Читать книгу Die Diktatur der Schildkröte - Rose Vogel - Страница 6
ОглавлениеNeue Freunde – alte Ziele
Seit dem Abend meiner ersten Party treffe ich mich regelmäßig mit meinen neuen Freunden. Albert und John. Freunde zu haben ist großartig! Und von Veranstaltung zu Veranstaltung wird ihre Zahl sicherlich wachsen. Albert E. Stein ist der vollständige Name des Wissenschaftlers und wir sehen uns jeden Mittwoch. Als sein guter Freund und Geschäftspartner stehe ich ihm besonders nahe. Wenn ein persönliches Treffen nicht möglich ist, dann telefonieren wir zumindest miteinander und bleiben so in regem Austausch. Seine Forschungen sind wirklich überaus faszinierend.
Manchmal begleitet uns auch der junge Erbe bei unseren Mittwochs-Treffen. John Johnson Junior hat mittlerweile deutlich abgenommen und sein Handicap verbessert, seine Brille und die Frisur sind aber unverändert geblieben. Seit ich mich mit meinen Mitarbeitern seiner Probleme angenommen habe, hat das souveräne Lächeln, das er auf dem Forbes Cover zur Schau stellte, wieder zu ihm zurückgefunden. Es vergeht keine Woche, in dem nicht irgendwo ein Interview mit ihm erscheint und er ist wieder ein gern gesehener Gast in Talkshows. Mittlerweile hat er den Ruf eines jungen Erneuerers, der in kurzer Zeit alte Strukturen aufbrechen und das väterliche Unternehmen mit neuen innovativen Ideen auf Erfolgskurs bringen konnte.
In wenigen Wochen war es uns gelungen das Management seines Unternehmens so umzustrukturieren, dass er sich wieder ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit widmen konnte. Dabei ergaben sich erfreulicherweise sogleich einige vielversprechende Schnittstellen zu den Forschungen von Albert. Und Albert ist selbstverständlich wissenschaftlicher Leiter im Unternehmen geworden. Er hat außerdem einen Posten im Aufsichtsrat. Auch bei diesen offiziellen Sitzungen sehen wir drei uns regelmäßig.
Das Problem der Hautalterung hat sich als sehr profitabler Geschäftszweig erwiesen, besonders seitdem wir es »Anti-Aging« nennen und ein Marketingbudget mit reichlich Nullstellen vor dem Komma dafür ausgeben. Natürlich arbeiten wir dabei an pflegenden Cremes, straffenden Gels und aktivierenden, leichten Fluids. Aber auch die Nahrungsergänzungsmittel gehören in unser neues erfolgreiches Produktportfolio. Unsere Werbeexperten hatten uns dabei empfohlen die Wirkstoffe nicht wie üblich in Form unattraktiver brauner Presslinge zu vertreiben. Stattdessen rieten sie uns dazu diese in hübsche, bunte Kapseln zu verpacken und als verschreibungspflichtige Medikamente zu vermarkten. Der Erfolg war verblüffend. Sowohl Kliniken als auch niedergelassene Ärzte nahmen unsere Produkte begeistert an und zu unserer großen Freude verwandelten sie sich somit in kurzer Zeit in eine sprudelnde Geldquelle. Neben den Problemen anderer leben wir nun auch noch sehr gut vom Alter. Zusätzlich zu unseren Forschungslaboren und den modernen Produktionsanlagen konnten wir außerdem einige exklusive Beauty-Kliniken in ganz Europa eröffnen. Auch hier können wir einen beeindruckenden Zulauf und stetig steigende Umsätze verbuchen. John Johnson Junior erwähnt diese Einrichtungen gelegentlich bei seinen Gastauftritten und Interessenten müssen sich mittlerweile mit einer durchschnittlichen Wartezeit von 14 Monaten abfinden.
