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Scharfschützen hinter der Tribüne

Im Vielvölkerstaat Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten, aber in den Fankurven brach er heraus. Hooligans aus Serbien und Kroatien zogen als Freiwillige in den Krieg, im bosnischen Sarajevo lag das Stadion direkt an der Front. Heute verharmlosen viele Fans die Verbrechen. Ob Gesänge, Choreografien oder eine Drohne über dem Rasen: Der Fußball begleitet die ethnische und konfessionelle Identitätssuche. Und manchmal hilft er wie im Kosovo beim Aufbau einer neuen Nation. Erkundungen auf dem Balkan.

Auf dem Panzer ist nicht viel Platz zum Posieren, die Schlange wird länger und länger. Kinder warten aufgeregt, Väter halten ihre Handykameras bereit. Der Panzer wirkt frisch geputzt, die Vorderseite ist mit Streifen in Rot und Weiß bemalt, dazwischen das Logo von Roter Stern Belgrad, dem bekanntesten Klub Serbiens. Hinter dem Panzer dehnt sich Belgrad bis zum Horizont, aus dem Häusermeer ragt der fast achtzig Meter hohe Dom des Heiligen Sava hervor. Kinder klettern auf den Panzer, sie lachen, hüpfen und schwenken rote Schals. Einige Väter achten darauf, dass auf den Fotos auch die serbisch-orthodoxe Kirche zu sehen ist. Dann ziehen sie weiter zum Fanshop oder zur Imbissbude, viel Zeit bis zum Anpfiff bleibt nicht mehr.

Im westlichen Nachbarland Kroatien wird der Panzer mit weniger Gelassenheit betrachtet. Der stillgelegte T55 soll Anfang der 1990er Jahre in Vukovar im Einsatz gewesen sein. Die Stadt im Osten Kroatiens war ein Hauptschauplatz während der Jugoslawien-Kriege zwischen Serben und Kroaten. Vukovar wurde von serbischen Einheiten weitgehend zerstört, Hunderte Menschen fielen Hinrichtungen zum Opfer. Roter Stern Belgrad bezeichnet den Panzer dennoch als „Attraktion“. Fotos des Vereins wurden auf sozialen Medien tausendfach verbreitet. Der Panzer soll einige Jahre neben dem Stadion stehen bleiben, Stadtverwaltung und Fußballverbände sehen darin kein Problem, „solange nicht geschossen wird“.

In der kroatischen Hauptstadt wollten sich Fans von Dinamo Zagreb das nicht gefallen lassen. Im August 2019 postierten sie neben ihrem Stadion „Maksimir“ für kurze Zeit einen gusseisernen Traktor. Auch das ein Symbol: Während des Krieges waren viele Serben aus kroatischen Dörfern auch auf Traktoren über die Grenze geflohen. Familien, Freundeskreise und ganze Gemeinden zerbrachen.

Der westliche Balkan hatte sich über Jahrhunderte zu einem Flickenteppich der Ethnien, Konfessionen und Traditionen herausgebildet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt das sozialistische Jugoslawien als vielfältigster Staat Europas, mit sechs Teilrepubliken und vier Religionen, mit vier Sprachen und zwei Alphabeten. Doch Wirtschaftskrisen, Spannungen und Nationalismus führten ab den 1980er Jahren zu einer wachsenden Sehnsucht nach ethnisch reinen Einzelstaaten. In den Zerfallskriegen kamen in den 1990er Jahren rund 140.000 Menschen ums Leben, mehr als vier Millionen flohen oder wurden vertrieben.

Aus der Erbmasse Jugoslawiens gingen sieben Staaten hervor: Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Kosovo. Noch immer gibt es Konflikte um Gebiete, Ideologien und Nationalbewusstsein, auch um Religionen und historische Deutungen. die Bevölkerungen stehen sich in einem komplexen Verhältnis gegenüber: die Serben, überwiegend christlich orthodox. Die Kroaten, mehrheitlich katholisch. Die muslimischen Bosniaken. Und die ethnischen Albaner im Kosovo. Der Fußball verdeutlicht die Identitätssuche besonders. Durch Provokationen zwischen Fans und Spielern, durch feindselige Banner und Graffitis im Stadion, sogar durch Ausschreitungen und die Verherrlichung von Verbrechen. Fußball als Teil des Krieges – auf dem Balkan ist das keine Übertreibung.

Wer durch die serbische Hauptstadt Belgrad läuft, stößt schnell auf Markierungen von Fußballfans. Graffitis und Aufkleber an Häuserwänden, Brücken, Straßenschildern. Entweder in Schwarz und Weiß von den Anhängern des Vereins Partizan. Oder in Rot und Weiß, den Fans von Crvena Zvezda, Roter Stern. Es sind martialische Motive, die vermummte und kampfbereite Männer zeigen. Auch Jahreszahlen, die an Kluberfolge und historische Ereignisse der serbischen Geschichte erinnern, viele liegen Jahrhunderte zurück, andere erst drei Jahrzehnte. In der Nähe des Stadions von Roter Stern ist eine Gedenktafel den Opfern der Jugoslawienkriege gewidmet, daneben ein orthodoxes Kreuz und das Vereinslogo.

Es war vor allem der Politiker Slobodan Milošević, der Ende der 1980er Jahre den serbischen Nationalismus schürte und den Zerfall Jugoslawiens mit seiner Kriegsrhetorik vorantrieb. Damals lebte mehr als ein Viertel der acht Millionen ethnischen Serben außerhalb der eigenen Teilrepublik: 1,4 Millionen in Bosnien und Herzegowina, 580.000 in Kroatien, 200.000 im Kosovo. Milošević und seine Gefolgschaft wünschten sich eine Vereinigung aller Serben in einem Staat. Sie schimpften über Wirtschaftsprobleme und betonten die Gegensätze der Ethnien. Bei vielen Serben kam das gut an. Ihre Einkommen waren nur noch halb so viel wert wie 1980. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Schulden im Ausland stiegen, der Warenaustausch zwischen den Teilrepubliken ging zurück. Im Frühjahr 1990 bewerteten neun von zehn Jugoslawen das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen als schlecht oder sehr schlecht.

Hooligans morden und vergewaltigen

In jener Zeit entwickelten sich die Fanszenen im Fußball zu einer einflussreichen Subkultur, insbesondere in Belgrad. „Im sozialistischen Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten, aber im Stadion brach er heraus“, sagt Krsto Lazarević, der als Korrespondent in Belgrad gearbeitet hat und an einem Podcast über den Balkan mitwirkt. Ab den 1980er Jahren versammelten sich auf den Tribünen von Roter Stern Mitglieder der Mafia, gewaltbereite Männer, die in Raubüberfälle, Schutzgelderpressungen und Morde verwickelt waren. Mit dabei: der mehrfach vorbestrafte Željko Ražnatović, genannt Arkan. Mit seiner Firma durfte Ražnatović Fanartikel von Roter Stern vertreiben, zudem übernahm er die Führung der Delije, der wichtigsten Fanvereinigung.

Der Publizist Krsto Lazarević analysiert in einem Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung die politischen Verbindungen der serbischen Fanszene. So brachte Željko Ražnatović die nationalistischen Anhänger in Absprache mit dem Geheimdienst auf die Linie von Milošević. Überdies gründete er im Oktober 1990 die Serbische Freiwilligengarde, eine paramilitärische Truppe, der sich Hunderte Hooligans anschlossen. Ihr Beiname: „Arkans Tiger“. Für den Traum eines großserbischen Reiches zog Ražnatović in den Krieg, zunächst gegen kroatische, dann gegen bosnische Einheiten. Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen: Ražnatović und seine Kämpfer begingen Kriegsverbrechen. „Er hat Patienten aus einem Krankenhaus in Vukovar entführt und umbringen lassen“, berichtet Krsto Lazarević.

Roter Stern wurde zu einem Symbol des Serbentums. Als der Klub 1991 im italienischen Bari den Europapokal der Landesmeister gewann, schwenkten seine Fans kaum noch jugoslawische Fahnen. Auf dem Siegerfoto zeigten acht Spieler den serbischen Gruß, zwei gestreckte Finger und ein Daumen. Bei Heimspielen in den folgenden Monaten feierten Anhänger von Roter Stern auch den Krieg, einige Söldner präsentierten auf der Tribüne Straßenschilder aus dem zerstörten Vukovar.

Das Abkommen von Dayton im US-Bundesstaat Ohio ließ die Kriegshandlungen 1995 zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien zur Ruhe kommen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag sollte bald 161 Personen wegen schwerer Verbrechen anklagen, die Rede war aber auch von 15.000 bis 20.000 Unterstützern in Polizei, Militär oder Verwaltung.

Viele Täter konnten sich einer Strafverfolgung entziehen. Željko Ražnatović stieg zu einer Heldenfigur auf. Seine Heirat mit der Sängerin Svetlana Veličković, genannt Ceca, wurde 1995 im serbischen Fernsehen übertragen. Ein Jahr später kaufte Ražnatović den Belgrader Verein FK Obilić, benannt nach einem serbischen Ritter aus dem 14. Jahrhundert. Auch mit kriminellen Geschäften führte Ražnatović den Klub 1998 zur Meisterschaft im schon stark geschrumpften Jugoslawien. Wegen eines internationalen Haftbefehls mied er Auswärtsspiele in europäischen Wettbewerben. Im Jahr 2000 wurde Ražnatović in einer Belgrader Hotellobby erschossen. War er Politikern mit seinem Wissen zu mächtig geworden? Die genauen Hintergründe sind bis heute unklar.

