls eine Risikogruppe, weil sie die Folgen ihres Handelns, trotz unzähliger Hinweise, einfach nicht abschätzen konnten oder wollten. In Bezug auf Brandstiftung wurde der Kinder-und Jugendschutz nahezu aufgehoben, und auch minderjährige Brandstifter wurden beinahe wie Erwachsene behandelt und bestraft. Eltern deren Kinder Feuer legten, waren, wie vorher auch schon, für die Taten ihrer Sprösslinge verantwortlich, und wurden demzufolge auch eingesperrt, was am Anfang, als das neue Gesetz gegen Brandlegung beschlossen wurde, sehr häufig vorkam. Jugendliche galten nicht mehr erst ab dem 14. Lebensalter als Jugendliche, sondern in Einzelfällen schon mit 9 oder 10 Jahren, und ab dem 14. Lebensjahr als Erwachsene. Die Lehrer mussten diese ständigen Gesetzesänderungen ihren Schülern mitteilen. Auch Kindergärtnerinnen wurden dazu angewiesen ihre Schützlinge mit dem Inhalt des neuen Unterrichtsfachs „Sozialkunde“ vertraut zu machen. Obgleich die Lehrer sich zu Beginn gegen die Veränderung sträubten, waren sie relativ schnell von der immensen Bedeutung ihrer neu auferlegten Pflicht überzeugt, und vermittelten den Inhalt der Sozialkunde mit großem Eifer. Nahezu jeder Bürger hatte jemanden in der Familie oder kannte irgendjemanden der direkt oder indirekt mit den Folgen eines Feuers konfrontiert wurde. Von seiner Tochter die mit ihren 23 Jahren längst berufstätig war, wurde er über neue Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten. Die Tochter ihrerseits hatte die Informationen von ihren schulpflichtigen Geschwistern und ihren Arbeitskollegen. In Severins Firma fand zu Beginn der ganzen Erneuerungen auch ein reger Austausch statt, doch da manche Arbeitsplätze wegen der tristen Auftragslage wegrationalisiert wurden, hatte jeder Mitarbeiter Angst vor einer Kündigung, und konzentrierte sich ausschließlich auf die Arbeit. Severin kam zugute, dass er schon mehr als 20 Jahre bei der Firma arbeitete. Er war ein kompetenter Fachmann auf seinem Gebiet, stets bereit Überstunden zu machen und stand immer loyal zu seinem Chef. Er war mit seinen 50 Jahren noch gut im Schuss, er war zuverlässig und konnte seine Aufträge selbstständig ausführen. Einen besseren Arbeiter hätte sich sein Chef kaum wünschen können. Zum Glück verstand es Severin immer sehr gut seine Veränderungsabsichten für sich zu behalten. Österreich war zwar ein verlässlicher Sozialstaat indem man einigermaßen gut über die Runden kommen konnte, doch auch das änderte sich zunehmend, sodass viele Menschen gezwungen waren sich auf ihre Familien zu verlassen, was auch erstaunlich gut funktionierte. Trotz zahlloser Konflikte kümmerten sich die Familienverbände in der Regel um ihre Angehörigen, die arbeitslos oder sonst auf irgendeine Weise bedürftig wurden und keine Sozialhilfe bekamen. Diejenigen die noch einen bezahlten Job hatten, genossen mittlerweile mehr Ansehen als je zuvor. Viele einst gut bezahlte Berufsgruppen wie beispielsweise Anwälte, Leute aus der Werbung, Physiotherapeuten, Autohändler, Versicherungen, viele Bauern und Handwerker, Militärbedienstete, allgemein viele Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen und natürlich sämtliche Schiliftbedienstete und Bademeister, mussten sich auf andere Weise Ihren Lebensunterhalt verdienen. Der Schwarzhandel und gesetzeswidrige Handlungen aller Arten hatten Hochkonjunktur, und die wohl einzige Berufsgruppe die immer größer wurde, war, trotz aller Kontrolldienstleister und Bürgerinitiativen, die Polizei.

Als sich Severin noch im Wald befand, meldete sich plötzlich und unerwartet sein Handy. Jetzt hatte er wieder ein Netz, aber einen fast leeren Akku. Er hatte drei Anrufe in Abwesenheit, und eine SMS von seinem Chef. Severin öffnete die SMS, und reagierte erstaunlich gelassen auf die Frage seines Chefs wo er sei. Was sollte er ihm antworten? Eigentlich wollte er zu irgendjemandem der ihm nahe stand, auf keinen Fall zur Arbeit. Lügen war nicht so sein Ding, doch heute würde er eine Ausnahme machen. Das Problem war nur, dass er noch ein gutes Stück von seiner Wohnung weg war, und die Möglichkeit dass ihn jemand sieht, war durchaus vorhanden. Aber er musste seinem Chef irgendetwas sagen, und zwar gleich. Kurz entschlossen benutzte er seine Tochter als Vorwand. Er rief seinen Chef an und setzte ihn darüber in Kenntnis, dass er heute nicht zur Arbeit kommen könne, weil es seiner Tochter schlecht geht und ihn um seine Hilfe bat. Um was es genau geht, wisse er selber noch nicht, und es tue ihm Leid da es ihm aus gegebenem Anlass nicht möglich war sich frühzeitig abzumelden. Er würde sich wieder melden, sobald seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich ist. Damit war alles gesagt, und sein Chef hakte auch nicht weiter nach. Ins Lebensmittelgeschäft konnte er jetzt nicht mehr gehen, da die Gefahr von einem Mitarbeiter gesehen zu werden zu groß war. Also würde er mit den Vorräten zurechtkommen müssen die er noch zuhause hatte. Der Weg nachhause den er schon unzählige Male gegangen war, kam ihm vor wie ein Spießrutenlauf. Sollte ihn doch irgendjemand aus seiner Firma oder sonst jemand sehen und dies seinem Chef zutragen, käme er in Erklärungsnotstand. Bei einer Konfrontation würde er einer Lüge überführt, für die er sich schämen würde. Außerdem könnte ihn seine Unlust zu arbeiten den Job kosten. Also entschied er sich die Wahrheit für sich zu behalten. Niemand sollte ihm seinen erlebten Traum zerstören oder ihn mit irgendwelchen Konsequenzen trüben.

Endlich erreichte Severin seine Wohnung, und soweit er es registriert hatte, wurde er von niemandem auf der Straße erkannt. Da er nicht übermäßig extrovertiert war, kannten ihn auch nicht viele Leute. Falls er doch von jemandem damit konfrontiert würde, dass er ihn auf der Straße gesehen hatte, würde er einfach sagen, dass es wahrscheinlich einer seiner Brüder war.