Ich hatte beim Kampf gegen die Hautalterung und die Regeneration von Gewebe fachkundige Verbündete gefunden. Und dabei meine wahre Bestimmung gefunden: Ich wollte das Altern beenden. Ganz grundsätzlich. Und dabei natürlich in aller erster Linie bei mir. Den Gedanken an meinen Tod fand ich immer schon weit weniger beängstigend als den an mein Altern. Tot ist tot. Aber alt! Die Vorstellung erst Falten, schlaffe Haut und Haarausfall zu bekommen und später irgendwann mit morschen Knochen und löchrigem Verstand in meinem Bett zu liegen, hatte mir schon ab meinem 25. Lebensjahr kalte Schauer über den Rücken gejagt. Damals erfuhr ich, dass der menschliche Körper seine maximale Leistungsfähigkeit in diesem Alter erreicht hat und danach kontinuierlich abbaut. An jenem Tag hatte mein Feldzug gegen diesen Horror begonnen.
Durch einen Artikel war ich auf eine Stiftung gestoßen, die interessante neue Forschungsprojekte in ihr Programm aufgenommen hatte. Diese erforschen zum Beispiel die Umkehr der Stammzellenalterung und Therapiemöglichkeiten bei degenerativen Erkrankungen. Nachdem ich Albert eines Mittwochabends bei einem Glas Bordeaux in unserem Lieblingsrestaurant davon erzählte, berichtete er davon, dass die Suche nach dem sogenannten Methusalem-Gen bereits an Fadenwürmern stattfinden würde, deren Lebenszeit dabei um das sechsfache verlängert werden konnte. Auch sprach er von einer Quallenart, die sich wieder in den Embryonalzustand entwickeln kann, wenn sie alt geworden ist. Ihre Gene starten dann quasi wieder neu. Wir unterhielten uns angeregt während wir uns durch die Vorspeisenkarte arbeiteten. Und nachdem jeder von uns als Hauptgang ein Filet vom Kobe Rind genossen hatte, kamen wir gegen Ende des Abends schließlich überein, dass die Gene von Fadenwürmern uns nicht ausreichend beeindrucken konnten. Aber der Begriff des Methusalem-Gens hatte mich auf die Idee gebracht, die Gene und Stammzellen unserer Schildkröten zu untersuchen, um dem Rätsel ihres hohen Alters auf den Grund zu gehen.
Für diese Forschungen benötigten wir natürlich die besten Gene und die gab es zweifellos nur bei den ältesten Exemplaren dieser Spezies. Diese Bedingung war mir dabei sofort klar. Und hier genügten mir keine Gewebeproben. Nein. Ich wollte diese Tiere bei mir haben. Ich wollte sie sehen, ihre großen Panzer und ihre faltigen Hälse berühren und ihren Atem spüren. Ich hatte das Bedürfnis ihnen nahe zu sein. Wir mussten also unbedingt die berühmtesten Vertreter aus den unterschiedlichen Zoos der Welt in unsere Obhut bekommen. Unsere populärsten Ziele waren dabei selbstverständlich die Galapagos Riesenschildkröte »Harriet« im Zoo von Australien und die Aldabra Riesenschildkröte »Adwaitya« aus dem Zoo in Kalkutta.
Doch wie entwendet man unbemerkt eine Riesenschildkröte? Ohne Aufsehen zu erregen. Ich trieb mein Gehirn bis an seine Leistungsgrenze. Tagelang. Über das Verschwinden der Tiere hätte sofort die Presse berichtet und somit unnötigen Staub aufgewirbelt. Ihre plötzliche Flucht war schließlich auszuschließen und ein offensichtlicher Diebstahl wäre mit internationalen Kräften verfolgt worden. Mein Kopf schien leer zu sein. Wo sich sonst die brillanten Ideen drängten war Leere. Am Ende war ich mir aber darüber im Klaren, dass ich hier alleine nicht weiterkam. Diese Aufgabe erschien mir unlösbar. An jenem Tag, an dem ich mir das eingestand, öffnete ich mir erleichtert zum Aperitif eine Flasche Amarone und eine kleine Tafel Zartbitterschokolade und legte mich auf mein Kingsize Wasserbett. Ich hatte beschlossen an der Lösung des Problems in einem größeren Kreis zu arbeiten und wartete geduldig auf das allabendliche Dinner im Familienkreis. Ich konsultiere immer meine Familie, wenn ich bei Problemen einen Rat oder eine zweite Meinung benötige oder gerade keine Lust habe selbst nachzudenken. Und nichts eignet sich da besser als ein zwangloses, gemeinsames Abendessen mit köstlichen Speisen.
