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Sion/Sitten

August 1962


Mit 17 hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume – zwar nicht in den Himmel, aber doch in die Ferne.

Genauer gesagt in den Teil des französisch sprechenden Kanton Wallis mit dessen Hauptstadt Sion.

Sie hat sich mit ihrer Freundin aus Kaufbeuren, der Urheberin des Plans, verabredet.

Als oberbayerisches Mädchen, katholisch, vom Lande, war es anno 1954 nicht einfach, ein Gymnasium zu besuchen. Kaum Fahrverbindungen nach München, wenige Gymnasien.

Eines der wenigen Mädchengymnasien mit katholischem Internat: Kaufbeuren im Allgäu.

Mit ihrer Freundin hat sie Französisch und Latein bevorzugt und während der Studierzeit im Internat heimlich Briefe geschrieben. Sie auf Französisch „Mon cher général“, die andere auf Latein „Ave Caesar“.

Nun hat ihre Freundin über ihren Cousin, Braumeister in Sion, eine Unterkunft besorgt.

Gott sei Dank war es nicht schwierig, die Eltern zu überzeugen, wie wesentlich ein Aufenthalt dort wäre, ein Jahr vor dem Abitur.

Sie treffen sich im Zug in Kaufbeuren, in Zürich steigen sie um. An einem Kiosk im Bahnhof fällt ihnen das Titelblatt einer Zeitung auf. „Marilyn Monroe tot!“ Sie soll Suizid begangen haben. Die bewunderte blonde amerikanische Filmschauspielerin, Sexsymbol einer Generation.

Sie sind fassungslos. „Ist Schein doch nicht Sein?“

Kopfschüttelnd steigen sie in den Zug nach Sion.

Cousin Karl holt sie am Bahnhof ab, bringt sie in das ferienbedingt leere Internat, in dem sie von nun an wohnen. Ein Zweibettzimmer, ein großer Waschsaal und ein Speisesaal, in dem sie ein reichhaltiges Bircher Müsli genießen und ein üppiges Proviantpaket bekommen, jedes Mal mit „Schoki“, sprich Ovomaltine, versehen.

Man bespricht den Aufenthaltsplan. Der gutmütige Karl schlägt vor, sich abends zum Essen zu treffen. In der Zwischenzeit könnten sie Sion und Umgebung erkunden. Da er tagsüber arbeitet und also das Auto nicht braucht, bietet er ihnen sogar dieses an.

Die Freundin, inzwischen Externe, hat zu Hause mit 18 den Führerschein gemacht. Volljährig ist man mit 21. Ihre Mutter aber überlässt ihr öfters den Mercedes.

Der bescheidene Karl dagegen verfügt über einen VW Käfer.

Die nächsten Tage werden Stadt und Umgebung erkundet. Sion, von Felsen und Bergen umgeben, weist eine lange Geschichte auf. Die idyllische Stadt wird überragt von zwei mit Burgen bebauten Felsen. In der Stadt gibt es vieles zu besichtigen: die Cathédrale Notre Dame du Glarnier, das prächtige Renaissance-Rathaus, das Maison Supersaxo und die St. Theodul-Kirche, die nie vollendet wurde. Kardinal Schirner, der Bauherr, wünschte, in dieser Kirche beigesetzt zu werden. Er wollte sich auch zum Papst wählen lassen, doch wie so oft in der Geschichte hat eine Schlacht, hier die von Marignano 1515, die Pläne zunichte gemacht. Übrigens erhielten unter Mitwirkung dieses Kardinals die Schweizer damals das bis heute gültige Privileg, die Schweizer Garde in Rom zu stellen.

Im nahegelegenen Sierre, dem schwefelhaltigen Naturbad, kühlen sich die beiden öfters ab, erhitzen sich aber beim Anblick der gutgebauten männlichen Jugend wieder. Diese, auch nicht uninteressiert, führen Kunstsprünge ins Wasser vor, nähern sich eines Tages an und werfen die Mädchen gegen ihren Willen ins Wasser. Zwei französische Schimpfwörter, die sie gerne benützen würden, wenden sie vorsichtshalber nicht an.

Am 1. August erleben sie den Nationalfeiertag der Schweiz. Ganz ungewohnt für die zwei Deutschen wird dieser Tag sehr ausgelassen und fröhlich begangen. Abends sind die Straßen von Sion voll mit gutgelaunten Menschen.

Deutschland begeht seinen Nationalfeiertag am 17. Juni. Kein Grund für Ausgelassenheit und Frohsinn. Nein, jedes Jahr Anlass für viele politische Reden.

Im Wallis lassen sich die beiden „Maitschlis“, so werden sie öfter angesprochen, von der fröhlichen Stimmung mitreißen.

Eines Tages reift der Gedanke, mit dem Auto nach Genf zu fahren. Der Cousin stellt seinen VW Käfer zur Verfügung, obwohl seine Cousine erst seit einem Jahr den Führerschein besitzt und sehr wenig Fahrpraxis hat.

Gutgelaunt setzen sich die beiden am frühen Morgen ins Auto und fahren ohne Straßenkarte los. Sie wissen nur so viel, dass es immer „geradeaus“ geht, ohne Abzweigungen. Die Beifahrerin verträgt normalerweise das Autofahren nicht. Ihr wird häufig schlecht. Aber diese Fahrt ist so spannend, dass sie an Übelkeit nicht denken kann. Außerdem ist sie damit beschäftigt, der Fahrerin fachkundige Ratschläge zu erteilen.