In seiner Wohnung fühlte er sicher vor fremden Blicken. Um seine Arbeit wollte er sich jetzt keine Gedanken mehr machen. Jetzt wollte er auch mit niemandem mehr reden. Er steckte sein Handy ans Ladekabel, stellte es auf lautlos und versuchte den Alltag auszublenden. Er konnte es kaum mehr erwarten erneut in den Traum einzutauchen, kurbelte die Rollläden herunter, ließ sich erschöpft auf seine gemütliche Couch fallen und schloss die Augen. Er hoffte darauf, dass sich seine Nachbarn wie gewöhnlich ruhig verhalten, und kehrte mit freudiger Erwartung zurück in seinen Traum. Es dauerte nicht lange bis er sich auf der Wiese liegen sah, vor ihm das rauschende Meer, die frische Luft und das euphorisierende Gefühl frei und unabhängig zu sein. Überall um ihn herum gab es unzählige Möglichkeiten Neues zu entdecken und erfahren. Mühelos gelang es ihm die im Traum so real erlebten Eindrücke in sein Bewusstsein zu holen. Es störte ihn auch nicht weiter, dass sich einige wichtige Gedanken in seinen Traum schlichen. Vor zwei Wochen hatte er den fünfzigsten Geburtstag. Ein halbes Jahrhundert Lebenserfahrung das die meisten Menschen mit ihren Liebsten feiern wollen. Severin feierte mit niemandem, auch nicht mit sich alleine. Er war seit etwa 20 Jahren ein Geburtstagsflüchtling. Die Gründe waren ihm nicht ganz klar wieso er Feste zunehmend vermied. Vielleicht war es die Vielzahl der Feste mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen 4 Kindern. Immer gab es einen Anlass den es zu feiern gab. Nikolaus, Weihnachten, Ostern, eine endlose Abfolge von Geburtstagen, Feste in der Schule und im Kindergarten, Erstkommunion, Hochzeiten, Feste im Dorf, bei Arbeitskollegen und dergleichen mehr. Irgendwann war Severin die Lust vergangen an Festlichkeiten jeglicher Art teilzunehmen. Dieser Prozess begann schleichend, aber unaufhaltsam, und er war auch nicht erpicht darauf diesen Prozess zu stoppen. Erst seit ein paar Monaten, als er letztes Jahr zum ersten Mal Weihnachten und vor kurzem seinen 50. Geburtstag alleine verbrachte, machte er sich Gedanken über sein Verhalten. Als Mensch ist er doch auf Interaktion mit anderen Menschen angewiesen, oder etwa nicht? Ein gewisses Maß an Konformität wurde von ihm erwartet, das merkte er an den Reaktionen seiner engeren Verwandten als er ihre Einladungen ausschlug, um Weihnachten nicht in der Gruppe verbringen zu müssen. Dass er an seinem 50. Geburtstag anstatt ein Fest zu organisieren nach Italien reiste, trug wahrscheinlich dazu bei, dass er innerhalb seiner Herkunftsfamilie nun endgültig den Status des Sonderlings hatte. Er konnte beinahe hören wie seine Geschwister, seine Schwägerinnen und sonstigen Verwandten, Anverwandten und Bekannte hinterrücks über ihn lästerten. Konformität war etwas das ihm zunehmend abhanden kam, ob er wollte oder nicht. Sein Individualisierungsprozess hatte immer schon stattgefunden, doch führte ihn dieser Prozess in den letzten Jahren immer wieder an einen Punkt, an dem er sich wirklich als ein Sonderling, ein Eigenbrötler und Außenseiter fühlte. Die Teilnahme an besonderen Anlässen wie Weihnachten und hohe runde Geburtstage sind Indikatoren für die Herdenzugehörigkeit und Gruppenkonformität, und so wie es aussah, wurde er immer mehr zum Außenseiter. Seine Kinder ließen es nicht zu seinen Vaterpflichten nachzukommen. Sie hatten sich nach der Trennung nicht nur räumlich von ihm distanziert, und seine unzähligen Bemühungen eine anständige, wünschenswerte Beziehung zu seinen Kindern zu pflegen, wurden von seinen Kindern grausam torpediert. Wie schrecklich fühlte sich Severin immer, wenn er mit einem oder mehreren seiner Kinder etwas ausgemacht hatte, sie abholen wollte, und im letzten Moment von ihnen unter allen möglichen Vorwänden versetzt wurde. Oder die vielen Male die er sie anrief, und sie seine Anrufe einfach ignorierten. Das waren äußerst schmerzvolle Erfahrungen. Irgendwann musste Severin aus Selbstschutz akzeptieren, dass er wahrscheinlich nie wieder die Beziehung zu seinen Kindern haben würde die er sich wünschte. Das war eine bittere Erkenntnis, die ihm ein stetiger Dorn im Herzen war. Wie oft gab es Familienzusammenkünfte mit seinen Geschwistern deren Familien intakt waren, und er war als Einzelperson ohne eine Begleitung mitten unter ihnen. Irgendwann wollte sich Severin dieser Pein nicht mehr aussetzen, und so beschloss er, Festen so gut es ging fern zu bleiben. Was wäre es wohl für ein Geburtstagsfest geworden, auf dem die eigenen Kinder höchstwahrscheinlich nicht erschienen wären. Niemand an seiner Seite, keine Freundin, höchstens noch drei gute Bekannte, ein paar Arbeitskollegen und sonst nur Verwandte. Das hätte seinen Sonderlingstatus nur verstärkt, und dem wollte er sich definitiv nicht mehr aussetzen. Er musste aufhören sich ob seiner gesellschaftlichen Stellung zu grämen und an sich selbst zu zweifeln, wieso auch? Er war frei, musste sich um nichts und niemanden kümmern. Er hatte seine Ruhe und genoss das Alleinsein, und er wusste mit Sicherheit, dass ihn viele darum beneideten. Sie wussten aber nicht, dass sie das Alleinsein, so wie Severin es zu der Zeit lebte, nicht aushalten würden. Menschen sind nun mal Herdentiere, die meisten zumindest, deshalb können sie auch gar nicht alleine leben. Severin jedoch kam gut zurecht mit seinem Singledasein, obgleich sich die Sehnsucht nach einer kompatiblen Lebensgefährtin regelmäßig bei ihm meldete. Sein Leben hatte durchaus seine Vorteile. Er könnte von einem auf den anderen Tag sofort alles stehen und liegen lassen und in ein neues Leben eintauchen. Er hatte keine Verpflichtungen, außer seinem Job, und den wäre er jederzeit bereit aufzugeben, wenn sich ihm nur ansatzweise eine Möglichkeit böte eine reizvolle Veränderung in sein Leben zu bringen. Aber wozu eigentlich? Wenn er auf sein Leben zurückblickte, sah er nur eine Abfolge von Ereignissen. Schöne, weniger schöne, schwere, geile, komplizierte und tausend andere. Sie waren alle vergangen, verschwunden und hallten höchstens noch in seinen Erinnerungen nach. Selbst das was er mit seinen Händen geschaffen hatte, sogar das Haus das er selbst gebaut und mit seiner Familie bewohnt hatte, war nur noch ein Erinnerungsfetzen in seinem Bewusstsein. Was damals eine große Sache war, war nur noch eine schöne Erinnerung. Er war Besitzer eines eigenen Hauses in dem er sich mit seinen Kindern die er über alles liebte und seiner Lebensgefährtin wie ein König in seinem eigenen Königreich fühlte. Sie gaben ihm das Gefühl komplett und ganz zu sein. Er verwirklichte und lebte den Vorarlberger Traum, mit seiner Familie in seinem Eigenheim leben, viele Jahre lang. Selbst diese Episode war unwiederbringlich dahin. Der Traum vom eigenen Häuschen mit Familie war ausgelebt und das Leben schob ihn erneut in eine ganz andere Richtung. Lange hatte er sich dagegen gewehrt sich von seiner Lebensgefährtin zu trennen, doch irgendwann sah er ein, dass er dem Wind der Veränderung nicht mehr standhalten konnte. Er liebte seine Lebensgefährtin auch nicht mehr. Immer kam es zwischen ihnen zu Streitigkeiten, und ein Zusammenleben zum Wohle der Kinder war eine Mähr an die er nicht glaubte und unter der alle nur gelitten hätten. Nach der ausgesprochenen Trennungsabsicht ging es sehr schnell, dass seine Lebensgefährtin mit den Kindern aus dem Haus auszog. Die Trennung kostete ihn eine ordentliche Stange Geld und die Unterhaltszahlungen für die Kinder machten es ihm unmöglich auch noch die Schulden für sein Haus abzubezahlen. Kurz nach der Trennung verkaufte er im Alter von 43 Jahren sein Haus, kündigte seinen Job und machte eine 8 monatige berufliche Auszeit in der er viele Länder bereiste und sich mehr als einmal fragte, was das Leben mit ihm vorhat. Er glaubte an die Metapher, dass wenn eine Türe zu geht sich eine andere öffnet. Auf seiner Reise öffneten sich ihm viele Türen, doch zu welchem Preis? Er gab die Sicherheit und Geborgenheit innerhalb eines Familienverbandes auf für ein Leben in Freiheit und ohne Verpflichtungen. Ohne ein Zuhause, ohne Job und ohne seine Kinder lernte er mühsam sein neues Leben zu schätzen und zu genießen. Als er von seiner Reise zurückkehrte, konnte er wieder bei seiner alten Firma anfangen zu arbeiten und fand sehr schnell seine jetzige Wohnung. Severin fragte sich ob das Leben wirklich nur eine Abfolge von Ereignissen ist, die alle irgendwann verblassen und an Bedeutung verlieren, die einen früher die anderen später. Taten von bedeutenden Menschen und Kulturen wie beispielsweise Buddha, Jesus, die Römer, Elvis und viele andere hinterließen für die Nachwelt ihre Spuren, doch für Normalsterbliche wie ihn würde mit dem Tod alles vorbei sein. Dass Severin in seinen Kindern weitererlebt oder irgendetwas Dauerhaftes für die Nachwelt hinterlässt, war für ihn nicht wichtig. Für ihn stellte sich nur die Frage wofür er sich entscheiden sollte, welche Einstellung zum Leben die richtige für ihn ist. 15 Jahre weiterarbeiten bis zu seiner Pensionierung, vielleicht hin und wieder einen Kurs besuchen und darauf hoffen, dass ihm die Liebe seines Lebens über den Weg springt und sich selbst suggerieren, dass er ein erfülltes und interessantes Leben gelebt hat, oder … oder was eigentlich, welche Möglichkeiten hatte er denn noch? Das wusste er eben selbst nicht. Ihm war nur klar, dass wenn er weiterhin tun würde was er schon kann, würde er das bleiben was er immer schon war. Severin war ein Handwerker, kein Mensch der mit besonderen Talenten oder Begabungen wie beispielsweise große Künstler, Sportler, Schauspieler oder dergleichen ausgestattet sind. Nur eines stand für Severin fest, dass er in seinen Gedanken immer ein Künstler, ein großer Liebhaber, Schauspieler, Sänger und dergleichen mehr sein würde. Und vielleicht war genau das seine große Begabung, sein besonderes Talent, in seinen Gedanken sein zu können wer immer und wie immer er auch sein wollte. Diese Gedanken- und Herzenskraft hatte er immer schon, und besitzen wahrscheinlich die meisten Menschen. Die Frage war ihm jetzt klar, denn er musste sich entscheiden ob er diese Kräfte weiterhin gebrauchen sollte, auch wenn sie keine großen Veränderungen in seinem Leben bewirken. Obwohl, so verlief sein Leben durchaus nicht. Es verlief nie für lange Zeit in die gleiche Richtung. Als er nun von seinem vergangenen Traum abgelenkt war und auf sein Leben zurückblickte, gab es immer Veränderungen, und er erkannte auch, dass sein Unglück meistens sein größtes Glück war. Es waren die letzten fünf Jahre die ihn resignieren ließen, weil ihm das Leben keine Überraschungen mehr bot. Der einzige Gedanke, der ihm Vitalität und die Kraft zur Hoffnung verlieh war der, dass wenn der Tod ihn holen kommt, er nichts zu bereuen haben würde. Weder eine Schandtat noch irgendeine Möglichkeit die er aus Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit achtlos an ihm vorbei ziehen ließ, würde er im Angesicht des Todes bedauern müssen. Dabei kamen ihm die Worte von Mark Twain in den Sinn: „In 20 Jahren werden sie eher von den Dingen enttäuscht sein die sie nicht getan haben, als von denen , die sie getan haben. Lichten sie also die Anker und verlassen sie den sicheren Hafen. Lassen sie den Passatwind in die Segel schießen. Erkunden sie. Träumen sie. Entdecken sie.“