Wie erwartet entspannte sich in diesem Rahmen eine lebhafte Diskussion, bei der teilweise mit vollem Mund und Messer und Gabel gestikulierend verschiedene Szenarien erörtert wurden. Cousin Toni schlug vor, die Tiere zum Schein zu vergiften. Er erinnerte sich an ein Gift, das Mensch und Tier in tiefen todesähnlichen Schlaf fallen lassen würde. Die Körper dieser scheintoten Opfer müssten dann nur noch aufgekauft und abtransportiert werden. »Wie bei Romeo und Julia. Das war eigentlich ein ganz formidabler Plan.« Während seines Vortrages zerlegte er einen seltsam kugelförmigen Fisch bis nur noch ein winziges weißes Stückchen Fleisch übrig blieb, das er sich genüsslich in den Mund schob. Ich war schon fast geneigt seine Offerte anzunehmen, als sich mein Vater mit einer großartigen Idee zu Wort meldete. Sie basierte auf einer simplen Auswechslung. Zwei unserer ältesten Tiere, die noch aus dem Familienbesitz des Ichtyologen stammten, sollten unbemerkt die Plätze der beiden Methusalems einnehmen. Ich war schockiert ob dieses Vorschlags. So kann man doch mit Familienmitgliedern – und genau darum handelte es sich bei diesen Tieren – nicht umgehen. Mein Atem hallte in meinen Ohren. Mein Herz überschlug sich fast. »Junge. Glaube nur nicht, dass mir das leicht fällt. Und reg dich jetzt bitte nicht auf. Du hast gefragt. Ich habe lediglich einen Vorschlag gemacht. Und eine bessere Lösung deines Dilemmas kann ich nicht finden.« Wir sahen uns alle in die Augen. Und nickten. Nur Großmutters trübe Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Herz hängt besonders an jenen ersten Tieren, die in ihrer Kindheit zu uns kamen.
Über diesen Transfer selbst möchte ich nicht viel berichten. Er erfolgte in beiden Fällen unbemerkt. Was zugegebenermaßen keine besondere Leistung war, da Menschen und diesem Falle vor allem Touristen leicht zu täuschen sind. Die Fachleute vor Ort, die den Täuschungsversuch natürlich sofort erkannten, konnten dank geübter Überzeugungsarbeit in Form einiger dicker Geldbündel zur Verschwiegenheit überredet werden. Die von uns eingewechselten Tiere sind leider beide bereits verstorben, obwohl sie augenscheinlich kerngesund und auch laut Gesundheits-Check in sehr gutem Zustand waren, als sie uns verließen. Großmutter war untröstlich als sie diese traurige Nachricht im Fernsehen erfuhr. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Körper schon auf dem Weg zurück zu uns. Durch eine Obduktion der Leichname konnten wir feststellen, dass sie beide an Krankheiten verendet waren. Wir hätten sie gut behandeln können. Eine Erkenntnis, die wir unbedingt vor Großmutter geheim halten wollten. Die an ihrer Stelle eingetauschten berühmten Methusalems leben heute noch glücklich und gesund in unserem Schildkröten-Haus. Dank der sorgsamen Pflege unseres kundigen Personals, erfreuen sie sich immer noch bester Gesundheit. Für die Veranstaltungen setzte ich sie aber natürlich nicht ein. Es sind schlicht und ergreifend unsere Ehrengäste, die mit besonderer Liebe und Hingabe betreut werden. Für Alberts Forschungen und bei meiner Suche nach einem Wirkstoff gegen das Altern waren sie bereits von unschätzbarem Wert.
