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Aufbruch der Autokraten

Einleitung

Die Zukunft des Fußballs trägt den Namen Lusail. Am nördlichen Rand der katarischen Hauptstadt Doha soll das WM-Finale 2022 stattfinden, vor mehr als 80.000 Zuschauern im Lusail Iconic Stadium. Wassergräben und Säulen, Solaranlagen und Fassaden, die an traditionelle arabische Boote erinnern: das Stadion wird die Attraktion eines neuen Stadtviertels. Nach der WM wird die Arena verkleinert, sie macht dann Platz für Geschäfte, Schulen und eine Klinik. Katar arbeitet für den Bau mit chinesischen Unternehmen zusammen. Ein Meilenstein für Diplomatie und Handel zwischen beiden Ländern.

Vor zwanzig Jahren stellten die westlichen Industriestaaten 44 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, inzwischen sind es nur noch 30. Im selben Zeitraum erhöhte sich der Anteil der sogenannten BRICS-Staaten von 18 auf 30 Prozent. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika verdeutlichen, wie sich Wirtschaftsmacht und in der Folge politische Netzwerke von Norden nach Süden verschieben, aber mehr noch: von Westen nach Osten.

Seit bald anderthalb Jahrhunderten beansprucht Europa die Deutungshoheit über den Fußball. Wirklich angemessen war das nur in den ersten Jahrzehnten, doch spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich das Spiel auf fast allen Kontinenten aus. Fußball prägte die Alltagskultur in Argentinien, Ägypten oder Iran – und wurde damit auch interessant für die politischen Machthaber.

Die Fans der deutschen Vereine haben sich lange nicht für Entwicklungen außerhalb ihrer Bundesliga interessiert, das änderte sich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Immer mehr große Wettbewerbe wurden nicht mehr nach Westeuropa und Nordamerika vergeben, sondern nach Südafrika, Brasilien oder Russland. Wahrscheinlich wird in den 2030er Jahren die erste WM in China stattfinden. Überdies sicherten sich Investoren aus Russland, China und den Golfstaaten Anteile an europäischen Vereinen – und erweiterten den politischen Einfluss ihrer Regierungen.

Sportfunktionäre erklären gerne, dass die globale Aufmerksamkeit des Sports Gesellschaften öffnen könne. Mehrere Studien halten dagegen. So wurden in den vergangenen dreißig Jahren mehr als zwei Millionen Menschen für die Organisation von Olympischen Spielen vertrieben. In fast allen Austragungsorten von Weltmeisterschaften und Olympia sind Strukturen entstanden: Flughäfen und Straßen, Wohnviertel und Nahverkehr. Doch in den meisten Regionen profitiert eine Minderheit: Politiker, Funktionäre, Baukonzerne. Das Land, das darunter besonders leidet: Brasilien. Vor der WM 2014 wurde der Sicherheitsapparat hochgefahren, vor allem in den Favelas stieg die Polizeigewalt. Viele der Stadien und der Sportstätten für die Sommerspiele 2016 in Rio werden kaum noch angemessen genutzt. Zugleich leiden Bildung und Gesundheitswesen unter Finanzknappheit.

Menschen nehmen immer Schaden

Sportereignisse und Menschenrechte: Man denkt bei diesem Themenfeld an geldgierige Autokraten, an Zwangsarbeiter auf Baustellen, an soziale Gruppen, die auseinanderdriften. Doch auch jenseits der Gastgeberländer von Großereignissen hängt in der Milliardenindustrie Fußball alles mit allem zusammen. Unser wohltemperierter Stadionbesuch in Westeuropa ist mit der Ausbeutung asiatischer Trikotnäherinnen verknüpft. Fans empören sich, wenn der DFB eine Serie von Freundschaftsspielen mit einer chinesischen Jugendauswahl verabredet. Aber es fällt ihnen weniger auf, dass Sponsoren und Vermarkter ihrer Lieblingsklubs längst mit chinesischen, russischen oder arabischen Konzernen verflochten sind. Fans forderten einen Boykott der WM in Russland, aber viele gehörten dann doch wieder zum TV-Millionenpublikum. Laut Schätzungen sollen ARD und ZDF 150 Millionen Euro für die Übertragungsrechte gezahlt haben. Wie kritisch man als Fußballkonsument auch sein mag – man ist Teil eines Systems, in dem Menschen Schaden nehmen.