In Montreux ein Augenblick der Unaufmerksamkeit! Gott sei Dank, der Verkehrspolizist kann sich noch mit einem beherzten Sprung zur Seite retten. Einfahrt in Genf. Prachtvolle Bauten! Sie sind beeindruckt und lassen sich in einem Café am See, in der Nähe der großen Fontäne nieder.

Im Café bestellen sie ein Cola für beide. Der Ober schaut pikiert. Aber viel Geld besitzen sie ja wirklich nicht. Gott sei Dank haben sie nur ein Getränk bestellt, denn beim Bezahlen ist der Schreck groß. Fünf Franken für eine Cola! Ist das menschenfreundlich und völkerverbindend? Sie legen das Geld auf den Tisch. Der Ober murmelt etwas auf Französisch, das sie nicht verstehen. Der Ober wiederholt, was wieder nicht verstanden wird. Dann spricht er Deutsch. „Das ist ohne Trinkgeld“. Doch die beiden rührt das nicht. Bei diesem Preis muss das Trinkgeld dabei sein, denken sie und verlassen das Lokal. Sie bummeln noch etwas an der Uferpromenade, sind begeistert von dem großartigen Panorama und den prächtigen Gebäuden.

Die Rückfahrt verläuft problemlos. Der Beifahrerin wird nicht schlecht. Spät nachts sind sie wieder in Sion.

Am Wochenende beschließt der Cousin, mit ihnen nach Turin zu fahren. Romeo, sein Studienfreund aus Weihenstephan, ist dort Braumeister. Er wollte ihn schon lange besuchen. Diesmal dauert die Fahrt dreieinhalb Stunden. Turin beeindruckt sie mit den breiten, prachtvollen Straßen: Corso Carlo, Corso Roma, Corso Emanuele, ganz anders als die italienischen Städte, die sie kennen.

Trotzdem verirrt sich der Cousin auf der Suche nach Romeos Wohnung im Straßengewirr und fährt in eine kleine Gasse, an deren Ende ein Polizist mit beiden Händen abwinkt. „Senso unico“, Einbahnstraße. Sie müssen wieder hinausfahren. Weitere Suche im Viertel, wieder landen sie in dieser Einbahnstraße, wieder winkt der Polizist ab, wieder rückwärts hinaus. Als sie zum dritten Mal auftauchen, lässt er sie entnervt durch, erklärt ihnen sogar noch den Weg. Vielleicht hat ihn das Schweizer Kennzeichen dazu veranlasst. Leider verstehen sie von seinen Erklärungen so gut wie nichts.

Aber sie finden Romeos Wohnung. Er führt sie ins Hotel.

Die beiden sind beeindruckt von ihrem riesigen Zimmer, stehen im Bad konsterniert vor dem Bidet. So etwas kennen sie nicht und überlegen, wozu diese Schüssel dienen soll. Ganz bestimmt für die Füße. Und da es so heiß ist, lassen sie Wasser einlaufen und kühlen die Füße. Es tut gut, auch wenn es unbequem ist, sich so zu bücken.

Romeo will ihnen die Brauerei zeigen. Der Cousin ist interessiert, die beiden nicht so sehr. Sie laufen eine Weile geduldig mit und hören den Erklärungen zu. Aber als es in einen Raum geht, in dem die technischen Abläufe erklärt werden, bleiben sie zurück. Sie entdecken einen großen Bottich mit einer braunen Flüssigkeit, vielleicht eine Vorstufe von Bier, und tauchen ganz schnell ihre Arme bis zu den Ellbogen hinein. Was für eine feine Erfrischung bei der Hitze!

Mit Romeo schlendern sie durch Turin. An einem Obststand kaufen sie eine Steige herrlicher Kirschen. Sie wird im Auto auf den Rücksitz gelegt. Cousin Karl, schon italienisch schneller geworden, fährt forsch auf die Kreuzung zu. Ein Schrei von Romeo! Abrupte Bremsung! Die Kirschen landen auf Schultern und Vordersitzen. „Brems is gut“, meint Romeo lakonisch.

Samstagabend gehen sie zum Tanzen. In einem Café auf einer Anhöhe mit herrlichem Blick auf das beleuchtete Turin befindet sich im Halbrund ein Orchester, die Tanzfläche ist etwas unterhalb. Die Italiener, elegant gekleidet, sind begeisterte Tänzer. Auch Romeo lässt an diesem warmen, südlichen Abend keinen Tanz aus und beglückt die beiden mit seinen Tanzkünsten.

Am nächsten Tag geht es zurück nach Sion. Und für das nächste Wochenende ist Évian angesagt.

In Évian-les Bains, dem eleganten, französischen Badeort am Genfer See, haben ein Vierteljahr vorher die französisch-algerischen Waffenstillstandsverhandlungen stattgefunden, die zur Unabhängigkeit Algeriens führten.

Ein Hotel in Évian ist schnell gefunden, für die beiden Damen ein Doppelzimmer und ein Einzelzimmer für den Herrn. Der Hotelier schaut sehr verwundert. Er kann die Konstellation nicht nachvollziehen. Sicherheitshalber drückt er dem Cousin noch einen Zweitschlüssel für das Zimmer der Damen in die Hand.

Sie erhalten keinen nächtlichen Besuch.

Zwei unbeschwerte Tage bummeln sie durch Évian, unterbrochen vom Besuch der feudalen Badeanstalt.

Dann geht es zurück ins beschauliche Sion.

Ein paar Tage später zurück ins Allgäu und nach Oberbayern, versehen mit französisch-schweizerischer und italienischer Lebensart.

Wann wird man je verstehn?

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