Seit meiner Party hatte sich mein Leben durchweg verändert. Ich hatte endlich Freunde gefunden und Anerkennung. Mein Kampf gegen das Altern hatte neue Energie gewonnen. Noch besser: er war sogar professionalisiert worden. Und dann war natürlich auch noch Melody X in mein Leben getreten. Mitten in mein Herz hatte sie sich an jenem denkwürdigen Abend getanzt. Daran konnte auch das zerstörte Ölgemälde im Familienanwesen nichts ändern. Ich war vollkommen euphorisiert. Glückselig. Das Lächeln in meinem Gesicht wollte kein Ende nehmen. Ich versuchte meine Angebetete sooft wie möglich zu sehen. Durch ihren Erfolg in der TV-Sendung hatte sie gewaltige Mengen an Terminen wahrzunehmen und jagte mit Flugzeug, Bahn und Auto durch die ganze Welt. Tanzshows wurden zu ihrer Passion. So betanzte sie diese nicht nur, sondern geriet auch zu einem begehrten Jurymitglied. »Darling, so eine Welle muss man reiten.« Ihr Management hatte ihr dies gesagt und Melody gab ihr Bestes. Um in ihrer Nähe sein zu können, musste ich ihr zu ihren Arbeitsstellen folgen. Ich war ihr Groupie. Ich war ihr verfallen. In den Drehpausen durfte ich sie abholen. Dann schlenderten wir durch die Metropolen oder versuchten uns als internationale Restaurant- und Hoteltester. Ich genoss ihre Begleitung unbeschreiblich und erwarb so nebenbei auch endlich die schwarze Karte der Hon-Circle-Meilen. Ich war immer schon begeisterter Vielflieger. Ein eigener Lear-Jet wäre bei unserer Arbeit zu auffällig. Lieber mischen wir uns unters Volk und buchen für einen Auftrag auch mal eine Pauschalreise auch wenn die Verpflegung mittlerweile sehr zu wünschen übrig lässt.
Wie auch immer. Für die in dieser Zeit neu erstandenen Antiquitäten, Designmöbel und Haute Couture-Roben erwies sich Melodys gemütliches Apartment sehr bald als zu klein. Außerdem war es ihrer nicht angemessen. Und ich wollte sie in meiner Nähe haben. Ich beschloss daher für uns ein eigenes Gebäude auf unserem Familien-anwesen zu errichten. Nur für uns. Dafür ließ ich eilig einige Grenzsteine zum benachbarten Naturschutzgebiet versetzten. Im Rahmen der geplanten Baumaßnahmen war auch die Rodung eines kleinen Waldstücks unumgänglich. Meine Anwälte klagten in dieser Zeit einmal mehr über ein erhöhtes Arbeitsaufkommen. In Schottland fanden wir schließlich ein zauberhaftes, altes Schloss, in das wir uns beide auf der Stelle verliebten. Nach dessen Erwerb lies ich es Stein für Stein ab- und auf dem neuen Grundstück wieder aufbauen. Binnen weniger Tage. Melody war begeistert. Das zuständige Bauamt ganz und gar nicht.
Nach einigen kleinen Um- und Anbauten war alles für unseren Einzug bereit. Obwohl meine Freundin weder kochen konnte noch wollte, hatte sie auf den Einbau einer Gaggenau Küche bestanden. Mit Kochinsel und allen überhaupt nur möglichen Einbauten. Auf nichts wollte sie verzichten. Von Gasherd über Induktionsfeld, Backofen, Dampfbackofen, Wärmeschublade, Mikrowelle, Kühl- und Gefriergerät und natürlich eine große Lüftungshaube. Alles musste eingeplant werden. Da die Handwerker sowieso tagelang vor Ort waren, lies ich auch noch eine große Glasscheibe mit Blick in meine angrenzende Garage einziehen. Es war ein großartiges Raumerlebnis. Wir haben diese Küche gemeinsam nie betreten.