Laut dem Publizisten Krsto Lazarević gehört die Verharmlosung von Kriegsverbrechen zur serbischen Fankultur. Ein Beispiel liefert der ehemalige General Ratko Mladić, der für Vertreibungen von Nicht-Serben aus Bosnien-Herzegowina verantwortlich war und für das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, bei dem 8.200 bosnische Männer und Jugendliche ermordet wurden. Mladić wurde erst 2011 festgenommen und 2017 wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Viele Serben sehen in Mladić jedoch einen Verteidiger ihrer Kultur. Nach seiner Verurteilung riefen Ultras von Roter Stern Belgrad seinen Namen. Fans des Rivalen Partizan bedankten sich bei der Mutter von Mladić und präsentierten Bilder jener Blumen, die während der Urteilsverkündung auf seinem Schoß gelegen hatten. Spieler des Klubs FK Kabel aus dem nordserbischen Novi Sad trugen weiße T-Shirts mit dem Konterfei von Mladić.

Über Jahrhunderte stand der westliche Balkan unter dem Einfluss von Großmächten: Österreich-Ungarn im Norden, das Osmanische Reich im Süden und das russische Zarenreich im Osten. Im Museum von Roter Stern Belgrad fallen neben Pokalen, Medaillen und Triumphbildern die religiösen Motive ins Auge. Gemälde, Figuren und Wappen der Serbisch-Orthodoxen Kirche in kyrillischer Schrift. Nach der Unterdrückung der Konfessionen im sozialistischen Jugoslawien erlebte die Orthodoxie in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten einen Aufbruch. Es sei nicht die einzige Entwicklung, die das Land mit Russland verbinde, sagt der frühere Belgrad-Korrespondent Krsto Lazarević: „Eine Verbundenheit mit Moskau ist ein wichtiges Merkmal des serbischen Nationalismus.“

Im Stadion von Roter Stern ist der blaue Sponsorenschriftzug von Gazprom allgegenwärtig. Vor dem Heimspiel gegen Zenit Sankt Petersburg 2011 traten Folkloregruppen in serbischen und russischen Trachten auf, Ehrengast Wladimir Putin wurde bejubelt. Für den Krieg um den östlichen Teil der Ukraine meldeten sich ab 2014 auch Freiwillige aus Serbien. Während ihrer Meisterfeier 2014 zeigten Fans von Roter Stern eine Fahne der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“, die ostukrainische Stadt war von prorussischen Separatisten besetzt worden. Bei einem anderen Spiel präsentierten sie ein Banner auf Russisch: „Älterer Bruder, sag mir, ob ich mir das nur einbilde oder ob unsere Mutter endlich erwacht. Heil Russland, Ukraine und Serbien.“

Staatspräsident aus der Fankurve

Filip Vulović hat für diese Art von Fußball nichts übrig, trotzdem muss er sich damit beschäftigen. Der Student gehört zu den Organisatoren von „Belgrade Pride“, einer Veranstaltungsreihe der LGBT-Gemeinde mit Workshops, Konzerten und einem Straßenumzug, die jährlich im September stattfindet. An einem Sonntagvormittag führt er durch das Infozentrum der Gruppe, das in der Nähe der Belgrader Fußgängerzone liegt. Zwischen Broschüren, Plakaten und Aktivistenfotos informieren Zeittafeln über die Geschichte ihrer Bewegung. Vulović geht nach links an den Anfang und zeigt auf die Abbildung eines blutüberströmten Mannes. „In Belgrad herrschte Ausnahmezustand“, sagt er. „Hass und Gewalt überall, das hat bei uns tiefe Wunden hinterlassen.“

Vulović spricht von „Belgrade Pride“ 2010. Über Wochen hatten Hooligans, rechtsextreme Politiker und Vertreter der orthodoxen Kirche Stimmung dagegen gemacht. Patriarch Irinej, das kirchliche Oberhaupt, verglich Homosexuelle mit „Kinderschändern“, Priester riefen zum Protest auf. Am Tag des Umzuges strömten rund 6.000 Hooligans aus allen Landesteilen in die Innenstadt von Belgrad. Sie griffen LGBT-Teilnehmer und Polizisten an, 150 Menschen wurden verletzt, der Schaden ging in die Millionen. „Die Stadt sah aus wie eine Kriegszone, die Polizei war völlig überfordert und brachte viele unserer Teilnehmer in ein Waldgebiet“, sagt Filip Vulović. „Ich war damals in der Pubertät und fand allmählich heraus, dass ich auf Männer stehe. Diese Erfahrung hat uns sehr zurückgeworfen.“ In den Jahren danach verbot die serbische Regierung den Pride-Umzug, angeblich zum Schutz für deren Teilnehmer.

Mirjana Jevtović sieht das anders. Seit fast 15 Jahren beobachtet die investigative Journalistin für das Fernsehmagazin Insajder die Belgrader Fanszenen. „Für manche Politiker übernehmen Hooligans die Drecksarbeit auf der Straße“, sagt sie. „Die Ausschreitungen bei der Pride 2010 ließen die Regierung sehr schlecht dastehen. Von der Opposition kam viel Kritik.“ Vertreter der damaligen Opposition sind inzwischen an der Macht in Serbien: Aleksandar Vučić von der sogenannten Fortschrittpartei wurde 2012 Verteidigungsminister, 2014 Ministerpräsident und 2017 Präsident. Oft betonte Vučić seine frühere Zugehörigkeit zu Delije, der Fanvereinigung von Roter Stern. Seit 2014 ist der Umzug von „Belgrade Pride“ wieder zugelassen. Mit Tausenden Polizisten – und ohne Vorkommnisse.

Insajder ist in Serbien eines der wenigen Medien, die unabhängig über die Verbrechen der Hooligans berichten, über Tötungsdelikte, Menschenhandel, Drogenverkauf. Das hat Folgen: Fans von Partizan Belgrad erstachen bei einem Heimspiel eine aufblasbare Puppe, die das Redaktionsmitglied Brankica Stanković darstellen sollte, dazu der Ruf: „Du wirst enden wie Ćuruvija.“ Der Journalist Slavko Ć uruvija war 1999 vor seinem Haus erschossen worden. Brankica Stanković erhielt Polizeischutz, doch sie recherchierte weiter, zum Beispiel über Hooligans, die zu Unternehmern und Sicherheitskräften aufstiegen. Und die in den Fankurven Proteste gegen die Regierung verhinderten. „Unsere Recherchen haben leider selten Konsequenzen“, sagt Mirjana Jevtović und listet auf, wer bei Roter Stern Belgrad ein und ausgehe: Polizisten, Anwälte, Beamte. Der Fußball sei ein Symptom für die Korruption und die Machtkonzentration bei Präsident Aleksandar Vučić. Seit 2012 ist Serbien Beitrittskandidat für die Europäische Union, doch ist eine zeitnahe Aufnahme realistisch? Mirjana Jevtović ist skeptisch, auch wegen der schlechten Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

Der Beginn eines modernen Mythos

Wer auf dem Balkan von Land zu Land reist, merkt schnell, wie tief die Abneigung zwischen den Menschen vielerorts noch verwurzelt ist. In Gesprächen kommt das nicht immer often zum Ausdruck. Und auch die Symbolik ist subtil und hintergründig: in historischen Museen, bei Devotionalien oder an Gedenkorten, zum Beispiel in Zagreb. Das fußballerische Zentrum der kroatischen Hauptstadt ist das Maksimir, das Stadion von Dinamo. Die Außenfassade der Westtribüne ist mit einer Malerei verziert, die schon aus hundert Metern Entfernung zu erkennen ist. Darauf ein reitender Feldherr mit blauer Fahne, daneben das Vereinslogo, im Hintergrund katholische Kirchtürme. Fünfzig Meter weiter steht eine Gedenktafel. Das Motiv zeigt Soldaten mit Gewehren, umgeben von wütenden Fans im Stadion, ergänzt durch einen Schriftzug: „Für alle Dinamo-Fans, für die der Krieg am 13. Mai 1990 im Maksimir begann und mit der Hingabe ihrer Leben auf dem Altar ihrer Heimat Kroatien endete.“

Die Tafel wurde von den Bad Blue Boys gestiftet, der einflussreichsten Fangruppe bei Dinamo, gegründet 1986, benannt nach dem USFilm Bad Boys mit Sean Penn. Wie viele andere Gruppen trugen die Bad Blue Boys ihr Nationalbewusstsein ins Stadion und bestärkten damit den Auflösungsprozess Jugoslawiens, mit Bannern, Gesängen und Gewalt. Sie unterstützten den Wahlkampf des früheren Offiziers Franjo Tuđman. Dessen antijugoslawische Partei, die Kroatische Demokratische Union, kurz HDZ, gewann im April 1990 die erste freie Parlamentswahl in Kroatien. Wenige Tage später, am 13. Mai, sollte Dinamo Zagreb im Maksimir auf Roter Stern Belgrad treffen. Für den US-Sender CNN war es bald eines von „fünf Fußballspielen, die die Welt veränderten“.