So sollte es sein, nichts bereuen, träumen und entdecken. Er würde es halten wie Alexis Sorbas. Wenn der Tod ihn holt, sollte er nicht mehr als eine abgebrannte Kerze erhalten.

Die lauwarme Meeresbrise neckte ihn, holte ihn zurück in sein Traumland, und da er ganz und gar bereit war sich seinem Traum hinzugeben, spürte er das Gras unter seinen Handflächen und roch die salzige Meeresluft.

Der Traum offenbarte ihm all seine bewussten und wahrscheinlich auch seine unbewussten Sehnsüchte, Erwartungen und Hoffnungen in einzigartigen, virtuellen Eindrücken, die in ihm Gefühle jeglicher Art auslösten. Severin wollte mehr von diesen Gefühlen. Freude, Erfüllung, Begeisterung, Staunen, das Gefühl lebendig und agil zu sein und die alles überflügelnde Liebe zum Leben. Er war in einer Goldgräberstimmung, bereit für das große Abenteuer, auch wenn es nur in seinen Tagträumen stattfinden sollte. Alles war erlaubt, nichts verboten, nichts unmöglich. Er hatte sein eigenes Traumland gefunden, sein Paradies, sein Eldorado, deshalb wollte er auch einen Namen für seinen Garten Eden. Einen Namen der noch nicht vergeben war und für ihn alles ausdrücken sollte was das Traumland für ihn bedeutete. Temira, eine Zusammensetzung der lateinischen Wörter terra und miraculum. Land und Wunder, Temira, so wollte er sein neues Traumland nennen, das ihm niemand je wegnehmen würde, und wann immer ihm danach war seine Zuflucht, sein Zuhause sein sollte. Angesichts der immer prekärer werdenden Situation in seiner Heimat und den benachbarten Länder, und der damit einhergehenden allgemein spürbaren, sich über alles ausbreitende Depression, kam Temira für Severin genau zur rechten Zeit. Er erhob sich vom Gras und wollte den Strand näher erkunden. Obwohl er in seinem Traum letzte Nacht keinen Fuß auf den Sandstrand und ins Meer gesetzt hatte, gelang es ihm in seiner Phantasiereise auf Anhieb. Er fühlte den Sand unter seinen Fußsohlen und sah beim Zurückschauen die Fußabdrücke die er im Sand hinterließ. Der Strand war etwa 10 bis 15 Meter breit. Der Sandstrand war mehrheitlich weiß und ging an manchen Stellen in ein helles Braun über, und war übersät mit kleinen Muscheln. Obwohl an manchen Stellen Treibgut wie Bretterabfälle, ein kleines zerrissenes Fischernetz, einige Wurzeln und Knollen angeschwemmt wurden, wirkte der Strand sauber. Das Wasser fühlte sich zuerst kalt an, doch je weiter er hineinging desto mehr gewöhnte er sich an das kühle Wasser und empfand es als angenehm und erfrischend. Der Sand verlief in einer sanften Neigung ins Meer. Severin konnte etwa 20 Meter weit ins Meer hinein gehen bis ihm das Wasser zu tief wurde. Weit und breit gab es keine Seeigel und keine scharfkantigen Steine, sodass er ungehindert in alle Richtungen auf dem weichen Sand gehen konnte. Severin musste sich anstrengen um durch das Wasser zu waten das ihm bis zur Brust reichte. Die leichten Wellen schwappten ihm über die Brust bis zum Hals und manchmal wurde er auch von einer größeren Welle neckisch überspült. Fische konnte er bis jetzt keine entdecken, doch Muscheln waren auf der Oberfläche des Sandes genug zu sehen. Während auf dem Strand die leeren Muschelschalen lagen, gab es im Meer viele geschlossene Muscheln in unterschiedlichen Größen, die gekocht wahrscheinlich gut schmecken würden. Es war herrlich durch das klare, türkisblaue Meer zu pflügen und den Möwen zuzusehen wie sie mit ihrem grellen Gekreische das Meeresfeeling vervollständigten. Immer weiter watete er nach Westen auf den Felsen zu der die Bucht westseitig eingrenzt. Severin wollte herausfinden wie groß die Öffnung aufs offene Meer hinaus ist. Da er Angst davor hatte so weit hinaus zu schwimmen, versuchte er über Land einen Weg zu finden. Der Sandboden fiel ungleichmäßig ab und schon bald musste Severin einige Schritte zurück Richtung Strand gehen, weil er in immer tieferes Wasser kam. Der Untergrund wurde zunehmend felsiger und steiler, bis er endgültig aus dem Wasser steigen musste. Der abrupte Übergang vom Sandstrand auf die Felsen war nicht unangenehm. Der Felsen war barfuß gut zu begehen. Es gab kein scharfkantiges Gestein das ihn am Weitergehen hinderte. Leichtfüßig überquerte er Felsspalten, kletterte über große Felsauskragungen und kam gut voran, bis er … von der Türklingel unsanft aus seinem Traum gerissen wurde.