Dieses Buch konzentriert sich auf den Fußball als politisches und ökonomisches Machtinstrument im 21. Jahrhundert. Es ist eine Art Fortsetzung von „Gesellschaftsspielchen“, erschienen 2016, das den „Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei“ in Deutschland beleuchtete. „Machtspieler“ nimmt die Schaltzentralen der Zukunft ins Visier, insbesondere China, Russland und die Staaten am Persischen Golf. Es sind jene Länder, die den politischen Einfluss durch Fußball wohl am besten organisieren.

Doch dieser Entwicklungsstufe in Eurasien ging ein Jahrhundert voraus, in dem Fußball mit Politik, Wirtschaft und Religion immer mehr verwachsen ist. Dieses Buch stellt das Spektrum der Interessen, Abhängigkeiten und Zwänge vor. Einige Beispiele: In instabilen Zeiten streben Regionen nach Autonomie, besonders in Spanien, wo Katalanen und Basken ihre Stadien als Kulisse für Separatismus nutzen. Auf dem Balkan begleitet der Fußball die ethnische und konfessionelle Identitätssuche, für viele Fans in Serbien und Kroatien gehört Nationalismus zur Folklore. In Argentinien entfaltet sich wohl die lebendigste Zivilgesellschaft – allerdings spielt der Fußball beim Gedenken an die Militärdiktatur, in der auch die WM 1978 stattfand, kaum eine Rolle.

„Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution.“ Der Untertitel verknüpft große, schwere Begriffe, die auch im Fußball oft im falschen Kontext verwendet werden. Nicht in diesem Fall: Das Buch zeichnet nach, wie Fans und Spieler sich gegen Autokraten auflehnten. Beim Arabischen Frühling in Ägypten 2011, bei den Gezi-Protesten 2013 in Istanbul oder beim Euromaidan 2014 in Kiew waren es rivalisierende Ultras, die sich im Straßenkampf gegen selbstherrliche Regime verbündeten. Viele starben oder werden nun von Geheimdiensten überwacht. Die Motivationen und Strukturen der jeweiligen Protestbewegungen werden getrennt voneinander beschrieben, auf Vergleiche zwischen völlig unterschiedlichen Gesellschaften und Epochen soll verzichtet werden.

Fußballer, die ihre Laufbahn für politische Kritik aufs Spiel setzen, sind selten. Wenn sie keine Regimekritiker sein wollen oder es aufgrund von Verträgen nicht sein dürfen – müssen sie dann der Propaganda dienen? Sie könnten schweigen, aber manche lassen eine Autokratie auch alltäglich erscheinen: Julian Draxler schrieb nach dem gewonnenen Confederations Cup 2017 einen offenen Dankesbrief an die russische Bevölkerung, er ließ deren Sorgen nicht mal zwischen den Zeilen durchscheinen. Lukas Podolski trat in einem Tourismusvideo für die Türkei auf. Mesut Özil lud Präsident Erdoğan zu seiner Hochzeit ein. Ronaldinho posierte mit dem tschetschenischen Autokraten Ramsan Kadyrow und half dem Rechtsextremen Jair Bolsonaro ins Präsidentenamt von Brasilien. Diese Spieler taten das aus einer privilegierten Position heraus. Etliche ihrer Kollegen in Syrien, Libyen oder im Irak hatten keine Wahl. Sie mussten den Herrschern ihre Aufwartung machen, sonst drohte der Rauswurf, manchmal sogar Folter und Gefängnis.

Nicht nur die deutsche Brille

Dieses Buch basiert auf Recherchen in 15 Ländern auf vier Kontinenten, in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika, mit insgesamt 180 Interviews in den Jahren 2017 bis 2019. Ein WM-Sommer in Russland oder ein zweiwöchiger Aufenthalt in Argentinien reichen jedoch nicht, um für dortige Entwicklungen Experte zu sein. Die Berichte und Analysen stützen sich auf Forscher, Fans, Journalisten oder Spieler, die über Jahre in den betreffenden Ländern und Regionen tätig waren. „Machtspieler“ ist kein Reisebericht. Anekdoten, die den Autor im rostigen Taxi, auf staubigen Bolzplätzen, in verrauchten Ultrakneipen oder Luxusbüros katarischer Funktionäre beschreiben, sollen hier keinen Platz haben. Stattdessen: eine nüchterne, faktenorientierte Herleitung der Ursachen und Hintergründe. Informationen zur Meinungsbildung. Keine Kultur, so fremd sie uns auch erscheinen mag, soll als exotisch dargestellt werden.