Schon Stunden vor dem Spiel kam es in der Stadt zu Hassgesängen und Schlägereien. Im Stadion durchbrachen die verfeindeten Fangruppen Zäune, warfen Steine, zerstörten Sitzschalen. Treibende Kraft bei der Delije: Željko Ražnatović, genannt Arkan. Anhänger stürmten den Rasen, etliche Spieler brachten sich in den Kabinen in Sicherheit. Zvonimir Boban blieb zunächst, der damals 21-jährige Spieler von Dinamo trat einen Polizisten, der zuvor einen kroatischen Fan geschlagen hatte. „Für viele Kroaten war Bobans Tritt eine symbolische Auflehnung gegen jugoslawische Institutionen, die oft von Serben dominiert waren“, sagt Dario Brentin, der am Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz über Nationalismus im Fußball forscht. „In der Herausbildung der kroatischen Nation wird der 13. Mai 1990 als eine Grundsäule betrachtet. Regelmäßig wird durch Aktionen an diesen modernen Mythos erinnert.“

Viele serbische Medien beschrieben die Ausschreitungen als Komplott der neuen kroatischen Regierung, um den Vielvölkerstaat Jugoslawien weiter zu schwächen. Franjo Tuđman, der erste demokratisch gewählte Präsident Kroatiens, argumentierte auch im Fußball für ein „aufrechtes Kroatentum“ und gegen das „aggressive Großmachtstreben“ Serbiens. Er sagte, dass man „nach dem Krieg eine Nation primär im Sport erkennen“ würde. Am 3. Juni 1990 bestritt das jugoslawische Nationalteam in Zagreb ein Testspiel gegen die Niederlande. Die kroatischen Zuschauer pfiffen die jugoslawische Hymne nieder. Drei Monate später stürmten Fans des südkroatischen Klubs Hajduk Split beim Heimspiel gegen Partizan Belgrad den Rasen und verbrannten eine jugoslawische Fahne.

Als zweite Teilrepublik nach Slowenien erklärte Kroatien im Juni 1991 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Die von Serbien dominierte jugoslawische Volksarmee ging mit paramilitärischer Unterstützung dagegen vor, es folgten vier Jahre Krieg zwischen Kroaten und Serben. In dieser Zeit prägte das Gefolge von Franjo Tuđman die nostalgische Haltung, dass es um die kroatische Kultur vor dem sozialistischen Jugoslawien besser bestellt gewesen sei. Zwischen 1941 und 1945 war im „Unabhängigen Staat Kroatien“ die faschistische Ustascha-Bewegung an der Macht gewesen, unter Duldung der Nationalsozialisten. Die Ustascha strebte ein ethnisch homogenes Großkroatien an. Sie verbot serbische Vereine, löste gemischte Ehen auf und verdrängte das serbisch-kyrillische Alphabet aus dem öffentlichen Leben. Ihrer Vernichtungspolitik fielen eine halbe Million Serben, Juden und Roma zum Opfer.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die kroatische Unabhängigkeitsbewegung in Jugoslawien unterdrückt. Aus dem Exil heraus rief sie zu Protesten gegen das kommunistische Regime auf. Viele Nationalisten in den 1990er Jahren verknüpften ihren Widerstand gegen Belgrad mit der „Standhaftigkeit“ der Ustascha. Franjo Tuđman verharmloste deren Mordaktionen. Lange verbotene Symbole kamen wieder in Mode, etwa das rotweiße Schachbrettmuster im kroatischen Wappen, das seinen Ursprung zwar im 15. Jahrhundert haben soll, aber vor allem von der Ustascha gepflegt wurde. Straßennamen wurden der kroatischen Freiheitsbewegung gewidmet.

Kroatien zog seine Fußballvereine aus der jugoslawischen Liga zurück und baute ein eigenes Nationalteam auf. Als Zeichen gegen die kommunistische Vergangenheit ließ der autoritär regierende Franjo Tuđman den Zagreber Verein Dinamo in Croatia umbenennen. Auf einer Rede vor Fans sagte er: „Wer für Dinamo singt, ist ein Agent aus Belgrad.“ Erst nach seinem Tod sollte die Namensänderung rückgängig gemacht werden. Während Anfang der 1990er Jahre kroatische Streitkräfte gegen serbische Truppen kämpften, etablierte sich der Sport als Stütze für eine nationale Identität in Kroatien, analysiert der Forscher Dario Brentin und nennt Leitfiguren jener Zeit: den NBA-Basketballer Dražen Petrović, den Tennisspieler Goran Ivanišević, den Handballer Ivano Balić.

Nach der Zurückdrängung der jugoslawischen Armee und dem Dayton-Abkommen 1995 begünstigte der wachsende Nationalismus die Verharmlosung des Faschismus. Davor Šuker, damals Stürmer bei Real Madrid und seit 2012 Präsident des kroatischen Fußballverbandes, posierte 1996 vor dem Grab von Ante Pavelić, einst Anführer der Ustascha. 1998 bei der WM mischte sich in den Jubel über den dritten Platz des kroatischen Teams bei vielen Fans auch Feindseligkeit gegen Serbien. Franjo Tuđman ließ sich in Frankreich mehrfach mit den Spielern filmen und fotografieren.

Linke Aktivisiten stehen ziemlich allein

Und wie ist das gesellschaftliche Klima mehr als zwanzig Jahre später? Ein Samstagnachmittag am östlichen Rand von Zagreb. Im holzgetäfelten Vereinsheim des NK Čulinec wird bei Suppe und Bier über den großen Fußball diskutiert, daneben findet zwischen Einfamilienhäusern der kleine Fußball statt. Zu Gast ist der selbst verwaltete Amateurklub NK Zagreb 041. Dessen Mitglieder hatten sich im Umfeld des Profiklubs NK Zagreb kennengelernt, in ihrer Ultra-Gruppe „White Angels“ positionierten sie sich mit Bannern, Gesängen und Konzerten gegen Diskriminierung. Sie wurden angefeindet, standen in Konflikt mit dem Präsidium – irgendwann hatten sie genug und gründeten 2014 ihren eigenen Verein.

Einer der treibenden Kräfte unter den 150 Mitgliedern bei Zagreb 041 ist Filip. Er steht mit seinen Freunden hinter der Trainerbank und spornt die Spieler an. Immer wieder dreht er sich um und blickt auf die umliegenden Häuser, Büsche und Autos. „Wir bleiben in der Gruppe und achten darauf, wenn Leute auftauchen, die wir nicht kennen“, erzählt Filip. „Wir wurden mehrfach angegriffen, seitdem kommen meine Frau und mein Kind eher selten zu den Spielen.“ Einmal gingen vermummte Hooligans der Bad Blue Boys mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf sie los, ein anderes Mal provozierten sie mit einem Transparent: „Refugees not Welcome“. Zagreb 041 setzt sich seit Langem für Flüchtlinge ein.

Die Familie von Filip stammt aus Dalmatien, aus dem Süden von Kroatien, daher blickt er aus der Ferne auch mit Interesse auf Hajduk Split, den zweiten großen Klubs des Landes. Auf seinem Handy zeigt Filip Videos von Choreografien und Gesängen. Häufig greift Torcida, die größte Fangruppe bei Hajduk, historische Ereignisse auf, meist rund um den 5. August, den „Tag des Sieges“. Anfang August 1995 hatten kroatische Einheiten besetzte Gebiete der Serben zurückerobert. Im August 2019 stellte Torcida in einer aufwendigen Choreografie die Zerstörung eines serbischen Panzers dar, begleitet von Rauchschwaden und tobendem Applaus im Stadion. Auch andere Gruppen präsentieren in ihren Kurven Wappen und Fahnen von Milizen, die gegen Serben gekämpft hatten.

Im Sammelband „Zurück am Tatort Stadion“ erläutert der Soziologe Holger Raschke anhand zahlreicher Beispiele, wie der Fußball in Kroatien Öffentlichkeit für politische Inhalte herstellt: Im April 2011 wurde der kroatische General Ante Gotovina für Kriegsverbrechen gegen Serben am Internationalen Strafgerichtshof zu einer Haft von 24 Jahren verurteilt. Wenige Tage später trugen Spieler bei einer Erstligapartie zwischen HNK Šibenik und NK Zadar T-Shirts mit dem Konterfei Gotovinas. 2012 wurde Gotovina in der Berufung freigesprochen, die Gruppe Torcida feierte das in Split mit einer großen Choreografie. 2013 dann, nach dem EU-Beitritt Kroatiens, forderte ein Minderheitengesetz in Vukovar die zusätzliche Beschriftung der Amtsschilder in Serbisch-Kyrillisch. Die Mannschaft von Hajduk Split lief mit einem Transparent auf den Rasen: „Für ein kroatisches Vukovar.“

„Auf dem Balkan gibt es keine differenzierte Aufarbeitung der Jugoslawienkriege“, sagt der Zagreber Kolumnist und Blogger Juraj Vrdoljak, der seit mehr als zehn Jahren über gesellschaftliche Hintergründe im Sport berichtet. „In Kroatien wird die Erinnerung an die Ustascha-Verbrechen meist verweigert.“ Graffitis von Hakenkreuzen und Ustascha-Symbolen prangen mit Fußballbezug an Häuserwänden, Brücken und sogar Schulgebäuden, mitunter in Verbindung mit katholischen Motiven wie der Flagge des Vatikans. „Die historischen Hintergründe für den Nationalismus werden in der Gesellschaft nicht ausreichend thematisiert“, findet Vrdoljak. „Und prominente Beispiele tragen zur Normalisierung bei.“

Nach der Qualifikation des kroatischen Teams für die WM 2014 intonierte der Verteidiger Josip Šimunić in Zagreb mit den Fans den Ustascha-Gruß „Za dom spremni“, für die Heimat bereit. Viele Medien kritisierten Šimunić – etliche Fangruppen solidarisierten sich mit ihm. Überschaubar war das Problembewusstsein auch 2018: Die kroatische Auswahl belegte bei der WM in Russland Platz zwei, bei der Willkommensfeier in Zagreb war im offenen Mannschaftsbus auch Marko Perković dabei, Gründer von Thompson. Die Rechtsrockband ist bei vielen Fans und Spielern seit Jahren beliebt, in einigen Ländern Europas erhielt sie hingegen Auftrittsverbot.