Severin war unsicher ob er die Haustüre öffnen sollte, doch da er vorgab sich um seine Tochter zu kümmern, verhielt er sich ruhig, um eventuelle Peinlichkeiten zu vermeiden. Es kam ohnehin nur selten vor, dass er willkommenen Besuch bekam, und auf irgendwelchen banalen Smalltalk mit Nachbarn oder auf unerwünschte Spendensammler hatte er keine Lust. Also blieb er auf der Couch liegen, und bemerkte so nebenbei, dass er immer noch seine Schuhe anhatte. Entgegen seinen Gewohnheiten hatte er sich ohne große Umschweife auf die Couch gelegt, ohne sich vorher zu waschen, ohne zu essen und ohne sich die staubigen Schuhe abzuziehen. Als er daran dachte, fühlte er sich schmutzig, und es passte ihm überhaupt nicht, dass er sich nicht bewegen durfte bis der Besucher weg war. Es klingelte ein zweites Mal an der Haustüre, und sein Gehirn spielte alle möglichen Varianten durch wer zum Teufel ihn um diese Zeit nervte. In die Stube konnte man von außen nicht hinein sehen, doch zu hören wäre er mit Sicherheit gewesen, auch wenn er noch so leise zur Tür gegangen wäre. Also wartete er ab. Dumm wäre es gewesen wenn seine älteste Tochter draußen geklingelt hätte und er von irgendjemand darauf angesprochen würde. In früheren Zeiten wäre ihm dieser Umstand egal gewesen, doch aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit herrschte mittlerweile allerorts ein Denunziantentum wie in den besten DDR Zeiten. Wie auch immer, der lästige Besucher musste sich inzwischen längst schon verzogen haben. Seit dem letzten Klingeln waren mindestens 5 Minuten vergangen, und so erhob sich Severin, ging zur Haustüre, öffnete sie und blickte verstohlen auf den Gang hinaus. Es war niemand zu sehen, und da seine beiden Nachbarn die links neben ihm wohnten die Haustüre auf der gleichen Seite hatten, konnten sie ihn auch nicht durch den Türspion sehen. Er machte die Haustüre zu und schaute auf sein Handy ob ihn irgendjemand angerufen hatte. Das Display zeigte keine Anrufe in Abwesenheit an und auch keine SMS. Alles war in Ordnung. Wer auch immer an der Türe war, konnte ihm gestohlen bleiben. Severin zog die Schuhe aus, und hielt plötzlich inne. Er war barfuß! Niemals hätte er ohne Socken die Wanderschuhe angezogen, außer zu Zeiten als der Fluss noch Wasser führte. Während der Flusswanderungen die er hin und wieder machte, musste er den Fluss mehrmals überqueren, und da er nicht ständig die Schuhe aus- und anziehen wollte, behielt er sie an. Es hätte keinen Sinn gemacht Socken anzuziehen, da sie ohnehin nass geworden wären. Doch Flusswanderungen konnte man schon lange keine mehr machen in der Saiblach, und er hätte unter keinen Umständen darauf verzichtet Socken anzuziehen. Also, wo waren seine Socken? Hatte er sie vielleicht in der Höhle abgezogen, doch wozu? Um dann wieder die Schuhe ohne Socken anziehen? Niemals! Und dann begriff er endlich. Er hatte auf Temira die Socken abgezogen um sie mit den Heidelbeeren zu füllen. Er hatte sie mitgenommen, bis zu dem Platz im Gras wo er auf Temira eingeschlafen war. Um die Beeren nicht zu zerdrücken hatte er sie neben sich gelegt. Alles andere, seine Schuhe und Kleider hatte er noch bei sich als er in der Höhle aufwachte, weil er mit den Sachen in Berührung war. Also war es kein Traum. Temira war Wirklichkeit. Oder etwa doch nicht? Gab es vielleicht eine andere Erklärung für seine fehlenden Socken, eine plausible, absurd naheliegende Erklärung? Wenn ja, welche? Wenn er wirklich die Socken auf Temira vergessen, oder liegen gelassen hatte, würde das bedeuten, dass er eine Zeitreise oder eine Reise in eine andere Dimension gemacht hatte. Oder war er vielleicht der geistigen Umnachtung anheim gefallen oder irgendeiner Degeneration des Gehirns oder einer sonstigen unnatürlichen, widersinnigen Absurdität? Severin war schockiert von all diesen verrückten Kopfgeburten. Bevor er sich weiterhin den Kopf über diese grotesken Möglichkeiten zerbrach, wollte er sich duschen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er ging ins Badezimmer und schaute in den Spiegel um sicher zu gehen, dass ihm sein Spiegelbild bekannt vorkommt. Was er sah, beseitigte jeden Zweifel ob er noch ganz dicht war. Allzu deutlich war die blauviolette Farbe um seinen Mund, auf seiner Zunge und sogar auf den Zähnen erkennbar. Als er genauer auf seine Hände schaute, konnte er an den Fingerkuppen und an den Handinnenflächen noch deutlich erkennbare Spuren vom Saft der Heidelbeeren erkennen. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag auf den Kopf. Ihm wurde schwindlig, sein Kopf konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war hin und hergerissen von sich widersprechenden Gefühlen und Gedanken, von Zweifel, unerschütterlicher Erkenntnis, Unglaube, Freude, Begeisterung, Angst, Unsicherheit. Er war tief erschüttert ob seiner fantastischen Reise, und den noch völlig unsortierten Möglichkeiten und Veränderungen die eine erneute Reise mit sich brächten. Wäre es überhaupt möglich noch einmal nach Temira zu reisen? Es kostete Severin ungeheuer viel Kraft all diesen Eindrücken standzuhalten. Er fühlte sich wie von einer Lawine überrollt von all den Gedanken und Gefühlen die ihn wie eine Flut überschwemmten. Severin schwankte in sein Schlafzimmer, er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, weil er Angst hatte dass er explodiert. Immer noch ungewaschen und schwindlig ließ er sich in sein Bett fallen, und wünschte sich mehr als jemals zuvor, dass ihm irgendjemand hilft das Geschehene zu verarbeiten. Am liebsten hätte er laut geschrien, doch soweit hatte er sich noch unter Kontrolle, um möglichst keine ungewünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Obwohl sich sein Köper müde und abgespannt anfühlte, war an Schlaf nicht zu denken. Er hatte eine Reise gemacht, vielleicht wurde er von jemandem in eine andere Gegend gebeamt, vielleicht war er durch ein Wurmloch gefallen und auf einem erdgleichen Planeten gelandet, oder durch Quantenverschränkungen, was auch immer das ist, nach Temira versetzt. Oder vielleicht hatten sich zu seinen phantasievollen Gedanken die entsprechenden Gefühle und Sinneseindrücke gesellt, wodurch eine wirklichkeitsgestaltende Vorstellung in Gang gesetzt wurde, die eben Temira erschuf. Vielleicht ist das Quantenverschränkung, dachte sich Severin. Doch mit solchen Dingen sollten sich andere, intelligentere Leute abgeben. Er hatte sich schon so oft Dinge oder Ereignisse vorgestellt und seine Vorstellungen mit intensiven Gefühlen angereichert, doch viel zu oft entstand daraus einfach nichts. Er kannte diese Theorie aus spirituellen Ratgebern und Lebenshilfebücher. Den Versuch war es wert diese Theorie auszuprobieren, doch Severin glaubte nur bedingt an die Tatsache, dass er sein Leben selbst nach Belieben gestalten kann, und damit war er auch einverstanden. Es gab nur eine Möglichkeit dem Wie auf die Spur zu kommen. Er musste noch einmal zur Höhle. An die Gedanken, Bilder und Gefühle vor dem Einschlafen konnte er sich noch gut erinnern. Vor dem Einschlafen war er völlig mit sich im Reinen, seine Gedanken verstummten, er fühlte wie sich tiefe Zufriedenheit und Liebe in ihm ausbreitete und er sah ein klares Bild von der Umgebung vor seinem inneren Auge. Alles andere erledigte der Schlaf. Was während des Schlafs geschah war ein Geheimnis das er nicht begreifen konnte, und das musste er auch nicht. Es war ein Wunder, und sollten sich mehr solche Wunder in seinem Leben ergeben, würde er immer und jederzeit Ja dazu sagen. Die Zeit die er auf Temira verbrachte, stimmte ungefähr überein mit seinem Fehlen oder nicht Vorhandensein hier in seiner Heimat. Also musste er sich Zeit verschaffen. Sollte er erneut auf Temira erwachen, dann wollte er nicht gleich wieder zurück, und er würde auf jeden Fall viel besser ausgerüstet sein.

