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Kapitel 2

Sommer 1992

Mit 23 Jahren war ich mit dem Pfarrer von meiner Heimatgemeinde, der Verbindungen zur Romero-Gruppe in Salzburg hatte, für fünf Wochen nach El Salvador gereist, um an einem Friedensprojekt teilzunehmen. Damals kam ich erstmals mit dem Tod näher in Berührung.

Wir hatten uns in zwei Gruppen zu je zehn Personen aufgeteilt und arbeiteten abwechselnd zwei Wochen an einem Schulbau, den wir mitfinanziert hatten bzw. besuchten wir verschiedene Einrichtungen etc.

Ich war in der Gruppe, die die ersten beiden Wochen im Land unterwegs war und wir reisten viel auf unwegsamsten Pisten mit tiefen Löchern in der Schotterstraße.

Über El Salvador muss man wissen, dass zuvor elf Jahre Bürgerkrieg herrschte. Im Jänner wurde der Friedensvertrag unterschrieben und wir waren im Sommer die erste ausländische Delegation im Land. Dementsprechend hatte man uns auch im Fokus und wir merkten, wie wir beobachtet wurden. Schwer bewaffnete Militärs waren stets in der Nähe, was anfangs sehr unheimlich für uns war.

Was uns noch auffiel, waren die vielen Blinden in der Hauptstadt. Auf die Nachfrage, wieso es so viele blinde Bettler gibt, bekamen wir die schockierende Antwort, dass das Opfer von Folterungen wären, die als Abschreckung dienen sollten. Die vielen Toten der Folterungen hatte man auf Müllhalden vor der Stadt abgelegt. Die Angehörigen derjenigen, die nachts aus dem Bett gezerrt wurden und verschwunden sind, gingen täglich auf die Müllhalden um zu sehen, ob ihre Lieben dabei sind.

Diese Opfer des Widerstandes gegen die Militärdiktatur fand man auf Kundgebungen gegen das Regime, aber auch im Umfeld des prominentesten Kritikers, des Begründers der Befreiungstheologie und Erzbischofs von San Salvador, Oscar Arnulfo Romero, welcher am 24.03.1980 vor seinem Altar, während er eine Messe zelebrierte, von Todesschwadronen ermordet wurde. Diese brutalen Repressionen des Militärregimes trieben die Opposition in den bewaffneten Widerstand und die Folge war ein Bürgerkrieg von 1980 bis 1991.

Unter anderem besuchten wir eine Frauenbewegung. Die Frauen erzählten uns von ihren Zielen und sie fragten um Rat, wie sie es eventuell umsetzen könnten. Wir saßen im Kreis und später erzählte jede ihre Geschichte in wenigen Worten. Eine Frau um die fünfzig erzählte, sie hatte fünf Kinder und alle sind in den Untergrund gegangen und vier von ihnen wurden getötet. Wir waren sprachlos. Wie konnte man das ertragen und so fragten wir sie, warum sie denn zu den anderen Kindern nicht gesagt hätte, sie sollen es nicht auch tun. Und ihre Antwort war, wenn sie das getan hätte, dann hätte sie diejenigen, die gestorben sind, verraten. Dann wären sie umsonst gestorben. Sie sagte dies mit Wärme und voller Achtung.

Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass wir im Land sind und so wurden wir gefragt, ob wir nicht an einem Gewerkschaftsstreik teilnehmen möchten, der gerade stattfindet. Für uns war es jedoch zu gefährlich politisch aktiv zu werden und so sagten wir lediglich einen Besuch zu. Als wir ankamen, war die Spannung greifbar und man erzählte uns, dass sich am Vortag ein Vater aus ihren Reihen aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Sie baten um finanzielle Unterstützung für seine Frau und die zwei Kinder.

Anschließend wurde das weitere Vorgehen besprochen und alleine, dass wir gekommen waren, stärkte ihr Selbstbewusstsein.

Das hörten wir immer wieder, diese Dankbarkeit nur für unser Kommen. Die Menschen konnten nicht glauben, dass sich Menschen von einem anderen Kontinent für sie interessieren würden und sie wichtig genug sind, dass wir ihnen helfen wollten, so gut wir konnten. Wir hatten auch von zuhause aus einen Container organisiert, der voller Kleidung, Schulartikel etc. war. Dieser war bereits im Hafen und wurde uns die ganzen fünf Wochen nicht erlaubt, diesen zu holen. Immer gab es irgendetwas, das sie uns zwischen die Beine warfen. Bei den Aufenthaltsvisa war es dasselbe. Bei der Einreise entscheidet der Beamte, je nachdem wie er will, wie lange er dir das Visum gibt. Ich hatte es zum Glück 30 Tage, doch einige hatten es nur eine Woche, oder zwei, oder drei. Das hieß, diese mussten nach diesem Zeitraum irgendwo ausreisen und neu einreisen, in der Hoffnung, es für länger zu bekommen. Auch dieses Hin und Her wurde von unseren Gastgebern organisiert.