Dies alles führte dazu, dass ich zwei Jahre lange keinen Gedanken an eine weitere Veranstaltung fassen konnte. Die Arbeit in unserem Familienunternehmen, im Chemiekonzern und an den genetischen Geheimnissen der Schildkröten, sowie meine wöchentlichen Treffen mit Albert und natürlich die schönen Abende und Nächte mit Melody, in denen sie mich in die Geheimnisse der körperlichen Liebe einführte, beanspruchten mich und meine Zeit zur Gänze. Und dann waren da ja auch noch die Familie und meine Schildkröten, die nach meiner gelegentlichen Anwesenheit verlangten. Beliebt zu sein erwies sich damals als eine sehr anstrengende Angelegenheit. Ich war ja auch völlig ungeübt darin. Nie hätte ich mir träumen lassen jemals in eine solche Lage zu kommen. Manchmal wünschte ich mich sogar zurück in meine Kindheit, in der ich tagelang alleine im Gras liegen und die Wolken am Himmel beobachten konnte. In Momenten der größten Not zog ich mich sogar ins Badezimmer oder auf die Toilette zurück, um wenigstens für ein paar Minuten mit mir alleine zu sein. Auch für meine Wut war diese Situation neu. Sie beobachtete uns interessiert aus der Entfernung. Ich wusste immer, dass sie da war. Über mir. Neben mir. In mir. Manchmal sprang sie aus heiterem Himmel aus mir heraus und erschreckte meine neuen Freunde.
Da ich deutlich weniger Zeit mit meinen gepanzerten Kumpanen verbrachte als früher, beschäftigten sich die von mir so vernachlässigten Tiere mit sich selbst. Ihr dabei ungestörtes und ausgiebig ausgelebtes Liebesleben brachte unsere Familie nicht nur durch Lustrufe manche Nacht um den Schlaf, sondern machte uns auch zu stolzen Paten einer kleinen Schildkrötenzucht. Auch unsere vertauschten Ehrengäste wurden schnell freundlich aufgenommen. John F. Kennedy hatte sich vom ersten Tage an in beide Damen tief verliebt. Wir waren etwas in Sorge, dass Lady Di und Marilyn Monroe eifersüchtig werden könnten, doch die beiden hingen offensichtlich immer noch ihren blonden Triathleten von meiner Party nach und waren vom Treiben um sie herum völlig unbeeindruckt. Da der Sommer im Vorjahr sehr gut war, durften wir uns über einige große Nester freuen. Mittlerweile wissen wir, dass ein warmer Sommer mit lauen Abenden beste Voraussetzungen für üppige Gelege bietet.
Beim Anblick dieser Schildkröten-Eier verlor ich im ersten Moment fast die Fassung. Meine Wut wühlte sich bereits durch meine Innereien. Mir wurde heiß. Und übel. Ich sah in ihnen eine Gefahr. Eine weiße, glatte und unschuldige Bedrohung für unsere Familie und unsere Tradition. Genau jene Tradition, auf der die Macht und der gute Ruf unserer Familie fußt: Jede neue Schildkröte auf unserem Anwesen stand bis dato für einen erfolgreich ausgeführten Auftrag mit tödlichem Ausgang. Jeder der riesigen Panzer bewies unsere Schonungslosigkeit bei der Lösung eines Problems. Sie waren unsere Pokale, für die wir bewundert wurden. Ehrfürchtig. Ein guter Grund um uns Respekt zu erweisen und ein noch besserer um uns weiter zu empfehlen. Und genau so sollte es auch bleiben! Doch eben diese Tiere, die für den Tod jenes Menschen standen, dessen Namen sie trugen, zeugten nun neues Leben und verwandelten unser Anwesen vom Mahnmal zur Babystation. Eigentlich sogar für mich ein versöhnlicher Gedanke. Bevor meine Wut ihren Weg aus meinem Körper finden konnte, gelang es den Schildkröten mich zu beruhigen. Wir einigten uns darauf, dass diese Jungtiere nicht ewig bei uns bleiben sollten. Spätestens im Alter von zwanzig Jahren sollten sie uns verlassen müssen und auf jene Inseln zurückgebracht werden, woher ihre Eltern stammten. Und es sollte weiterhin nur einen Weg geben, der sie als ausgewachsenes Tier zu uns zurückführen könnte. Meine Wut war hellwach und kauerte in meiner rechten Schulter.
Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, investierte ich eine stattliche Summe in den Bau einer Aufzuchtstation. Der neue Anbau zu unserem Schildkrötenhaus bestand unter anderem aus einem Brutraum mit ausreichend hoher Luftfeuchtigkeit, in dem die Temperatur stetig zwischen 28 und 34 Grad Celsius gehalten wird und einem Aufzuchtbereich mit UV-Lampe. Seit dieser Zeit beschäftigen wir auch eine größere Anzahl reptilienerfahrener Pfleger und einen spezialisierten Tiermediziner, die sicherstellen, dass es unserem Nachwuchs an nichts fehlt. Von dem Augenblick an, als Großmutter das Schlüpfen unserer ersten Jungtiere miterleben durfte, war ihre Trauer um die beiden ausgetauschten Schildkröten wie weggeblasen. Sie war begeistert von diesen kleinen Wesen, die schon beim Verlassen ihres schützenden Eies ein greisenhaftes Aussehen haben. Bereits in seiner ersten Lebenswoche erhielt jedes Tier von ihr einen Namen. Später bemalte sie liebevoll ihre kleinen Panzer, um sie besser unterscheiden zu können. Dabei entwickelte sie eine unvorstellbare schöpferische Energie. Das Ergebnis ihrer Arbeit waren grafisch-gemusterte, floral verspielte, komplex psychedelische und archaisch reduzierte Panzer-Motive. Daneben schuf sie auch sehr schlichte aber leuchtende einfarbige Panzer und sogar solche mit Farbverläufen. Manchmal verwendete sie dabei zusätlich kleine Edelsteine oder Perlen. Ihr Einfallsreichtum kannte keine Grenzen.
Sie avancierte zur Mutter und Schutzpatronin der Aufzuchtstation und ihre matten Augen begannen wieder zu leuchten. Eine Katarakt hatte nacheinander beide ihrer einst so himmelblauen Augen vertrüben lassen. Hartnäckig verweigerte sie sich jedoch einer Operation. »Nichts da! Im Krankenhaus holt man sich den Tod!« pflegte sie uns entrüstet entgegenzuschmettern, wenn wir uns bemühten ihr diesen Eingriff nahe zu bringen. Sie hatte einst eine liebe Freundin verloren, die bei einem Routineeingriff zur Straffung ihres Oberlids ins Koma gefallen und daraus nicht mehr erwacht war.
Sooft wie möglich versuchte sie die bunte Schar der Schlüpflinge zu besuchen. Meist mehrmals am Tag und ungeachtet des Wetters. Auch als der Nachwuchs größer geworden war, blieb die Anzahl ihrer täglichen Besuche unverändert. Sie liebte die Tiere und die Tiere liebten sie. Im selben Maße wie sich Großmutter um die Kleinen mühte, achteten deren Eltern auf sie. Dabei tat sich John F. Kennedy besonders hervor. Er war immer schon der Gentleman unter unsere Herde gewesen. Nun wartete er geduldig vor der Verandatür, um die alte Dame zu ihren Schützlingen zu bringen und war sie müde geworden, so trug er sie dorthin zurück. Schon seit einigen Jahren war Großmutter sehr schlecht zu Fuß. Bereits in den Jahren vor meiner ersten Party hatten wir erste Anzeichen bemerkt. Ihr Zittern, der leicht schlurfende Gang und einige weitere Symptome waren aber seit den gemeinsamen Vorbereitungen wie weggeblasen gewesen. Das Nähen der Wolken und die Dekoration des Wintergartens mit hunderten von Seidenrosen schienen sie mit neuer Lebenskraft erfüllt zu haben. Nun jedoch forderte ihr hohes Alter endgültig seinen Tribut. Da ich mich viel auf Reisen befand und oftmals nur alle paar Wochen in den Schoß der Familie zurückkehrte, bemerkte ich diese Anzeichen als erster. Es gelang mir schnell, die ganze Familie darauf hinzuweisen und so in helle Aufregung zu versetzten. Ab diesem Zeitpunkt beobachteten wir gemeinsam die fortschreitende Gebrechlichkeit der betagten Dame.