Severin stand auf, nahm das Handy und telefonierte seinen Chef an. Mittlerweile war es schon Nachmittag, und es dauerte eine Weile bis sein Chef endlich das Telefon abnahm. Ohne Umschweife erklärte Severin seinem Chef, dass er dringend eine Woche Urlaub braucht um private Angelegenheiten zu regeln. Er wollte nicht darüber sprechen um was es im Detail geht, das würde er seinem Chef bei Zeiten erklären, aber jetzt noch nicht. Severin hörte am Tonfall seines Chefs, dass er nicht sonderlich begeistert war über sein Ansinnen, deshalb betonte Severin noch einmal, dass sein Anliegen wichtig ist und für ihn Priorität vor allem anderen hat, und er bat seinen Chef um Verständnis und sein Entgegenkommen. Er brachte seinem Chef in Erinnerung, dass er während all der Jahre die er bei ihm arbeitete noch nie mit einer solchen Bitte an ihn herangetreten war, doch nun sei es für ihn von existenzieller Bedeutung, dass er eine Woche frei bekommt. Darauf hatte sein Chef nicht viel zu erwidern, und so willigte er ungern seiner unwillkommenen Forderung ein und wünschte seinem Mitarbeiter aufrichtig, dass er sein persönliches Anliegen, was auch immer das ist, zum besten Wohle aller regeln kann. Severin bedankte sich bei seinem Chef und war erleichtert, dass die erste Hürde geschafft war ohne seinen Chef anlügen zu müssen. Das mit der existentiellen Bedeutung war zwar ein bisschen dick aufgetragen aber keine Lüge. Sollte wirklich mehr aus seinem Abenteuer werden, würde er seinen Job ohnehin aufgeben. Auf Temira würde er kein geregeltes Einkommen brauchen, und sein Dasein als Tischler mit einer geregelten 5 Tage Woche hatte er bis zur Neige ausgelebt. Es war nicht so dass er seine Arbeit widerwillig gemacht hätte, meistens war das Gegenteil der Fall. Severin fand Erfüllung und Sinn in seiner Arbeit mit Holz. Er wollte eigentlich nie etwas anderes als Handwerker sein, zumal er auch nichts anderes konnte.

Severin nahm erneut das Handy zur Hand und informierte per SMS seine 4 Kinder und seine Mutter, dass er ab morgen eine Woche Urlaub machen würde, wo wisse er noch nicht, und dass er während dieser Zeit nicht erreichbar ist. Als er die SMS abgesetzt hatte, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass es in seinem Leben sehr wenige enge Beziehungen gab. Er hätte auch seine Geschwister informieren können, doch das hatte er vorher auch nie gemacht wenn er verreist war. Dabei fiel ihm ein, dass er sein Testament brauchte. Severin wollte seinen bescheidenen Nachlass geregelt wissen. Während seiner Beziehung mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin, die auch die Mutter seiner 4 Kinder ist, hatte er mit ihr und einer Anwältin ein Testament aufgesetzt indem im Falle seines Todes seine Lebensgefährtin die Begünstigte sein sollte, und umgekehrt. Sollte sie sterben, würde er der Begünstigte sein. Im Falle dass beide Elternteile sterben sollten, würde das Erbe unter den 4 Kinder zu gleichen Teilen aufgeteilt werden. Also rief er die Anwältin an und bat sie um Zusendung seines Testaments, was sie innerhalb von 5 Minuten kostenlos erledigte. Severin startete seinen Computer, der auf Anhieb funktionierte, was in letzter Zeit eher die Ausnahme war, und wartete auf die Email. Währenddessen nahm er einen Zettel und einen Stift und begann mit der Erstellung einer Liste für die Ausrüstung. Die Liste sollte soviel wie nötig und so wenig wie möglich beinhalten, da er ja nicht wusste ob es überhaupt möglich sein würde das ganze Zeug mitzutransportieren. Es sollte gerade soviel Zeug sein um einen 70 Liter Rucksack zu befüllen, den er eng umschlungen hoffentlich auf die Reise mitnehmen könnte.