Jugoslawiens Geschichte spiegelt sich im Fußball

Kroaten und Serben: das Spannungsverhältnis ist jahrhundertealt und prägte gerade im 20. Jahrhundert unterschiedliche politische Systeme. Zwischen den beiden Weltkriegen übernahmen Serben eine bevorzugte Stellung im neuen Königreich Jugoslawien, schreibt die Südosteuropa-Expertin Marie-Janine Calic von der LMU München in ihrem Buch „Geschichte Jugoslawiens“. Unter den 656 Ministern der kurzlebigen Regierungen waren 452 Serben und 137 Kroaten. Das erste Fußballnationalteam Jugoslawiens wurde dagegen 1919 in Zagreb gegründet, die meisten Spieler hatten kroatische Wurzeln. „Der Fußball verdeutlichte einen politischen Grundsatzstreit“, erklärt der britische Historiker Richard Mills. „Einige Funktionäre forderten eine Zentralisierung in Belgrad, andere wollten mehr Autonomie für die Regionen.“ 1929 wurde der Fußballverband nach Belgrad verlegt. Daraufhin boykottierten kroatische Spieler das jugoslawische Nationalteam, weshalb bei der ersten WM 1930 in Uruguay fast ausschließlich Serben zum Einsatz kamen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte der Partisanenkämpfer Josip Broz, genannt Tito, einen kommunistischen Einparteienstaat, laut Grundgesetz eine „Gemeinschaft gleichberechtigter Völker“. Jeder Mensch war Bürger Jugoslawiens und einer Teilrepublik. Tito ließ Kritiker aus dem Weg räumen und belegte Intellektuelle mit Berufsverbot, doch er ging dabei nicht so brutal vor wie Josef Stalin in der Sowjetunion. Neben Kulturvereinen, Lesegesellschaften oder Musikgruppen sollte der Fußball den Leitspruch Titos verbreiten: „Brüderlichkeit und Einkeit“. Landesweit entstanden Klubs mit kommunistischer Symbolik Roter Stern, Partizan oder Proletar, auch Slobodan, auf Deutsch Frieden, oder Napredak, Fortschritt. „Viele Vereine mit eindeutigen ethnischen Hintergründen wurden verboten“, sagt Richard Mills, Autor des Buches „The Politics of Football in Yugoslavia“. „So wollten die Kommunisten Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen früh unterbinden.“

Doch es gab Ausnahmen wie Hajduk Split, gegründet 1911. Die südkroatische Hafenstadt Split war 1941 von italienischen Truppen besetzt worden. Hajduk weigerte sich, in der italienischen Liga zu spielen, und schloss sich 1944 als Armeeteam den jugoslawischen Partisanen an. Nach dem Krieg wollten die Kommunisten Hajduk als Vorzeigeklub nach Belgrad versetzen, doch der Verein lehnte ab. Nachdem Hajduk die jugoslawische Meisterschaft 1950 gewann, formten Studenten in Split die Fangruppe Torcida. Vor einem Spiel störten sie mit Pfeifen die Nachtruhe des Gästeteams Roter Stern Belgrad. Einige Mitglieder wurden angeklagt, aus Sorge vor kroatischem Nationalismus drängte das Regime Torcida in den Untergrund.

In den 1950er Jahren verzeichnete die jugoslawische Wirtschaft eine der größten Wachstumsraten der Welt, bis 1960 stieg die Industrieproduktion jährlich um 14 Prozent. Mehr als fünf Millionen Menschen zogen für Arbeit in die Städte, an den Küsten entstand ein Tourismusgewerbe. Die Identifikationsfigur Tito erlaubte bis zu einem gewissen Grad Reisefreiheit und Streiks. „In den Fabriken erhielten Arbeiter mehr Einfluss, und auch die Fußballvereine gestatteten ihren Spielern mehr Entscheidungsfreiheit“, berichtet Richards Mills von der University of East Anglia im englischen Norwich.

Die multiethnische Nationalmannschaft trug jugoslawische Ideen in die Welt hinaus. Sie gewann bei Olympia zwischen 1948 und 1960 dreimal Silber und einmal Gold, dazu der vierte Platz bei der WM 1962 sowie zwei unterlegende EM-Endspiele 1960 und 1968. Die großen Vereine waren bei internationalen Turnieren gern gesehene Gäste. 1964 bezeichneten 73 Prozent der jugoslawischen Bevölkerung die Beziehungen zwischen den Teilrepubliken als gut.

Doch der Aufschwung endete in den 1970er Jahren. Arbeitslosigkeit, Staatsschulden und soziale Ungleichheit zwischen den Regionen wuchsen. 1975 war Slowenien siebenmal reicher als der Kosovo. „Die sozialistische Ideologie verlor an konkreter Bedeutung“, schreibt die Südosteuropa-Forscherin Marie-Janine Calic. Immer mehr Menschen wandten sich vom Vielvölkerstaat ab und pflegten ethnische Traditionen mit Trachten, Volksliedern und Denkmälern. Laut Calic führte der Verlust alter Gewissheiten zu einer „Wiedererweckung der Religionen“. Und diese Entwicklungen sollten sich nach dem 4. Mai 1980 rasant beschleunigen: Während des Spiels zwischen Hajduk Split und Roter Stern Belgrad verkündete der Stadionsprecher den Tod Titos.

Im folgenden Jahrzehnt mündeten die ethnischen Spannungen in Demonstrationen, Ausschreitungen und Gewalt, auch rund um die Fußballklubs. Die jugoslawische Nationalmannschaft gehörte weiter zur europäischen Spitze, gewann bei Olympia 1984 Bronze. Seit ihrer Gründung 1919 stammten die meisten Nationalspieler aus Serbien und Kroatien, doch gerade bei der WM 1990, kurz vor den Zerfallskriegen, verfügte Jugoslawien über eines der ethnisch vielfältigsten Teams seiner Geschichte. Es waren auch fünf Spieler aus Bosnien und Herzegowina dabei, zwei aus Montenegro, zwei aus Mazedonien und einer aus Slowenien. Jugoslawien scheiterte bei der WM in Italien erst im Viertelfinale an Argentinien.

Schüsse auf Spieler und Fans

Nationaltrainer war Ivica Osim, geboren und aufgewachsen in Sarajevo, dem politischen und kulturellen Zentrum Bosniens. Der Europawissenschaftler Ivan Korić zitierte Osim in einem Aufsatz für das Fachmagazin „Ost-West. Europäische Perspektiven“ mit folgenden Worten: „Die jugoslawischen Journalisten haben mich fürchterlich kritisiert. Sie wollten immer die Spieler aus ihrer Teilrepublik im Team sehen. Ich habe dadurch mit dem Publikum und mit den Journalisten Probleme bekommen. Aber ich habe meine eigene Linie durchgezogen. Für mich war nie wichtig, aus welcher Republik jemand kommt. Einmal habe ich zu den Journalisten gesagt: ‚Mir ist egal, woher die Spieler kommen. Es werden immer nur die Besten spielen. Und wenn es sein muss, spiele ich auch mit elf Kosovo-Albanern. Sie gehören auch zu uns. Und wenn sie die Besten sind, dann spielen sie auch.‘ Damit hatte ich klargestellt, dass ich mich nicht unter Druck setzen lasse. Aber Jugoslawien war praktisch schon vor der WM in Italien zerstört. Es war ein kaputter Staat.“

Im Oktober 1991 reiste Ivica Osim mit der jugoslawischen Auswahl zu einem Freundschaftsspiel in seine Heimatstadt Sarajevo, Anlass war der siebzigste Geburtstag seines früheren Vereins, des FK Željeznič ar, zu Deutsch Lokomotive. Zu jener Zeit hatten Slowenien und Kroatien bereits ihre Unabhängigkeit erklärt. In Sarajevo schienen die Menschen noch Hoffnung zu haben: Vor dem Spiel ließen Spieler Friedenstauben steigen. Auf den Tribünen bejubelten 20.000 Zuschauer ihr bereits geschrumpftes Nationalteam. Bosnien und Herzegowina war die einzige jugoslawische Teilrepublik, in der es keine klare Bevölkerungsmehrheit gab. Und das zeigte sich 1991 auch in Sarajevo: Von den 530.000 Einwohnern waren 49 Prozent Muslime, dreißig Prozent Serben, sieben Prozent Kroaten. Keine Gemeinde im Umkreis war ethnisch homogen, gemischte Ehen waren selbstverständlich.

Nach einem Referendum im März 1992 erklärte sich aber auch die Republik Bosnien und Herzegowina für unabhängig. Die bosnischen Serben wollten das nicht akzeptierten, auf ihren Gebieten schlossen sie sich zur „Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina“ zusammen, später Republika Srpska. In jener aufgeladenen Atmosphäre sollte der FK Željeznič ar in Sarajevo den Verein Rad Belgrad empfangen. Am selben Tag besetzten serbische Kräfte der verbliebenden jugoslawischen Armee eine Polizeiakademie in der Nähe des Stadions. Sie schossen willkürlich auf Zivilisten, auch auf das Stadion. Spieler und Fans konnten sich in Sicherheit bringen.