Natürlich besuchten wir auch die Kathedrale von San Salvador, in der der Sarkophag von Oscar Romero steht und ich freute mich sehr, als ich las, dass er am selben Tag Geburtstag hatte wie ich, nur war er 1917 geboren.

Ich feierte meinen 23. Geburtstag in El Salvador und bekam eine Pinata als Geschenk. Normalerweise bekommen das Kinder, aber nachdem ich das nicht kannte, machte man mir diese Freude.

Sei es der Besuch der UCA, einer privaten gemeinnützigen Hochschule, die von Jesuiten geleitet wird und in der 1989 ein Massaker an acht Menschen verübt wurde, oder der Radiosender, der sehr dezent eingerichtet war, dieser direkte Austausch mit vielen Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen hatte mich tief berührt und verändert.

Ich habe das auch literarisch festgehalten:

„Die Wäsche am Stacheldraht

Ich fahr wieder im dicht gedrängten Bus. Wir haben den Markt schon hinter uns gelassen. Es ist furchtbar heiß. Der Verkehr wie immer – laut und voll Gestank, man kommt nur langsam vorwärts.

Nun fahren wir an wunderschönen Häusern vorbei. Doch sehr viel sieht man nicht. Die Mauern herum sind zu hoch, ganz oben dann noch elektrisch geladener Stacheldraht, drei- und vierreihig. Ich versuche ein Türschild zu lesen … zu schnell, den Namen habe ich nicht genau gesehen, nur noch … Advokat …, das stand darunter. Meine Gedanken hängen hinter den Mauern, bei den Menschen, die Angst haben, ihren Reichtum zu verlieren.

So, nun biegen wir links ab. Wir kommen an den Stadtrand. Hier leben auch Menschen, sehr viele Menschen. Ihre Hütten haben nicht viel Platz am schmalen Straßenrand. Ihr tägliches Leben ist für jedermann sichtbar. Ihre geringe Habe wird Ihnen niemand wegnehmen.

Meine Nachbarin erzählt mir, dass diese Menschen darauf warten in ihr Dorf zurückzugehen. Doch das wird noch dauern. Momentan droht Seuchengefahr. Das Dorf muss erst noch von den Leichen gereinigt, die Massengräber ausgehoben werden. Und rundherum muss man erst noch die Minen entschärfen. –

Nun sehe ich eine Frau, ihr Alter lässt sich schwer schätzen – die ihre Wäsche aufhängt. Sie hat schon Löcher, große und kleine, denn es gibt nur einen Platz dafür: den Stacheldraht, der den Grund der anderen abgrenzt. Sie sieht mich, lächelt und singt weiter ihr Lied ….“

Die letzte Woche wollten wir alle gemeinsam verbringen und davon einen Tag an den Strand, um ins 28 Grad warme Meer einzutauchen. Wir waren in Begleitung von Einheimischen, welche uns erklärten, dass es gar nicht so leicht sei, eine geeignete Stelle zu finden, da hier viele starke Unterströmungen herrschten. Sie erzählten uns die Geschichte von zwei Touristen, die vor vielen Jahren nur bis über den Knöcheln im Wasser stehend, von der Unterströmung erfasst wurden, an die Klippen geworfen und hinausgetragen wurden. Man fand sie weit entfernt an den Felsen und identifizierte sie an den Badehosen. Wir waren tief betroffen und wollten auf jeden Fall vorsichtig sein.

Unsere Begleiter hatten einen Strand gefunden, an dem wir ins Wasser konnten, jedoch sollten wir auf keinen Fall weit hinaus. Voller Freude gingen wir achtsam hinein und freuten uns über die Wellen und hatten großen Spaß. So bemerkten wir erst spät, dass wir langsam unmerklich hinausgeschoben wurden. Vor mir waren Männer, die plötzlich riefen, wir sollten unbedingt zurück, da es immer anstrengender wurde, zurückzukommen. Und wirklich, als ich mich auf den Rückweg machte, merkte ich, welche Anstrengung es kostete, einen Schritt zu machen. Angst kam hoch, doch wollte ich es mir nicht anmerken lassen und so aktivierte ich meine ganze Kraft. Endlich waren wir wieder alle am Strand und die anderen erzählten dasselbe.

Als uns die Geschichte erzählt wurde, dass es möglich ist, dass nur knapp über dem Knöchel eine Unterströmung jemand wegreißen konnte, war das für uns kaum vorstellbar. Aber nun, obwohl wir an einem sicheren Strand waren, hatte ich erstmals am eigenen Leib die Kraft des Meeres gespürt und habe seither den allergrößten Respekt. Nie mehr würde ich eine Warnung abtun.