 Kleidung: 2 Unterhosen, Badehose, 2 Paar Socken, Wanderhose, T-Shirt, Hemd, Regenjacke, Regenhose, Daunenjacke, Mütze, Handtuch, Crocks

 Sonnenbrille, Sonnencreme, Sonnenhut, Zahnbürste, Zahncreme, Seife, Klopapier

 3 Feuerzeuge und Anzündhilfen

 Taschenmesser, Gabel, Schere, Taschen- und Stirnlampe mit Ersatzbatterien

 Kochgeschirr (Gaskocher, 2 Töpfe, eine Blechtasse)

 Trinkflasche, Faltkanister

 Verpflegung (Nudeln, Pasta, Öl, Salz, Brot, Speck, Käse, Haferkleie, Teebeutel,1 Paar Würste, Dosenwurst, Suppenwürfel, 5 Energieriegel, Traubenzucker, Kochlöffel)

 Nicht: Kaffee, Zucker, Eier, Bier, Schnaps

 Verbandszeug, Schmerztabletten

 Nadel und Faden

 Aufblasbare Matte, Flickzeug, Schlafsack

 2 Planen (2x3 und 4x5 Meter)

 Seil 20 Meter, dünne Schnüre, Draht, Nägel, 3 große Müllsäcke, Plastiksäcke in verschiedenen Größen

 Kleines Beil, Klappsäge, Klappspaten

 Panzertape, Beißzange

 Feldstecher, Jagdgewehr und Munition, Silch und Angelhaken, Nachtsichtgerät

 Wenn noch Platz: Taucherbrille mit Schnorchel, Taucherflossen)

 Goldbarren, Silberbarren, einen 100 Euro Schein

Brot, Energieriegel und Traubenzucker würde er noch besorgen müssen, später auch noch Munition, da er nur noch 5 Patronen hatte, alles andere hatte er vorrätig. Severin war schon öfters für mehrere Tage im Wald und hortete seine Ausrüstungsgegenstände sehr sorgfältig. Seitdem man im Talkessel nicht mehr jagen konnte, weil es kein Wild mehr gab, lag seine ganze Ausrüstung unberührt in seinem Kellerabteil in einem Kasten. Sein Jagdgewehr, ein Repetierer mit Zielfernrohr und Platz für 4 Kugeln im Magazin, das er seinem ehemaligen Nachbarn abgekauft hatte, nahm er zwei oder drei Mal im Jahr heraus um es auseinander zu nehmen, zu putzen und zu ölen. Sein Nachbar stellte nicht viele Fragen beim Verkauf was Severin nur recht war, da er keine Waffenbesitzkarte besaß und auch nie im Sinn hatte eine zu erwerben. Er sah es als sein Recht an zu kaufen was er wollte. Da damals Wild eine willkommene Abwechslung auf dem beschränkten Speiseplan der Bevölkerung war, nahm sich Severin auch das Recht zu wildern, auch wenn dies verboten war. Nach dem Motto, wo kein Kläger da kein Richter, wurde Severin nie wegen seiner Abschüsse behelligt. Kaum jemand kannte sich im Wald so gut aus wie er, auch nicht die Jäger. Er war immer äußerst vorsichtig, und da er kein Wichtigtuer war und seine Taten für sich behielt, wussten nur seine Brüder und seine Mutter von seinen Abschüssen, die ja auch nicht allzu häufig vorkamen. Das Wild brachte er in sein Elternhaus. Im Keller hatte sein Vater, der schon seit vielen Jahren tot war, so lange Severin denken kann Tiere getötet und zerlegt. Als Severin noch ein Kind war, hielten sie Schweine und Stiere in einem angemieteten Stall der direkt neben seinem Elternhaus stand. Von Zeit zu Zeit wurde zuhause im Keller geschlachtet, was für Severin stets ein verstörendes Erlebnis war, vor allem als die Tiere durch einen Schussapparat getötet wurden. Die Tiere waren nicht immer sofort tot, sondern zappelten noch eine Weile in ihrem Todeskampf herum, bis sie schließlich reglos am Boden lagen. Das Schlachten war immer ein großes Ereignis, dem er sich stets zu entziehen versuchte, weil ihm vor dem ganzen Prozedere schauderte. Doch in seinem Elternhaus mussten alle Geschwister mithelfen egal ob bei Holz-, Schlosser- oder diversen anderen handwerklichen Arbeiten und eben auch beim Zerlegen der Tiere. Davon hatte Severin nicht viel Ahnung, deshalb rief er immer seinen älteren Bruder an um das Wild das er erlegt hatte zu zerlegen und das Fleisch unter der Familie aufzuteilen. Es wurde kein großes Aufheben um die ganze Sache gemacht. Nicht einmal die Frauen seiner Brüder wussten wo das Fleisch herkam. Seine Brüder hielten es ebenso, und nicht selten bekam auch Severin frisches Wildfleisch von seinen Brüdern geschenkt, die ebenso wie viele andere auch hin und wieder ihren Speiseplan mit Wildbret ergänzten.

Als die vielen selbsternannten Jäger aus der Umgebung immer öfter Nachtsichtgeräte verwendeten, was auch auf ihn selbst zutraf, sah Severin die Zeit gekommen seine Zeit als Jäger zu beenden. Am Anfang war er völlig fasziniert von dem Nachtsichtgerät das ihm ein ehemaliger Arbeitskollege günstig verkaufte, weil alles Lebendige im Wald in der Nacht sichtbar wurde, auch er selbst. Es wurde schlichtweg zu gefährlich, und er hatte keine Lust wegen Wilderei und unerlaubtem Waffenbesitz eingesperrt oder von einem Jäger erschossen zu werden. Das Gewehr war in einer wasserfesten gepolsterten Ledertasche gut aufbewahrt und würde er hoffentlich nie brauchen da er nicht vorhatte auf Temira auf die Jagd zu gehen und unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Severin wollte das Gewehr bei sich haben, weil er sich damit verteidigen kann und er sich mit einer Waffe wesentlich wohler fühlen würde, in einer Gegend die einen idyllischen Eindruck auf ihn machte, wo aber eine Vielzahl unbekannter Gefahren lauern könnten. Lieber hätte er eine Pistole mitgenommen, eine Automatik mit möglichst viel Patronen im Magazin doch diese Dinger waren schwer zu bekommen. Um für die nächste Reise vorzusorgen, rief er seinen Bruder an und bat ihn darum sich umzuhören wie man am besten an eine solche Waffe kommt, vorzugsweise an eine Glock. Mit dieser Pistole hatte Severin schon mehrmals auf einem Schießstand geschossen und kam gut damit zurecht. Sein Bruder fragte ihn für was er das Ding braucht worauf ihm Severin kurz und bündig erklärte, dass er die Waffe für den Selbstschutz braucht und er sein Möglichstes tun solle um eine solche Waffe zu besorgen. Da er auf keine längere Diskussion eingehen wollte, bedankte sich Severin bei seinem Bruder und verabschiedete sich unter dem Vorwand es eilig zu haben.