Fast täglich verdeutlichten sich die Anzeichen und bald schwanden neben den körperlichen auch ihre geistigen Kräfte. Ihre Lebensenergie schien sich aus ihrem Körper schleichen zu wollen. Still und leise, aber stetig. Die alte Dame wurde dabei jeden Tag ein wenig weniger. Großmutter verwechselte nicht nur die Namen ihrer bunt bemalten Freunde, sondern auch die unserer Familienmitglieder. An besonders schlechten Tagen erkannte sie mich nicht mehr, worüber sie mit mir an guten Tagen lachen konnte und an nicht ganz so guten Tagen in Tränen ausbrach. Mal war ich für sie ein Fremder, mal ein lieber, längst verstorbener Freund mit dem sie gerade von einer Urlaubsreise zurückgekehrt war. Sie befand sich überhaupt oft vermeintlich auf Reisen von denen sie uns aufgeregt berichtete.
Ihre Augen wurden schwächer. Ihre Hände begannen zu zittern, so dass ihre Panzerbemalungen mit der Zeit immer expressiver und reduzierter wurden. Auf den Einsatz von Edelsteinen verzichtete sie ganz. Sie spezialisierte sich auf starke Farbkontraste und große Muster. Ihren schmerzenden Rücken und die steif werdenden Glieder bekämpfte sie stoisch mit Salben und Ölen, so dass sie stets von einer Wolke ätherischer Düfte umhüllt war. Man roch sie ehe man sie sah. Hören konnte sie man jedoch kaum. Denn trotz aller Leiden blieb sie dabei heiter und freute sich klaglos auf jeden neuen Tag.
Meine Mutter stand dieser Situation hilflos gegenüber. Bisher waren alle privaten Probleme von unserem Familienrat gelöst worden. Dabei war ihre eigene Mutter oft in der ersten Reihe gestanden. Nicht wegen ihrer Lebenserfahrung und Güte. Sie war eine starke Frau gewesen. Mit einer klaren Vorstellung davon, wie sich die Dinge und Menschen zu entwickeln hatten. Sie sprach mit lauter Stimme, hielt die Fäden in ihren Händen und führte uns alle daran durchs Leben. Nun wäre SIE es gewesen, die unsere Hilfe benötigte. Doch in diesem Fall waren wir machtlos. Den körperlichen Verfall an diesem geliebten Menschen zu erleben, ließ Mutter verzweifeln. Sie wollte diese Tatsache nicht akzeptieren. Meist korrigierte sie die alte Dame scharf, was zu vielen Tränen auf beiden Seiten führte. »Nun stell dich doch nicht so an, Mutter«. »Das weißt du doch, wir hatten erst gestern davon gesprochen. Hast du mir etwa nicht zugehört?« »Ich bitte dich! Das kannst du doch«. »Teresa? Hast du eben Teresa zu mir gesagt?! Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst! Konzentrier dich doch bitte endlich!« Ich vermute meine Mutter hoffte dabei, ihr Verhalten könnte die Realität verändern. Wenn sie nur fest genug ihre Augen vor der Wahrheit verschließen würde, würde sich diese Wahrheit auflösen. Würde sich wieder in das verwandeln was früher war. Lächerlich und doch erschütternd. Ich fühlte mich davon unangenehm berührt und wand mich ab. Von beiden Frauen. Von Großmutters Leid. Dem Unabänderlichen. Ich stürzte mich in meine Arbeit. Hielt sie wie ein Schutzschild vor mich. In unserem Unternehmen war ich schließlich unabkömmlich.