Serbische Soldaten zogen einen Belagerungsring um Sarajevo, schnell besetzten sie mehr als siebzig Prozent von Bosnien und Herzegowina. Ivica Osim, der das jugoslawische Nationalteam erfolgreich durch die Qualifikation für die EM 1992 führte, hatte länger nichts mehr von seiner Familie gehört. Noch vor dem Ausschluss Jugoslawiens von der EM trat er als Nationaltrainer zurück. „Das ist das Einzige, was ich für diese Stadt tun kann. Damit Sie sich erinnern, dass ich in Sarajevo geboren bin“, sagte Osim auf einer Pressekonferenz.

Fan will Frau retten und stirbt

„Der Stadtteil Grbavica rund um das Stadion von Željeznič ar wurde zur Kriegszone“, erzählt der bosnische Journalist Danijal Hadžović, der sich seit zehn Jahren mit Politik und Fußball beschäftigt. „Die Frontlinie verlief quer durch das Viertel.“ Serbische Scharfschützen postierten sich auf umliegenden Hochhäusern und erschossen Menschen, die Wasser und Nahrung besorgen wollten. Die mehrheitlich muslimischen Bosnier, auch Bosniaken genannt, feuerten von der anderen Seite zurück. Ruckelnde Filmaufnahmen zeigen, wie Teile der Stadiontribünen in Flammen aufgehen. Soldaten verschanzten sich hinter dem Vereinsheim, der Rasen glich einem Krater. „Wer sein Haus verließ, riskierte sein Leben“, sagt Danijal Hadžović. „An ein normales Leben mit Freizeit war nicht zu denken.“

Trotzdem wollten sich einige Jugendliche in Sarajevo ihr Hobby nicht nehmen lassen, erinnert Trainerikone Ivica Osim in einem Interview mit dem österreichischen Magazin Ballesterer: „Die kleinen Kinder konnten höchstens in einer sicheren Halle oder im Haus spielen. Aber wenn sie draußen spielten, passierte es oft, dass sie von oben beschossen wurden. Da gab es viele Tote. Das war das Grausamste, was man sich vorstellen kann. Kinder waren in der Schule und gingen hinaus zum Spielen, und dann wurden sie erschossen.“ Insgesamt wurden im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 rund 100.000 Menschen getötet, während der fast vierjährigen Belagerung in Sarajevo waren es mehr als 11.000.

Noch heute sind im Stadtviertel Grbavica die Spuren des Krieges präsent. Häuserwände mit Einschusslöchern, zersplitterte Fensterscheiben, bröckelnder Putz. Das Stadion des FK Željeznič ar ist hingegen runderneuert, der Klub war 1921 von Eisenbahnern gegründet worden. An der Westtribüne erinnert eine Tafel an die Kriegsopfer, gestiftet von der Ultragruppe Maniacs. Viele Fans verknüpfen ihre Identifikation mit aufwendigen Gedenkaktionen, erläutert der Politikwissenschaftler Alexander Mennicke in seiner Bachelorarbeit. Die Ultras besingen zu jedem Heimspiel ihr geschundenes Viertel und präsentieren in Choreografien mitunter kämpfende Soldaten. Sie versammeln sich an den Jahrestagen des Völkermordes von Srebrenica und organisieren Gedenkturniere für Dževad Begić Dž ilda. Der Fan-Anführer wollte 1992 eine angeschossene Frau retten, dabei wurde er von einem Scharfschützen getötet.

Von einer ethnisch durchmischten Gesellschaft könne in Bosnien und Herzegowina heute keine Rede mehr sein, kommentiert die Südosteuropa-Forscherin Marie-Janine Calic. Nach dem Dayton-Abkommen 1995 blieb der Staat in seinen Vorkriegsgrenzen erhalten, wurde aber in zwei Teilstaaten getrennt. Die von Muslimen und Kroaten regierte „Föderation Bosnien und Herzegowina“ erhielt 51 Prozent des Territoriums und damit eine symbolische Mehrheit. Der serbisch dominierten Republika Srpska wurden 49 Prozent zugesprochen. Während des Krieges waren in Bosnien und Herzegowina 2,2 Millionen Menschen geflohen oder vertrieben worden. So gibt es heute in den allermeisten Gemeinden Bevölkerungsmehrheiten von über neunzig Prozent. Bosniaken, Serben und Kroaten leben getrennt. In Sarajevo war 1991 die Hällte der Bevölkerung muslimisch, mittlerweile sind es mehr als 80 Prozent.

Die Mutter von Barbarez wird bedroht

Trotzdem möchte Dženan Đipa das Verbindende in der Gesellschaft betonen, nicht das Trennende. Im Fußballverband von Bosnien und Herzegowina ist Đipa für soziale Projekte verantwortlich, für Mädchenturniere, Gesundheitsvorsorge oder die Schulliga. Als Ort für das Interview hat er in Sarajevo ein Café am Rande des altosmanischen Basarviertels vorgeschlagen; in der Nähe befinden sich Moscheen, eine katholische Kathedrale, eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge. „Wir sind ein kleines Land“, sagt Đipa. „Wenn wir in Wirtschaft, Kultur oder Fußball erfolgreich sein wollen, dann müssen wir zusammenarbeiten.“ Was er dann aber über die Geschichte des bosnischen Fußballs erzählt, deutet eher darauf hin, dass es nicht viele Idealisten wie ihn gibt.

Die gesellschaftliche Spaltung nach dem Krieg übertrug sich auch auf den Spielbetrieb. Bosniaken, Serben und Kroaten trugen zunächst ihre eigenen Meisterschaften aus, Anfang des Jahrtausends kamen sie nach langen Verhandlungen in einer Proffliga zusammen. Der Aufbau einer Nationalmannschaft wurde von Diskussionen über ethnische Hintergründe überschattet. Sergej Barbarez etwa spielte erfolgreich in der Bundesliga, unter anderem für Borussia Dortmund und den Hamburger SV, doch aus seiner Heimat Bosnien und Herzegowina lehnte er Länderspieleinladungen zunächst ab. Der Grund: Seine kroatischstämmige Mutter wurde in seiner Geburtsstadt Mostar von Nationalisten bedroht. 2007 boykottierten 13 Spieler das bosnische Nationalteam, nach ihrer Einschätzung legte der Fußballverband mehr Wert auf die Nationalitäten der Spieler als auf ihre sportlichen Talente.

Als geografisches Zentrum des westlichen Balkans wurden Bosnien und Herzegowina über Generationen von Bosniaken, Kroaten und Serben beansprucht. Diese Konflikte mündeten in eines der wohl kompliziertesten politischen Systeme weltweit. Um allen Ansprüchen gerecht zu werden, ist das Land in 14 Teilgebiete gegliedert, mit 14 regionalen Regierungen und 14 Parlamenten. Dem obersten Staatspräsidium gehören ein bosniakischer, ein kroatischer und ein serbischer Vertreter an, alle acht Monate wechselt der Vorsitz. Die Kosten für diesen Apparat werden jährlich auf 6,5 Milliarden Euro geschätzt. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2017 aber gerade mal 16,5 Milliarden Euro, die Arbeitslosenquote lag bei 28 Prozent.

Nach Regeln der UEFA darf der bosnisch-herzegowinische Fußballverband nur einen Präsidenten haben. In seinem Vorstand sitzen Bosniaken, Kroaten und Serben mit jeweils fünf Vertretern. Ob es Spannungen gibt? Verbandsmitarbeiter Dženan Đipa möchte keine Interna preisgeben. Nur so viel: Das Nationalteam bestreitet Heimspiele in Zenica oder Sarajevo, in Städten mit muslimischer Mehrheit. Ein Auftritt in Banja Luka, der Hauptstadt der serbisch geprägten Republika Srpska, scheint vorerst unrealistisch zu sein. „Wir sollten uns mehr um die Jugend kümmern, die mit dem Krieg nichts zu tun hat“, sagt Dženan Đipa und zeigt auf seinem Handy Fotos von gelungenen Sportfesten. „Der Fußball kann den Zusammenhalt fördern, Religion spielt auf dem Rasen keine Rolle.“ Đipa reist mit seinen Projekten quer durchs Land. Es sind weniger die Kinder, auf die er behutsam einreden muss, sondern eher deren Eltern. Dabei kann die Stimmung zwischen den Städten sehr unterschiedlich sein.

Manchmal verläuft die Konfliktlinie auch quer durch eine Stadt, zum Beispiel in Mostar in der Herzegowina, einer Region im Südwesten des Landes, nicht weit von der Grenze zu Kroatien entfernt. Mostar veranschaulicht die Komplexität des Bosnienkrieges: Zunächst kämpften dort Muslime und Kroaten gemeinsam gegen Serben. Bald wünschten sich kroatische Nationalisten den Anschluss der Herzegowina an ihren „kroatischen Mutterstaat“. Kroaten wandten sich gegen ihre Verbündeten. In stundenlangem Beschuss zerstörten sie auch das Wahrzeichen von Mostar, die Stari Most, eine Bogenbrücke aus dem 16. Jahrhundert. Nach dem Krieg verfestigte sich die ethnische Trennung der Stadt: In der westlichen Hälfte leben fast ausschließlich katholische Kroaten, in der östlichen muslimische Bosniaken.