Die Email der Anwältin war längst schon angekommen. Er öffnete das Dokument und las das Testament aufmerksam durch. Es gab nichts Wichtiges hinzuzufügen oder zu entfernen. Im Falle seines Todes würde seine Ex alles bekommen, seine Wohnung, sein Auto und Zugriff auf sein Konto. Er vertraute ihr, dass sie seine Habe gut verwalten oder veräußern würde um es unter den Kindern aufzuteilen. Severin hatte 2 Konten, eines davon war ein Onlinekonto das er noch am selben Tag auflösen und für den Großteil der angesparten 20.000 Euro kleine Gold- und Silberbarren kaufen wollte. Severin ließ alles stehen und liegen, und fuhr mit dem Auto zur Bank. Sein Bankbetreuer war zwar nicht da doch ein gelangweilter Bankangestellter nahm sich sofort seiner an. Severin erklärte ihm die Dringlichkeit seines Anliegens, worauf der Bankangestellte alles Erforderliche sorgfältig, ruhig und kompetent in die Wege leitete. Der Bankangestellte betonte immer wieder, dass große Barren viel billiger wären als die kleinen 1 und 2 Gramm Goldbarren die Severin kaufen wollte. Doch er blieb dabei, denn sollte er auf Temira auf Zivilisation stoßen, würde auch dort Gold und Silber als Tausch- oder Zahlungsmittel anerkannt, und dann wollte er nicht mit größeren Goldbarren protzen sondern einfach nur dezent liquide sein. Sollte er auf keine Menschen dort antreffen, würde er das Gold und Silber behalten. Auf jeden Fall wollte er kleine Barren, und so kaufte er 100 Stück 1 Gramm Goldbarren um 5900 Euro und 50 Stück 2 Gramm Goldbarren um 5150 Euro. Für die 50 Stück 100 Gramm Silberbarren, die kleinsten Barren die es auf der Bank gab, bezahlte er 4000 Euro. Die Silberbarren würde er mit dem Beil zerkleinern falls dies notwendig werden sollte. Die Bank hatte die Silberbarren zwar nicht vorrätig, doch stellte der Bankangestellte Severin einen Beleg aus mit dem er auf der Hauptbank die Silberbarren ausgehändigt bekam. Alles lief wie am Schnürchen. Nachdem er die Barren, die erstaunliche 5 kg wogen, in der 20 Kilometer entfernten Hauptbank abgeholt hatte, kaufte er das Brot, die Energieriegel und Traubenzucker ein, und fuhr zu seiner Mutter um bei ihr den Reserveschlüssel für seine Wohnung zu hinterlassen. Severin erklärte seiner Mutter, dass er für eine Woche verreisen will und dass, falls er nicht wieder zurückkommt, den Schlüssel seiner Ex geben sollte. Um seine Mutter nicht unnötig zu beunruhigen setzte er sarkastisch hinzu, dass man ja nie genau weiß wenn Gott seine Schäfchen heimholt. Außerdem hatte er es während seines Singledaseins immer schon so gehandhabt dass er seiner Mutter einen Wohnungsschlüssel hinterließ, falls irgendetwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Deshalb wurde seine Mutter auch nicht argwöhnisch und stellte auch keine Fragen. Da sie nur einen halben Kilometer von ihm entfernt wohnte und Severin ihr uneingeschränkt vertraute, war sie während seiner Abwesenheit die Hüterin seiner Wohnung. Um seine Mutter nicht anzulügen, sagte er ihr nur, dass er eine Wanderung ins Saiblachtal machen und dort irgendwo ein paar Tage übernachten würde, was ja auch der Wahrheit entsprach. Bei der Rückfahrt nachhause rief er seine Kinder an, die sich allesamt nicht meldeten. Er hatte ihnen zwar eine SMS geschickt und sie darüber informiert, dass er eine Weile weg sein würde, doch hätte er gerne noch einmal ihre Stimmen gehört. Da er es eh schon gewohnt war, dass die Kinder seine Anrufe meistens ignorierten, fiel es ihm umso leichter sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Es traf ihn zwar nach wie vor, dass nicht eines seiner Kinder mit ihm reden wollte, doch jetzt war keine Zeit für Selbstmitleid oder für Selbstvorwürfe. Seine 3 Töchter und sein Sohn waren alt genug um eigene Entscheidungen zu treffen, und da sie sich dazu entschlossen ihn zu ignorieren oder mit Nichtbeachtung zu strafen, blieb ihm nichts weiter übrig als ihre Entscheidung zu respektieren und ihnen in Gedanken seine Liebe zu schicken. Noch vor einem Jahr hatte er sich furchtbar gegrämt über die Ignoranz seiner Kinder, doch irgendwann entschied sich Severin dazu besser auf sein eigenes Wohlergehen zu achten und seine Kinder loszulassen. Dieser Prozess war sehr schmerzvoll und würde auch weiterhin andauern, doch er kam immer besser mit seinem Alleinsein zurecht, und er bedauerte nichts.

Als er zuhause angekommen war, holte er seine Ausrüstung und begann zu packen. Das meiste Zeug fand im und am großen Rucksack Platz. Zusätzlich konnte ein kleiner Tagesrucksack auf der Rückseite des großen Rucksacks festgemacht werden. Die Planen, die Matte, den Schlafsack, die Taucherflossen und das lange Seil band er außen am Rucksack fest und den Rest sortierte er in das große Hauptfach und in die außenliegenden Einzelfächer. Auch bei Dunkelheit hätte Severin jederzeit gewusst wo etwas im oder am Rucksack zu finden ist. Und obwohl er dieses Mal sehr viel mehr Ausrüstung dabei hatte als sonst, konnte er alles irgendwie verpacken. Selbst die sperrige Taucherausrüstung fand noch Platz in seinem Gepäck. Die meisten Kleider würde er sich in der Höhle anziehen damit er mehr Sachen im Rucksack verstauen kann. Man konnte nie wissen ob er mit all den am Rucksack festgebundenen Sachen während der Reise nicht irgendwo streifen und aus seiner Flugbahn geworfen und statt auf Temira an einem weit unbehaglicheren Ort landen würde. Als er alles gepackt hatte, überlegte er sich ob er einen Abschiedsbrief verfassen sollte, falls er, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr von seiner Reise zurückkehren sollte. Seine Angehörigen hatten ein Recht darauf zu erfahren wo er sich aufhält. Doch angesichts der Tatsache dass nur eine Handvoll Personen, zu denen seine eigenen Kinder nicht gehörten, sich vielleicht um ihn sorgen und ihn eine Weile lang vermissen würden, hatte er keinen Bock darauf einen Abschiedsbrief zu schreiben. Er druckte das Testament aus und legte es zusammen mit drei der 5 kg Silberbarren, die restlichen 5000 Euro von seinem aufgelösten Konto, seine Geldtasche, den Pass, die Schlüssel von seinem Auto, den 3. Ersatzwohnungsschlüssel und seinen Aktenordner auf den Küchentisch, damit seine Angehörigen nicht lange würden suchen müssen um seinen Nachlass zu regeln, falls er das Zeitliche segnen sollte.

Sollte er wirklich nicht zurückkommen, was würde dann passieren? Auf diese Frage fand Severin schnell eine Antwort. Das Leben würde weiter gehen, ohne dass er durch sein Fehlen oder Nichtvorhandensein allzu viel Chaos anrichtete. Es gab nichts mehr zu klären oder zu regeln. Er war so bereit wie man nur sein konnte. Noch vor Einbruch der Dunkelheit würde er losmarschieren und sich von niemandem auf dem 2,5 stündigen Marsch aufhalten lassen, auch nicht vom Revierjäger, der das Recht hatte Leute aufzuhalten und zu befragen, vor allem wenn sie ein Jagdgewehr bei sich haben, das Severin nicht im Rucksack verstecken konnte. Sollte ihn dieser aufgeblasene, wichtigtuerische Idiot wirklich aufhalten wollen, würde er ihn niederschlagen oder erschießen, sofern es nötig sein sollte. Es war unmöglich sich auf alle Eventualitäten einzustellen, deshalb kontrollierte er noch einmal die Ausrüstungsgegenstände und überlegte ob er nichts Wichtiges vergessen hatte. Er wollte nicht zu früh und nicht zu spät losgehen. Bei der Ankunft in der Höhle sollte es schon möglichst dunkel sein, um geschützt vor neugierigen Blicken auf der Geröllhalde einzuschlafen.