März 2020

Eine Warnung ernst zu nehmen hat mir und meinen Freundinnen vielleicht 25 Jahre später auf Gomera das Leben gerettet. Dies und die Verbindung zum Atlantik, die ich über viele Jahre aufgebaut hatte. Wir wollten unbedingt im Norden Gomeras, in Hermigua das Naturbecken besuchen, welches im Internet als Badespaß angeboten wurde. Ein Bild vieler Menschen darin animierte zusätzlich. Wir waren mit dem Mietauto unterwegs und freuten uns schon sehr. Das Wetter im März ist jedoch noch wechselhaft, die Winde rau und die Wellen hoch.

Nachdem wir den Weg nicht sofort finden konnten, kehrte ich um und fuhr an den öffentlichen Strand, in der Hoffnung dort jemanden zu finden, der uns den Weg erklären konnte. Meine Freundinnen waren beim Auto geblieben, um bei Bedarf wegfahren zu können, da ich etwas ungünstig geparkt hatte. Der Strand war verlassen, doch in der Ferne konnte ich einen Mann erkennen, der mit seinem Hund spazieren ging. Ich ging ihm entgegen und fragte nach dem Weg. Dieser warnte mich eindringlich davor, jetzt, da Flut wäre, hineinzugehen. Wir sollten doch gegen sechs Uhr abends wieder kommen, da ist Ebbe und es ist ruhiger. Das war jedoch nicht möglich, da wir weit entfernt von der Unterkunft waren.

Das sah er ein und erklärte mir, wir dürfen uns wirklich nur ganz am Rand ins kleine Naturbecken setzen und auf keinen Fall ins größere ummauerte Becken schwimmen gehen, auch wenn es noch so verlockend aussieht. Als wir dort ankamen, waren wir alleine und genossen die Stimmung. Die Wellen wurden gut beobachtet und verstanden wir nun gut, was er meinte. Jede siebte Welle kam bis aufs Plateau heran und nahm mit einer unbändigen Kraft alles raus ins Meer. Das große Becken war Teil einer alten verlassenen Mole, die früher Teil eines kleinen Hafens war. Obwohl das Wasser im großen Becken ruhig schien und zwischen den großen Wellen einige Zeit verging, setzten wir uns nur ins kleine, das nicht tiefer als 30 cm war. Alles war mit grünem Moos bewachsen und so war es sehr rutschig. Ich saß rechts am äußeren Rand und eine kleine Welle erfasste mich und meine Freundinnen neben mir und warf uns ordentlich hin und her. Beatrice war schnell auf den Beinen und reichte mir die Hand, damit ich raus konnte und nicht weggezogen wurde. Damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet. Also setzten wir uns im hintersten linken Eck-Bereich auf den Rand, nur noch die Füße im seichten Wasser. Am Rand waren kleine Vertiefungen, die mit etwas Wasser gefüllt waren und so fühlten wir uns sicher und sahen den Wellen zu.

Dann kam auf einmal eine noch größere Welle, erreichte uns, spülte die Freundin links von mir ins große Becken, die Freundin rechts von mir in die andere Richtung ins Eck und ich konnte gerade noch verhindern, dass ich ins große Becken gezogen wurde. Ich krabbelte hoch, doch dadurch, dass es rutschig war, konnte ich kaum Halt finden und ging nach vor, um Adele aus dem großen Becken zu helfen. Doch musste ich mich beeilen, denn die nächste größere Welle konnte uns beide erfassen und ins Meer hinaustragen. Meine Freundin schwamm mir mit aller Kraft entgegen, ich konnte ihre Hand fassen und zog sie hoch. Dann schauten wir, dass wir schnell weg kamen, denn die nächste Welle kam schon.

Nachdem sich der Schrecken gelegt hatte, mussten wir auf einmal laut lachen. Ein Lachen der Befreiung, denn wir hatten einen ziemlichen Schock bekommen. Meine Freundin erzählte noch, dass das Wasser im großen Becken eine starke Unterströmung hatte und obwohl es von oben ruhig aussah, hatte sie Mühe, dagegen anzuschwimmen. Wir hatten zwar einige Schrammen abbekommen, doch überwiegte die Dankbarkeit, denn ohne die Warnung des jungen Mannes hätten wir dem Onlinebericht geglaubt und wären hineingesprungen.

Als wir uns in der Sonne trockneten, kamen zwei ausländische Frauen mit einem kleinen Jungen und wollten sich direkt neben das kleine Becken setzen, damit der Kleine im seichten Wasser spielen kann. Mit wehenden Händen habe ich ihnen den Weg versperrt und ihnen anhand unserer Verletzungen versucht zu erklären, dass es sehr gefährlich ist. Leider konnten Sie kein Englisch. Dann kam ein Paar aus Österreich, die denselben Bericht gelesen hatten. Wir gaben die Warnung weiter und der Mann wollte uns nicht glauben. Er meinte, er wolle unbedingt hinein. Vielleicht mit einem Seil, an dem er angebunden und gehalten wurde. Wir hatten auf jeden Fall genug, es war eine intensive Erfahrung und wir wurden uns wieder bewusst, wie sehr wir doch beschützt werden.

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