Unser Hausarzt kam täglich zur Visite. Die Liste der Medikamente, die Großmutter über den Tag verteilt einnehmen sollte, wurde immer länger. Wir wechselten uns bei ihrer Betreuung zwar so gut es ging ab, dennoch geschah es häufig, dass sie ihre Medikamente nicht einnahm oder diese wieder ausspuckte. Manchmal vergaß sie sogar zu trinken. Manchmal vergaßen wir uns abzuwechseln. Wir alle waren damals sehr beschäftigt und keiner von uns taugte zum Pfleger. Alles erschien uns wichtiger. Ganz abgesehen davon, dass das Alter mir ein Graus war. Es bei seiner Arbeit zu sehen machte mich zornig. Sehr zornig. Es war dieser zerstörerische Zorn über Ungerechtigkeit. Über Dinge, die man nicht ändern kann. Die jedoch ganz unerträglich scheinen. Um meine Wut unter Kontrolle zu halten, versuchte ich möglichst wenig an Großmutter zu denken. Ich musste mich schließlich um die Geschäfte kümmern und um Melody. Daneben, so redete ich mir ein, war in meinen Gedanken und in meinem Terminkalender nur noch wenig Platz für die alte Dame und ihre Leiden. Auch Cousin Toni, Vater und sogar Mutter hatten ähnliche Ausreden. Meine Cousinen konnten der nervlichen Belastung nicht standhalten. Sie ließen sich von verschiedenen Ärzten Erschöpfungszustände attestieren und teure Kuren in hübschen Städten mit Yachthäfen verschreiben. Wir mussten uns eingestehen, dass wir die Pflege der alten Dame nicht alleine bewerkstelligen konnten. Bald hallten die quietschenden Schritte von kreppbesohlten, resoluten Krankenschwestern durch unseren Stammsitz und der von Großmutter bewohnte Seitentrakt des Gebäudes verwandelte sich binnen eines halben Jahres zum Sanatorium. Meinem Cousin war dies ein Gräuel. Ein eklatantes Sicherheitsrisiko. Trotz einer gründlichen Überprüfung der Pflegekräfte bestand er darauf, dass zumindest niemand über Nacht bleiben durfte. Um unsere greise Patientin in dieser Zeit dennoch optimal bewacht zu wissen, erhoben sich neben Großmutters Bett nach und nach verschiedene medizinische Gerätschaften. Während ihres Nachtschlafs wurden an der alten Dame diverse Messfühler angebracht deren Überwachungsmonitore dann ihre Schlafstätte säumten. Ein später auch noch vorsichtshalber aufgestellter Defibrillator verlieh der Gesamtkomposition den letzten Schliff. Großmutters Lebensenergie schien trotz aller Bemühungen zu versiegen. Als sie keine Kraft mehr hatte alleine ihr Bett zu verlassen und sie rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen war, waren es schließlich die Schildkröten, die mein Eingreifen verlangten. Sie wollten ihrer ältesten Freundin helfen. Einige von ihnen hatten sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Es erschien ihnen viel zu früh, um sich bereits wieder von ihr zu verabschieden. Ihre Besorgnis war für mich fast körperlich greifbar.
Bei einer eiligst einberufenen Versammlung im Park versanken wir wie üblich im schweigenden Dialog. John F. Kennedy kaute. Tränen rannen dabei aus seinen Augen. Mein Herz schlug so laut, dass ich das Gefühl hatte, der Boden würde in eben diesem Rhythmus vibrieren. Vielleicht tat er das auch. Unsere Herzen schlugen in diesem Moment vermutlich alle im gleichen Rhythmus. Wir waren eins. Ein Herz und ein Gedanke: Großmutter muss leben. Ich verstand die Forderung unserer Tiere: Wenn schon an ihren Genen und Zellen geforscht werde, dann sollten die Ergebnisse auch eingesetzt werden. Und zwar zur Rettung ihrer lieben Freundin. Umgehend. Das erste Serum, das Albert damals bereits aus den Forschungen an ihnen gewonnen hatte, sollte an ihr eingesetzt werden. Sie wünschten sich ihre fröhliche Agilität zurück. Zumindest ihr körperlicher Verfall müsste umgehend gestoppt werden. Um Zeit für weitere Forschungen zu gewinnen. Sie drohten sogar damit, ihre weitere Unterstützung zu verweigern, sollte nicht umgehend damit begonnen werden, Heilungsversuche zu unternehmen. Das konnte ich spüren.