Das Wahrzeichen, die Stari Most, wurde erneuert und 2004 wiedereröffnet, seitdem wachsen die Tourismuszahlen stetig. „Für unsere Gäste ist die Segregation in der Stadt nicht wirklich sichtbar, es gibt keine Mauern, alle können sich frei bewegen“, sagt Esmer Meškić, aufgewachsen im östlichen Teil. Während des Krieges gehörte sein Vater einer bosniakischen Einheit an. Mit seiner Mutter und seinen Großeltern wurde er als Kleinkind für einige Wochen in einem kroatischen Lager interniert. Nach dem Krieg ging er in eine Klasse mit ausschließlich muslimischen Schülern. Mit 16 schloss er sich den Ultras von Velež Mostar an. Der 1922 gegründete Arbeiterklub, benannt nach einem Hügel, war über Jahrzehnte ein Sinnbild der multiethnischen Stadtgesellschaft gewesen und wurde vom jugoslawischen Präsidenten Tito gewürdigt, noch heute gehört der Rote Stern zum Vereinswappen. „Vor dem Krieg lebten die Fans von Velež im gesamten Stadtgebiet, das ist jetzt nicht mehr so“, erzählt Esmer Meškić. „Als junger Ultra habe ich genau überlegt, wann ich in die westliche Stadthälfte gehe. Einige Straßen und Bars habe ich gemieden.“ Es werde langsam besser, fügt er hinzu, aber von einem entspannten Zusammenleben könne noch keine Rede sein.

Fast zwanzig Jahre hatte Velež Mostar seine Heimspiele auf der Westseite im Stadion Bijeli Brijeg ausgetragen, übersetzt Weißer Hügel. Doch mit der Auflösung Jugoslawiens verlor Velež seine Heimstätte 1992 an HŠK Zrinjski Mostar. Der Klub mit kroatischen Wurzeln war 1905 gegründet und 1945 von den Kommunisten verboten worden, wegen seiner nationalen Symbolik und seinen Verbindungen zur faschistischen Ustascha. Nach der Neugründung gewann Zrinjski sechsmal die Meisterschaft in Bosnien und Herzegowina. Viele Ultras würden ihren Verein jedoch lieber in einer vergrößerten kroatischen Liga anfeuern. Die Straßen rund um Bijeli Brijeg im Westteil Mostars sind mit ihren Graffitis markiert, darunter martialische Motive, Hakenkreuze und Symbole der Ustascha. „Fans von Zrinjski haben die Zerstörung unserer historischen Brücke gefeiert“, sagt Esmer Meškić. „Für uns ist das eine große Provokation.“

Klub der Katholiken

Doch die Feindseligkeiten können noch schlimmere Folgen haben, wie Alexander Mennicke in seiner Bachelorarbeit über nationale Identität im bosnischen Fußball herausgearbeitet hat. Der Politikwissenschaftler rückt darin die Kleinstadt Široki Brijeg in den Fokus, zwanzig Kilometer westlich von Mostar gelegen und fast ausschließlich von Kroaten bewohnt. „Man fühlt sich der kroatischen Nation zugehörig und propagiert die kroatische Republik auf bosnischem Boden – Herceg-Bosna, ein Begriff, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder auftauchte“, schreibt Mennicke und meint damit auch den lokalen Fußball-Erstligisten NK Široki Brijeg. „Das Besondere ist, dass es nur Katholiken erlaubt ist, im Verein Fußball zu spielen.“ In einer Choreografie erinnerten die Ultras aus Široki Brijeg an die „Operation Sturm“, in der kroatische Einheiten 1995 serbische Truppen vertrieben hatten. In einer anderen präsentierten sie dem Europapokalgegner Beşiktaş Istanbul einen Kreuzritter mit dem Schriftzug: „Bollwerk der Christenheit.“

Häufig eskalierte die Lage, wenn Široki Brijeg auf Klubs mit überwiegend muslimischen Anhängern traf, so auch am 4. Oktober 2009 beim Heimspiel gegen den FK Sarajevo. Ultras warfen Steine und prügelten sich. Im Chaos ergriff ein Kroate mutmaßlich die Waffe eines Polizisten und erschoss Vedran Puljić , einen Fan des FK Sarajevo. Der Täter wurde festgenommen, konnte aber Stunden später fliehen und sich nach Zagreb absetzen, wo er keine Auslieferung zu fürchten hat. „Die verwundeten Fans aus Sarajevo sind zu uns nach Mostar gekommen“, sagt Esmer Meškić, Anhänger von Velež Mostar. „Wir haben ihnen Schlafplätze und Essen angeboten, das hat unsere Verbindungen gestärkt.“ Bis heute ist der Tod von Vedran Puljić nicht genau aufgeklärt.

Esmer Meškić schildert seine Erinnerungen in Mostar in einem Café nahe der erneuerten Bogenbrücke, als Tourismusmanager führt er oft Gruppen durch die Gassen der Altstadt. Er schaut hinüber zum „Museum of War and Genocide“, einem Erinnerungsort mit erschütternden Bildern und Videos über den Völkermord in Srebrenica. „Jedes Land auf dem Balkan hat eine eigene Geschichtsschreibung“, so Meskić. „Wir müssen unseren Kindern aber die objektive Wahrheit nahebringen. Und die findet man beim Internationalen Strafgerichtshof.“ Viele seiner Freunde und Bekannten sind für bessere Jobs nach Westeuropa gezogen, er aber will bleiben. „Ich kann nicht jeden Kroaten hassen. Verbrechen werden von Individuen begangen, nicht von ganzen Bevölkerungen.“

Kosovarische Spieler im Untergrund

Auf der Recherchereise durch den westlichen Balkan stechen immer wieder Optimisten heraus, Entscheidungsträger mit konstruktiven, fortschrittlichen Ideen, so ist es auch in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo. „Wir wünschen uns Normalität ohne Hass. Wir möchten nach vorn schauen“, sagt Eroll Salihu, seit 2006 Generalsekretär des kosovarischen Fußballverbandes. „Aber es wird uns sehr schwer gemacht.“

Der Kosovo hatte im sozialistischen Jugoslawien eine Sonderrolle gespielt: mit einer Bevölkerungsmehrheit ethnischer Albaner und einer serbischen Minderheit. Diktator Tito verweigerte dem Kosovo den Status einer Teilrepublik, gewährte aber 1974 mehr Autonomie. Die mehrheitlich muslimischen Kosovo-Albaner blieben in Führungspositionen unterrepräsentiert. Gemischte Ehen zwischen albanischen und serbischen Kosovaren gab es kaum. In den 1970er Jahren erreichte das Pro-Kopf-Einkommen im Kosovo nur 38 Prozent des jugoslawischen Durchschnitts. In Bildung, Medizin und Industrie bestand ein Gefälle zu Teilrepubliken wie Slowenien, Kroatien und Serbien. Viele Kosovaren fühlten sich kulturell ohnehin mit dem westlichen Nachbarstaat Albanien verbunden.

„Wir wollten keine Bürger zweiter Klasse sein. Im Fußball konnten wir zeigen, wer wir sind“, sagt Eroll Salihu. In der Geschäftsstelle des Fußballverbandes führt ein enger Gang zum Büro von Salihu, an den Wänden hängen historische Bilder, auch ein Teamfoto des FC Pristina. Salihu war ein talentierter Jugendspieler, als die Unterdrückung der Kosovo-Albaner Anfang der 1980er Jahre nach dem Tod Titos zunahm. Die serbisch dominierte Polizei ging streng gegen Kosovaren vor, in der jugoslawischen Armee fielen ethnische Albaner einer Mordserie zum Opfer. Allmählich wuchs bei Kosovaren Proteststimmung. Bei einem Spiel des FC Pristina 1983 in Belgrad skandierten Gästefans „E-Ho! E-Ho!”, eine Respektsbekundung für Enver Hoxha, den Diktator Albaniens. Die Polizei schritt im Stadion ein, die jugoslawische Führung forderte eine offizielle Entschuldigung.

Eroll Salihu gerät ins Schwärmen, wenn er an die Heimspiele des FC Pristina denkt, zwischen 1982 und 1988 in der ersten jugoslawischen Liga, häufig vor mehr als 30.000 Zuschauern. „Durch Siege gegen die Belgrader Vereine haben wir unsere Sorgen für eine Weile vergessen“, sagt Salihu. Das jugoslawische Parlament nahm die Autonomie des Kosovo 1990 zurück, der serbische Präsident Slobodan Milošević ließ Albaner aus staatlichen Ämtern drängen. Ihr Schulwesen wurde stark eingeschränkt, viele ihrer Parteien und Vereine wurden verboten.

Zahlreiche Albaner bauten im Untergrund Strukturen in Bildung und Gesundheitsversorgung auf. Eroll Salihu war damals Mitte zwanzig und auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Leistungsfähigkeit. Als einer der ersten Spieler forderte er die Abspaltung der kosovarischen Klubs vom jugoslawischen Spielbetrieb. In der neuen kosovarischen Liga schoss Salihu am 13. September 1991 das erste Tor, 300 Zuschauer verfolgten das 2:3 Pristinas gegen Flamurtari. Doch Eigenständigkeit wurde von der serbischen Polizei streng beäugt, immer wieder erhielt Salihu Drohungen und wurde verhört. In seinem Buch „Kosovo Football: From Slavery to Freedom“ beschreibt der Sportjournalist Xhavit Kajtazi die Parallelstrukturen im kosovarischen Fußball in den 1990er Jahren, darunter geheim organisierte Turniere mit geschmuggelten Bällen aus dem Ausland. Ein Foto im Buch zeigt Spieler, die sich in einem Fluss waschen müssen.

Bald darauf trat die UÇK, die „Befreiungsarmee des Kosovo“, mit Anschlägen gegen serbische Ziele in Erscheinung. Hunderttausende Kosovaren verließen ihre Heimat. Eroll Salihu zog nach Deutschland, spielte für den Regionalligisten Wilhelmshaven und erlangte seinen Trainerschein. In den Nachrichten musste er verfolgen, wie die Spannungen 1998 in den Kosovokrieg mündeten, zwischen der serbisch dominierten jugoslawischen Armee und der UÇK. Der erste Nato-Kampfeinsatz überhaupt führte im Juni 1999 zum Rückzug der jugoslawischen Truppen. Mehr als 13.000 Menschen starben.