Am späten Nachmittag des 3. August 2035, genau um 17:30 Uhr erhob sich Severin Freud von seiner Couch, zog seine Kleider und die frisch eingefetteten Bergschuhe an, schulterte seinen schweren Rucksack, hängte sich das Gewehr um und verließ frohen Mutes seine Wohnung, und brach auf in eine ungewisse Zukunft. Bei der Wohnanlage und auf dem Weg durchs Dorf redete ihn niemand an. Ohne irgendwelche Zwischenfälle erreichte er den Wald wo er von niemandem mehr gesehen werden konnte. Im Wald fühlte sich Severin sicher und so verlangsamte er allmählich seine zügigen Schritte und genoss die Abgeschiedenheit in der Natur. Jetzt konnte er seine Gedanken loslassen, die mühsamen Vorstellungen von Treffen mit Menschen und dem taktvollen Ausweichen von Konversation, je nachdem wer ihm begegnet wäre. Severin hatte sich zwar vorgenommen nicht an solche Begegnungen zu denken, doch sobald er auf der offenen Straße war, brachen seine Vorsätze wie ein Kartenhaus in sich zusammen. All die Verstandeskonstruktionen waren umsonst, und verbrauchten unnötig viel Energie. Im Wald verschonte ihn sein Verstand mit unnötigen Gedanken die in keiner Weise hilfreich waren. Severin hatte das Gefühl als wären seine Sinne noch nie so scharf gewesen wie an diesem Tag. Er vernahm jedes Geräusch und versuchte trotz seines sperrigen Gepäcks so leise wie möglich zu sein. Er durchquerte den Wald ohne Zwischenfälle und als er den Waldrand vor der Schlucht erreichte hielt er inne um die Lage zu sondieren. Severin nahm sein Fernglas zur Hand und suchte damit den gegenüberliegenden Hang der Schlucht ab und vergewisserte sich dass niemand ihn sehen konnte. Als sich Severin sicher war, dass auf allen Seiten, soweit er sehen konnte, niemand zugegen war, trat er aus dem Wald und ging schwerfällig den Abhang hinunter zum Flussbett. Aufgrund seines Gewichtes trat er immer wieder Steine los, die laut durch die Talschlucht hallten. Der Lärm machte Severin nervös, er ließ ihn immer wieder innehalten, doch es gab untertags keine andere Möglichkeit zur Höhle zu kommen als auf diesem Weg. Um den Lärm zu vermeiden hätte er nicht durch den Wald gehen dürfen, sondern vor dem Wald dem Schotterweg weiter folgen, der mitten durch eine große Zementfabrik führt. Er kannte einige Leute die in der Zementfabrik arbeiteten, und natürlich wollte er ein Zusammentreffen mit ihnen unbedingt vermeiden. Also blieb ihm nichts anderes übrig als durch den Wald zu gehen. Der Lärm der hinunter rollenden Steine war ihm lieber als eine unliebsame Begegnung mit einem Bekannten. Als er im ausgetrockneten Bachbett ankam suchte er noch einmal mit dem Fernglas die Umgebung ab. Da niemand zu sehen war, setzte er seinen Weg zur Höhle fort. Es war das erste Mal dass Severin mit einem schweren Rucksack durch das Bachbett ging. Es gab hier keinen Weg, den musste man sich selber suchen und im Bedarfsfall machen um eine unpassierbare Stelle zu überqueren. Er hatte sein Gepäck nicht gewogen, doch waren es mit Sicherheit 30 kg wenn nicht gar 40 kg die er zusammen mit seinen 90 kg über die vielen großen und kleinen Hindernisse balancieren musste, was ihn an manchen Stellen ungemein viel Kraft kostete. Vor allem wenn er an einer Passage hinauf und wieder hinunter klettern musste, war es nicht nur mühsam sondern auch gefährlich. Er unterschätzte manchmal das zusätzliche Gewicht das er mit sich führte, und mehr als einmal verlor er auf dem unwegsamen Gelände das Gleichgewicht und stürzte. Dabei zog er sich nur oberflächliche Schürfwunden zu, doch an manchen Stellen hatte Severin richtig Angst. Eine gröbere Verletzung wäre hier fatal gewesen, da sie sein bevorstehendes Unterfangen abrupt beendet oder im schlimmsten Fall seinen Tod bedeutet hätte. Als er nach mehr als 2 Stunden endlich die Höhle entdeckte, spürte Severin wie sich neue Kräfte in ihm entfalteten. Er setzte seine Füße zielsicher auf und erreichte die Geröllhalde gerade noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit. Mühsam versuchte er mit dem schweren Rucksack und dem Gewehr auf dem Rücken die Geröllhalde hinauf zu klettern, doch er rutschte immer wieder ab auf dem losen Geröll und verausgabte sich dabei zusehends. Nach dem dritten vergeblichen Versuch nahm er den schweren Rucksack ab, holte das Seil heraus und band den Rucksack damit fest. Ohne Gepäck war es für Severin ein leichtes die Geröllhalde zu erklimmen. Als er oben ankam, zog er den Rucksack mit dem Seil über die Geröllhalde herauf ohne dass dabei etwas kaputt ging. Er klopfte den Dreck vom Rucksack und den daran befestigten Gegenständen, packte die Kleider aus, zog sie bis auf die Ersatzunterhose und das zweite Paar Socken alle an und stopfte die außen am Rucksack festgebundenen Gegenstände so gut es ging in den Rucksack hinein. Die schweren und weniger sperrigen Sachen wie die Silberbarren, Messer, Taschenlampe, Feldstecher, Besteck und ein paar andere Sachen stopfte er sich in die Hosen- und Jackentaschen oder unter seine Jacke. Die ebene Fläche auf der Geröllhalde fand er genauso vor wie am vorigen Tag. Da er genug Kleider anhatte und dementsprechend gut gepolstert war, legte er sich den nun um einige Kilo leichteren Rucksack auf den Bauch und probierte aus ob er in dieser unbequemen Stellung einschlafen könnte. Der Rucksack drückte ihn zwar in das zurecht gemachte Kiesbett doch es war aushaltbar, und Severin war sich sicher, dass er in dieser unbequemen Position würde einschlafen können. Nach dem Probeliegen rollte er den Rucksack auf die Seite, nahm das Gewehr ab und nahm die Taschenlampe aus seiner Hosentasche. Von der Anhöhe der Geröllhalde aus leuchtete er in jeden Winkel der Höhle, die höchstens 7 oder 8 Meter weit in den Felsen ragte. Es war gut zu sehen dass die Höhle rundum geschlossen war und dass es eigentlich nicht viel darin zu erkunden gab. Also verzichtete er darauf die Geröllhalde auf der Innenseite der Höhle hinunter zu steigen. Severin war dankbar und zufrieden dass er heil und ganz hier angekommen war. Seine spontanen Pläne und Vorbereitungen hatte er im Eiltempo umgesetzt. Noch einmal ließ er sich alles durch den Kopf gehen ob er auch nichts Wichtiges vergessen hatte, doch dem war nicht so. Er war bereit für seine zweite Reise nach Temira. Severin stand auf der Ebene und ließ seinen Blick über das ausgetrocknete Bachbett und die gegenüberliegenden Abhänge gleiten, die mittlerweile nur noch schemenhaft zu erkennen waren. Sein Timing war perfekt. Die Dunkelheit hüllte ihn ein wie einen schützenden Mantel. Severin fühlte sich sicher, er war zufrieden, glücklich und mit freudiger Erwartung erfüllt, und er war hundemüde. Er hängte sich den Rucksack wie ein übergewichtiges Kleinkind über die Brust, hängte sich das Gewehr über die Schulter und legte sich auf das Kiesbett. In seinem Bewusstsein kreierte er das Bild wie er auf Temira auf der herrlich grünen Wiese liegt. Er sah vor sich die geschützte Bucht mit dem türkisblauen Meer, hörte die Wellen rauschen, sah den blauen Himmel und die Sonne, fühlte wie der Wind zärtlich über seine Haut strich, und schlief mit diesen Gefühlen und den Bildern im Kopf irgendwann ein.

Present in the Past

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