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Prolog

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Sechs Jahre zuvor

»Dein erster Sieg! Ich kann es immer noch nicht fassen, Tommy!«, grölte ich, während Nirvana aus den Boxen meines alten Buick dröhnte. Ich löste eine Hand vom Lenkrad und verwuschelte damit Tommys viel zu lange, dunkelblonde Haare. Damit und mit den braunen Augen kam der kleinste meiner zwei jüngeren Brüder direkt nach unserer Mutter. Wohingegen Kane und ich mit unseren schwarzen Haaren und den wasserblauen Augen ein Abbild unseres Vaters waren. Wir machten regelmäßig Witze, dass Tommy vom Postboten stammen musste, denn er war nicht nur äußerlich komplett anders als wir.

»Hör auf damit.« Er lachte und zog ruckartig seinen Kopf weg.

»Ach komm schon, Kleiner! Gib mir lieber zur Feier des Tages noch mal die Flasche.« Ich wackelte vor seiner Nase mit den Fingern, und er reichte mir den Jack Daniel’s. Während die scharfe Flüssigkeit meine Kehle hinunterlief, versuchte ich, die Straße im Auge zu behalten. Auch wenn ich ab und zu die Lider kurz zusammenkneifen musste, damit sich der Schleier ein wenig lichtete, konnte ich mit diesem Zustand zwischen nüchtern und angetrunken ganz gut umgehen. Denn hey, wir hatten heute etwas zu feiern! Mein kleiner Bruder wurde endlich erwachsen! Darauf hatten wir lange genug gewartet.

»Wie geht es deiner Nase?«, gluckste ich, übergab ihm wieder die Flasche und kramte in der Mittelkonsole nach den Zigaretten.

»Wird schon.«

Tief inhalierte ich den Rauch, nachdem ich die Kippe angezündet hatte, und legte den linken Arm auf dem Fensterrahmen ab. Kühle Nachtluft strömte zu uns herein. Ich mochte den Übergang vom Frühling zum Sommer, wenn die Nächte heißer und die Röcke der Frauen immer kürzer wurden. Die Musik wechselte zu Kaleo, und ich zog nachdenklich an der Zigarette. Ich konnte mich noch genau an meinen ersten richtigen Boxkampf und somit auch an meinen ersten Sieg erinnern. Es war fantastisch und völlig unwirklich gewesen. Der Rausch, der einen während eines Kampfes befiel, nahm vom gesamten Körper Besitz und ließ einen oft stundenlang nicht wieder los. Ich liebte den Scheiß, und alles, was dazugehörte, einfach.

»Und, wie war das Gefühl?«

Tommy zögerte, und ich sah kurz zu ihm rüber, bevor ich den Blick wieder auf die Straße heftete.

»Was ist los?«, fragte ich und blies den Rauch aus dem Fenster. Tommy drehte das Radio leiser, und ich spürte seine Unsicherheit.

»Kann ich dir etwas anvertrauen?«, fragte er, und ich schluckte.

»Tommy, du bist mein kleiner Bruder. Natürlich kannst du das.«

Er nahm noch einen großen Schluck Whiskey. »Das Gefühl war okay, aber nicht so, wie ich gedacht hatte. Ich meine … Kane, Dad und du, ihr seid ehrgeiziger.« Er zögerte.

Ich schnippte die Kippe nach draußen und griff erneut zur Flasche. Mein Kopf dröhnte bereits ein wenig, doch ich ignorierte es, denn die Nacht war noch lang. Morgen würden mir zwei Aspirin und eine Laufrunde schon aus meinem Kater helfen. Doch Tommys Zögern bereitete mir sehr viel mehr Kopfzerbrechen.

»Was meinst du damit?«

»Na ja, ihr seid für dieses ganze Boxen und Kämpfen irgendwie gemacht. Ich seh das an euren Blicken, wenn ihr im Ring steht. Aber mir heute die Nase brechen zu lassen, nur damit Dad mich mit so viel Achtung ansieht wie euch …«

»Wovon redest du? Dad ist auf dich genauso stolz wie auf uns!«

Tommy schnaubte, und ich wusste selbst, dass mein Satz eine glatte Lüge war. Dad war enttäuscht von seiner sensiblen Art. Das war er immer schon gewesen. Kane und ich hatten unser Bestes gegeben, unseren kleinen Bruder nicht genauso abwertend zu behandeln, wie unser Vater es tat.

»Ich weiß einfach nicht, ob ich so leben möchte, nur damit Dad mich auch mal sieht. Egal was du jetzt sagst und wie du mich aufziehst … eigentlich würde ich lieber Kunst studieren.«

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange. Kunst. Damit steuerte er eine komplett entgegengesetzte Richtung an als der restliche männliche Teil unserer Familie. Wir waren allesamt Draufgänger und dachten nicht mal im Traum daran, zu studieren. Wir hatten mit Ach und Krach die Highschool überstanden. Nicht weil wir dumm waren, sondern weil seit unserem ersten Schritt feststand, was wir wollten: kämpfen. Nach dieser Aussage gab es kein Fragezeichen.

Ich sah Tommy an, und er wirkte innerlich zerrissen. Ich konnte nicht genau nachvollziehen, wie er sich fühlte, aber ich hatte kein Problem damit, wenn er etwas anderes wollte als wir. Irgendwie war ich sogar froh darüber, dass seine Nachdenklichkeit der letzten Zeit von diesem Thema herrührte. Kane und ich dachten schon, er wäre schwul.

»Es ist dein Leben. Dad muss das akzeptieren. Und Kane und ich necken dich doch nur, wir …«

»Shawn! Pass auf!« Mein Kopf ruckte nach vorne. Aber Tommys Schrei kam zu spät.

Die Zeit schien stillzustehen. Lose Teile wirbelten in dem Innenraum durch die Luft, bis sie mit einem lautstarken Krachen aufkamen. Genauso wie mein Buick, der auf der rechten Seite zum Liegen kam. Stechender Schmerz durchbohrte meinen Oberkörper. Tommy!

Verschwommen sah ich Scheinwerfer, die uns grell anstrahlten. Was war passiert? Waren wir in jemanden reingefahren oder er in uns? Meine Ohren pfiffen, und mein Kopf brachte mich fast um, als ich mühsam in Richtung meines kleinen Bruders blickte. Tommy!

Langsam führte ich meine Hand zu ihm und legte sie auf seine Brust. Sein Körper hing leblos im Sicherheitsgurt.

»Tommy«, keuchte ich und verengte die Augen zu Schlitzen. Dieser verfluchte Schleier! Schmerz schoss in meine Rippen, stärker als jeder noch so harte Schlag, den ich jemals erhalten hatte.

»Tommy«, röchelte ich etwas lauter. Blut. Überall Blut! Es klebte in seinen langen Haaren, an seinen Wangen, quoll aus seinem Mund und seiner Nase! Panik breitete sich in mir aus! Meine Atmung wurde immer schneller! Meine Brust schnürte sich zu, und die Wände des Wagens kamen immer näher! »Tommy!«, schrie ich nun und presste die Handfläche dichter auf seinen Oberkörper. Auf die Stelle, an der eigentlich sein Herz schlagen sollte.

Kein Atemzug war zu spüren. Stille. Ohrenbetäubende, alles verschlingende Stille umhüllte mich. Eine eisige Kälte kroch in meine Glieder. Alles wurde schwarz. Tommy …

Rage

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