Innerhalb weniger Wochen nach dem Krieg kehrten achtzig Prozent der kosovarischen Flüchtlinge zurück in ihre Heimat. Auch Eroll Salihu, dessen Haus in Pristina zerstört worden war, wollte beim Wiederaufbau helfen. „Am Anfang war es sehr schwer, Strukturen im Fußball aufzubauen“, sagt er. „Wir waren international isoliert.“ Der kosovarischen Liga fehlten Sponsoren und Zuschauer. Das bereits 1993 gegründete Nationalteam fand selten Gegner für Testspiele. Und das sollte sich auch nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 so bald nicht ändern. Bis heute erkennen 114 der 193 UN-Mitgliedsstaaten die Republik Kosovo an – für die serbische Regierung bleibt sie allerdings eine abtrünnige Provinz des eigenen Territoriums.

Mit einer Handvoll Mitarbeitern warb Eroll Salihu bei FIFA und UEFA für die Anerkennung des kosovarischen Fußballverbandes. Mit Unterstützung von westeuropäischen Nationalverbänden wie dem DFB ließ er Trainer und Schiedsrichter schulen. Ab 2014 gestattete die FIFA der kosovarischen Nationalmannschaft offizielle Freundschaftsspiele, jedoch ohne Landesflagge und Hymne. Die Premiere feierte das Team mit einem Heimspiel gegen Haiti in Mitrovica, im Norden des Landes. Viele Serben empfanden das als Provokation, denn die Stadt ist geteilt: Nördlich des Ibar-Flusses leben fast ausschließlich Serben. Das Stadion in Mitrovica war das landesweit einzige, das einen Minimalstandard erfüllte, benannt übrigens nach Adem Jashari, einem Mitgründer der UÇK. Für das Spiel wurde in der albanisch geprägten Südhälfte Mitrovicas der Unterricht ausgesetzt. Einige Fans verbrannten eine serbische Flagge. Noch heute sind in Mitrovica Nato-Soldaten stationiert, um Zusammenstöße der Volksgruppen zu verhindern.

Kosovo ist seit 2008 unabhängig, aber noch immer nicht Mitglied der Vereinten Nationen. Für eine Verankerung in der internationalen Gemeinschaft bemüht sich die Regierung um die Aufnahme in globale Organisationen. Kosovo ist Mitglied im Internationalen Währungsfonds, in der Weltbankgruppe oder in der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, nicht aber im Kulturverbund Unesco oder im polizeilichen Netzwerk Interpol. Als Durchbruch feierten die Kosovaren 2014 ihre Aufnahme in das Internationale Olympische Komitee IOC. Ihr Jubel war groß, als die Judoka Majlinda Kelmendi 2016 in Rio die erste Goldmedaille für den jungen Staat gewann. Noch größer war die Begeisterung im Mai 2016: Ihr Fußballverband trat als 55. Mitglied der UEFA und als 210. Mitglied der FIFA bei. Stolz zeigt Eroll Salihu in seinem Büro die gerahmten Aufnahmeurkunden, seine Briefwechsel mit den Verbänden füllen ganze Ordner: „Es gab kein Argument, uns so lange draußen zu halten. Aber jetzt wollen wir aus unserer Chance das Beste machen.“ Kerzengerade sitzt er auf seinem Stuhl.

Lange waren Salihu und seine Kollegen für den Aufbau ihres Nationalteams in europäischen Ligen unterwegs. Sie sprachen bei Spielern vor, deren Eltern den Kosovo während des Krieges verlassen hatten. Salihu erinnert an ein Länderspiel zwischen der Schweiz und Albanien 2012, neun der 22 Spieler hatten kosovarische Wurzeln, auf Schweizer Seite etwa Xherdan Shaqiri, inzwischen beim FC Liverpool unter Vertrag, und Granit Xhaka, FC Arsenal. Salihu wollte verhindern, dass sich weitere Spieler für die Auswahlteams ihrer zweiten Staatsbürgerschaft entscheiden. So wuchs der kosovarische Kreis potenzieller Nationalspieler auf 180 Profis an. Und die kosovarische Nationalmannschaft erarbeitete sich schnell einen guten Ruf: In der neuen Nations League der UEFA gewann sie ihre Gruppe in der Liga D ungeschlagen. Auch in der Qualifikation für die EM 2020 begeisterte sie gegen Bulgarien, Tschechien oder England. Auf den langen Auswärtsreisen waren manchmal mehr als 1500 Kosovaren dabei, trotz der hohen Hürden für ein Visum innerhalb Europas.

Fast zwei Jahre hatte die kosovarische Mannschaft Heimspiele in Shkodra bestreiten müssen, im Norden Albaniens. 2018 wurde in Pristina die Sanierung der neuen Heimstätte abgeschlossen, wenige Gehminuten von der Fußgängerzone entfernt. Ein funktionales Stadion, umgeben von einem wuchtigen Theaterbau und hippen Bars. Der kosovarische Fußballverband erhält pro Spiel mitunter 100.000 Ticketanfragen, vergeben kann er weniger als 14.000. Namensgeber des Stadions ist Fadil Vokrri, der langjährige Präsident des Fußballverbandes starb 2018. Vokrri hatte als einziger ethnischer Albaner für das jugoslawische Nationalteam gespielt. „Wir hatten viele gute Spieler“, sagt Eroll Salihu. „Aber auf der großen jugoslawischen Bühne hatten wir keine Chance. Eine klare Diskriminierung.“ Fadil Vokrri gehört durch seine frühere Zeit bei Partizan Belgrad zu den wenigen Kosovaren, die in Serbien hoch anerkannt sind.

Feindliche Drohne über dem Rasen

„Der Fußball schafft im Kosovo das, was die Politik nicht schafft: er gibt der Jugend ein bisschen Hoffnung“, sagt der Journalist Eraldin Fazliu von Birn. Das Balkan Investigative Reporting Network mit seinen 400 Mitarbeitern gehört zu den wenigen unabhängigen und kritischen Mediennetzwerken auf dem westlichen Balkan. Eraldin Fazliu erzählt, dass der sportliche Aufschwung der kosovarischen Auswahl viele Landsleute in ein Identitätsdilemma gestürzt habe. Er selbst war als Jugendlicher mit seiner Familie vor dem Krieg nach Dänemark geflohen. Fazliu liebte Fußball, doch mit dem jugoslawischen Nationalteam konnte er wenig anfangen: „In meiner Jugend hatte Kosovo keine Flagge und keine Hymne. Das Land war in einem traurigen Zustand. Aber wir sehnten uns nach Zugehörigkeit. Also unterstützten viele Freunde und ich das albanische Nationalteam. Die Zeit können wir heute nicht einfach wegwischen.“

Neunzig Prozent der Kosovaren sind ethnische Albaner. Für viele von ihnen zählt nur eine Nation, die albanische. Nach ihrem Verständnis dehnt sich diese Nation auch auf jene Staaten aus, in denen albanische Minderheiten leben: in Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Griechenland. Viele Ultras der kosovarischen Klubs hielten lange zum albanischen Nationalteam, doch mit dem Erfolg der kosovarischen Auswahl ist die Zahl albanischer Flaggen in ihren Fankurven zurückgegangen. Es gibt aber auch Ärger: Spieler wie Milot Rashica, Herolind Shala oder Alban Meha hatten bereits einige Spiele für Albanien bestritten, ehe sie zum neu geschaffenen Nationalteam des Kosovo wechselten. In albanischen Medien wurden sie auch als Verräter bezeichnet.

Lange interessierte man sich in Westeuropa wenig für albanisches Identitätsdenken, das änderte sich am 14. Oktober 2014 in der Qualifikation für die EM 2016 zwischen Serbien und Albanien. Vor dem Spiel warfen serbische Zuschauer Steine auf den Bus der albanischen Mannschaft, Proteste und Pfiffe übertönten ihre Nationalhymne. „Tötet die Albaner“, riefen serbische Fans, als in der 42. Minute eine Drohne mit einer Flagge über den Rasen flog. Darauf zu sehen: der Umriss von „Großalbanien“, wie es sich Nationalisten wünschen. Daneben die Abbilder der einstigen Führer Ismail Qemali und Isa Boletini, die 1912 die Unabhängigkeit Albaniens vom Osmanischen Reich durchgesetzt hatten. Auf dem Spielfeld griff sich der serbische Verteidiger Stefan Mitrović die Flagge, albanische Spieler stürmten auf ihn zu. Es kam zu Handgreiflichkeiten auf und neben dem Rasen, die Partie wurde abgebrochen.

Die Spannungen in den Tagen danach dokumentiert Wikipedia in einem gesonderten Beitrag: Ein geplanter Besuch des albanischen Premierministers Edi Rama in Belgrad wurde verschoben. Wohl auch, weil dessen Bruder Olsi Rama zunächst für die Drohne verantwortlich gemacht wurde, was dieser bestritt. In der kosovarischen Hauptstadt Pristina feierten Hunderte Fans das Spiel mit Autokorso und Feuerwerk. In den Grenzgebieten zwischen Serbien und Kosovo wurden Flaggen beider Länder angezündet. Sogar in der Diaspora, etwa in Wien, gingen Männer mit serbischen und albanischen Wurzeln aufeinander los.