Die Berichterstattung über den Fußball in China oder Katar konzentriert sich meist auf die Verletzung der Menschenrechte. Es ist auch für dieses Buch ein zentrales Thema, aber es kann nicht das einzige sein. Ob Kosovo, Ruanda oder Iran: überall zählen die Nationalteams zu den seltenen Symbolen, mit denen sich konkurrierende Volksgruppen gleichermaßen identifizieren. Ob Türkei, Bosnien oder China: überall unterstützen Ultras ihre Klubs mit farbenfrohen Choreografien und landestypischen Gesängen. Ob Kroatien, Russland oder Afghanistan: überall heben sich Aktivisten mit kreativen Projekten von korrupten Eliten ab. Die historischen, politischen und religiösen Umstände sind komplex. Dieses Buch soll nicht durch die deutsche Brille auf andere Staaten blicken. Es ist ein Versuch, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen. Ein Beitrag zur Überwindung von Klischees, Entfremdung und Ängsten.

Durch Globalisierung und Digitalisierung rücken Politik, Wirtschaft und Kultur weiter zusammen, daran werden auch nationalistische Regierungen in den USA, Brasilien oder Osteuropa wenig ändern. Der Fußball ist ein Vergrößerungsglas auf diese Entwicklung: mit WM-Gastgebern, Sponsoren und Entscheidern, die nicht aus Europa stammen, aber in Europa bestens vernetzt sind. Es reicht aber nicht mehr aus, sich über Trainingslager des FC Bayern in Katar zu empören. Solche Verbindungen werden zunehmen, zumal die Bundesliga zur Premier League aufschließen möchte und es auch in der arabischen Welt Dutzende gut organisierte Fanklubs des FC Bayern gibt.

Die Bundesregierung und Zehntausende deutsche Unternehmen kooperieren mit autoritären Regierungen, die im Fußball nach Dominanz streben. Viele von ihnen zeigen: Zwischen Boykottaufrufen und der Verharmlosung von Despoten, also zwischen Schwarz und Weiß, liegen viele Graustufen. Es bleibt unrealistisch, den FC Bayern von Katar abzuhalten, zu lukrativ sind die Reisen für den Klub, dessen Anteilseigner und den Gastgeber. Aber der FC Bayern kann noch mehr für freiheitliche Werte eintreten, auch im Hintergrund. Ein Schwerpunkt dieses Buches fokussiert den Nahen und Mittleren Osten, jene Region, in der Katar ein mächtiger Fleck auf einer großen, komplizierten Karte ist. Die WM gibt uns den Anstoß, differenzierter auf die arabische Welt zu schauen.

In den vergangenen Jahren sind Organisationen, Stiftungen und Netzwerke entstanden, die im Fußball Diplomatie und Soft Power methodisch begleiten. Das Wissen ist vorhanden, sollte aber in den Führungsgremien der Verbände und Klubs effektiver genutzt werden. Und auch Bundesministerien sollten ihren Einfluss geltend machen.

Der DFB will mit der EM 2024 in Deutschland einen anderen Weg gehen. Die Zeit bis zum Turnier soll von Kampagnen begleitet werden: zum europäischen Gedanken, zu Vielfalt oder Gesundheitsförderung. Kann das dazu führen, dass die Skepsis hierzulande gegenüber Sportgroßereignissen wieder sinkt? Spannend ist auch die Frage, ob sich weitere Regierungen unter die Machtspieler im Fußball mischen, Aserbaidschan, Kasachstan oder Indien. Wie können Zivilgesellschaften in autoritär regierten Staaten gestärkt werden, ohne sich mit Überlegenheitsdenken in den Vordergrund zu stellen? Dieses Buch soll einen Beitrag zur Debatte leisten. Das Lusail Iconic Stadium in Doha ist in dieser Entwicklung nur eine Zwischenstation.

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