Viele Serben akzeptieren den Kosovo nicht als unabhängigen Staat, sondern nur als historisches Kernland ihrer Kultur und Traditionen. Als Begründung verweisen sie auf die Schlacht vom Amselfeld 1389. In der Nähe des heutigen Pristina hatte das serbische Heer vergeblich gegen das Osmanische Reich gekämpft. Fans aus Belgrad thematisieren die Schlacht häufig in ihren Bannern und Parolen, schreibt der britische Korrespondent Jack Robinson im Onlineportal „Prishtina Insight“. Auch während der Gewaltausbrüche 2008 nach der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung: Hooligans griffen sogar die US-Botschaft in Belgrad an. Mehr als sechs Jahrhunderte nach der Schlacht vom Amselfeld sind etwa zehn Prozent der Kosovaren ethnische Serben, meist leben sie in Dörfern unter sich, zum Beispiel nahe Pristina in der Gemeinde Gračanica, dem Standort eines bedeutenden serbisch-orthodoxen Klosters.

Gegenüber dem Kloster befindet sich an einem Kreisverkehr eine Statue, die Miloš Obilić zeigt. Der serbische Ritter soll auf dem Amselfeld den osmanischen Sultan Murad I. getötet haben. 2015 posierten Fans von Roter Stern Belgrad neben der Statue. Wie zuvor Hunderte Male in ihrem Stadion feierten sie sich als Verteidiger des christlichen Europas gegen „islamische Eindringlinge“. Mehrfach bestritt Roter Stern Belgrad Wohltätigkeitsspiele in Gračanica. Auf kosovarischem Staatsgebiet hissten Fans die serbische Flagge und sangen die serbische Hymne, schreibt der britische Reporter Jack Robinson. Einige machten auf ihrem Heimweg einen Stopp in Pristina. Sie schwenkten Flaggen mit dem Umriss von „Großserbien“, trugen T-Shirts mit der Jahreszahl 1389 und skandierten: „Kosovo ist Serbien“.

„Irgendwann war die rote Linie überschritten, das konnten wir nicht mehr erlauben“, sagt Eroll Salihu, Generalsekretär des kosovorischen Fußballverbandes. 2018 und 2019 untersagte sein Verband Gastspiele von Roter Stern Belgrad in serbischen Enklaven des Kosovo. Salihu: „Wir möchten serbische Spielerinnen und Spieler in unsere Ligen aufnehmen, aber sie erhalten großen Druck.“ Serbische Arbeitgeber in Gračanica sollen Fußballerinnen mit der Kündigung gedroht haben, sollten diese gegen Albanerinnen antreten. Damit folgen sie einem Kurs aus Belgrad: Nationalisten und Hooligans drohten serbischen Kosovaren mit Gewalt, wenn diese bei Wahlen nicht für die Serbische Liste stimmen, die wichtigste serbische Partei im Kosovo. Viele Serben beklagen aber auch Anfeindungen und Drohungen von Albanern. In einigen Fankurven wird noch heute die Befreiungsarmee UÇK besungen.

Es sind nicht die einzigen Probleme der 1,8 Millionen Kosovaren, über die Hälfte von ihnen ist jünger als 25. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über fünfzig Prozent, im Korruptionsindex von Transparency International belegt Kosovo Platz 85. Seit dem Krieg investierte die Staatengemeinschaft mehr als vier Milliarden Euro, dennoch stehen Industrie, Gesundheitswesen und Steuerverwaltung erst am Anfang. Die Abwanderung bleibt hoch, und so hängt das Land von den Zahlungen der 800.000 Kosovaren im Ausland ab, rund 400.000 leben in Deutschland.

So wie Remzi Ejupi. Der Reiseveranstalter hat seinen Lebensmittelpunkt seit mehr als zwanzig Jahren in Hessen, reist aber regelmäßig in seine alte Heimat. Ejupi ist seit 2004 Präsident des FC Pristina; nach einem Heimspiel des Klubs im Fadil-Vokrri-Stadion zieht er mit Freunden weiter in ein Restaurant, darunter sind Anwälte und Unternehmer. „Wir möchten für die Jugendlichen etwas aufbauen, so wachsen Vorbilder für die nächste Generation heran“, sagt Ejupi. „Doch wir brauchen mehr Investitionen in die Infrastruktur.“ Allmählich wachsen die Mitarbeiterzahlen des FC Pristina und des kosovarischen Fußballverbandes. Am Stadtrand soll ein größeres Stadion entstehen, zudem neue Trainingsplätze. Ejupi findet, dass der Fußball den Aufbruch des Landes symbolisieren solle. Der Fußballverband wird dabei von einem deutschen Sportdirektor unterstützt. „Nicht jeder Nachwuchsfußballer im Kosovo kann Profi werden“, sagt Michael Nees, seit 2017 im Amt. „Aber wir brauchen auch Trainer, Schiedsrichter, Funktionäre und Sportlehrer. Wir brauchen eine Basis.“

Doch mit dem Aufbruch entstehen neue Ansprüche. Bei jedem Heimspiel treffen sich führende Politiker auf den Tribünen. Einige veröffentlichen Fotos mit Nationalspielern in sozialen Medien. „Diese Instrumentalisierung des Sports ist traurig“, sagt der Journalist Eraldin Fazliu. „Unsere besten Spieler sind nach dem Krieg im Ausland aufgewachsen. Wir sollten Strukturen schaffen, damit auch bei uns im Land solche Talente heranwachen können.“

Fazliu freut sich darüber, dass der Fußball junge Menschen in seinem Land verbindet. Aber er weiß auch, dass Sport bestehende Gräben vertiefen kann. Die Ukraine beispielsweise erkennt den Kosovo nicht an. 2016 verzichtete sie in der Qualifikation für die WM 2018 gegen den Kosovo auf ihr Heimrecht, stattdessen trafen beide Teams im polnischen Krakau aufeinander. Im Juni 2019 wurde Ljubiša Tumbaković als Nationaltrainer Montenegros entlassen. Der in Belgrad geborene Coach hatte sich geweigert, gegen den Kosovo an der Seitenlinie zu stehen. Kurz darauf wurde er von Serbien als Nationaltrainer verpflichtet. Im September 2019 nahm die kosovarische Polizei acht tschechische Fans vorübergehend fest, sie wollten beim Spiel zwischen Kosovo und Tschechien in Pristina offenbar eine Drohne steigen lassen, dazu der Schriftzug: „Kosovo ist Serbien“.

„Fußball ist das beste Marketing der Welt“

Nach einer dreiwöchigen Rundreise auf dem westlichen Balkan, nach 25 Interviews und der Lektüre von Büchern, Studien und Artikeln sind zwar viele Fragen beantwortet, aber es bleiben etliche Punkte offen. Wie und wann wird es möglich sein, dass sich die Volksgruppen versöhnen? In dieser ethnisch und konfessionell komplexen Region, die mit 17 Millionen Menschen etwa so viele Einwohner zählt wie Nordrhein-Westfalen? Wie soll man über die Kriegsverbrechen sprechen, die weniger als dreißig Jahre zurückliegen?

Vielleicht hat Robert Prosinečki eine Antwort. Der Sohn eines kroatischen Vaters und einer serbischen Mutter hat als einziger Spieler für zwei Länder WM-Tore geschossen, 1990 für Jugoslawien und 1998 für Kroatien. Er gewann mit Roter Stern Belgrad 1991 den Europapokal der Landesmeister, 2010 kehrte er als Trainer zurück. „Im Krieg sind Dinge passiert, die wir nie vergessen werden“, sagt Prosinečki. „Aber das darf nicht unser Leben beherrschen.“ Er hat während des Krieges bei Real Madrid gespielt, täglich rief er bei seiner Familie und seinen Freunden in Zagreb an.

Robert Prosinečki hat als Trainer in der Türkei und in Aserbaidschan gearbeitet, seit 2018 betreut er das Nationalteam von Bosnien und Herzegowina. Er sitzt auf der Terrasse des Trainingszentrums in Zenica, einer Industriestadt nördlich von Sarajevo, und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Man merkt schnell, dass Prosinečki nicht wirklich über Politik sprechen möchte. „Ich hatte nie Probleme wegen meiner Herkunft. Und mir ist scheißegal, woher die Leute kommen. Wir arbeiten als Team für gute Resultate, denn Fußball ist das beste Marketing der Welt.“

Vielleicht würde eine solche Haltung etwas Gelassenheit in den Alltag bringen, doch auch Robert Prosinečki muss sich als Trainer von Bosnien und Herzegowina mit Politik beschäftigen. Einer seiner Nationalspieler geriet in die Kritik: Ognjen Vranješ, geboren in Banja Luka, ließ sich 2015 den Grenzverlauf der Republika Srpska auf den Oberarm tätowieren. Viele bosniakische Fans forderten seinen Rauswurf. Und ihre Rufe wurden stärker, als sich Vranješ 2018 ein Tattoo von Momčilo Đujić zulegte. Der serbische Priester hatte im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert und wurde als Kriegsverbrecher verurteilt.

Robert Prosinečki möchte lieber über Themen sprechen, die Hoffnung verbreiten: 2014 bestritt die Nationalmannschaft von Bosnien und Herzegowina ihre bislang einzige WM in Brasilien. Gleich im ersten Spiel verlangte sie Argentinien einiges ab, unterlag aber 1:2. Auch in Serbien und Kroatien haben Menschen für diese Leistung Respekt gezollt. „Da geht noch viel mehr“, sagt Robert Prosinečki. „Wir sprechen doch alle die gleiche Sprache.“ Vielleicht gibt es sie irgendwann wieder: die Solidarität unter Nachbarn. Vielleicht sogar mit dem einen oder anderen Freundschaftsspiel.

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