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G.0.D.08-15

Ich hatte Albert von diesem Treffen berichtet und ihm die Gedanken der Schildkröten übermittelt. Wir begaben uns umgehend und tief betroffen in sein Labor. Es galt eine gewaltige Aufgabe zu übernehmen. Die Wirkung des Mittels war völlig unklar. Würde es Großmutter mehr schaden als helfen? Würden wir ihr am Ende Schmerzen zufügen? Viel stärker als alle Bedenken waren aber meine Neugier und vor allem meine Hoffnung auf eine positive Wirkung unseres Mittels. Albert hatte neben den Schildkröten-Genen noch weitere Tests an Fadenwürmern, Mäusen und später an Schweinen und Affen durchführen wollen. Doch obgleich ihm der Einsatz des Wirkstoffes mehr als verfrüht erschien, entschied ich mich dazu, das gewonnene Präparat an Großmutter zu testen. Ein reiner Akt der Verzweiflung. Das Serum war Lichtjahre von einer offiziellen Zulassung entfernt. Es hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal einen Namen. Auf der Ampulle, mit der wir uns vom Labor zurück zum Familiensitz machten, stand lediglich das Kürzel »G.0.D.08-15.«. Es hatte zur Kennzeichnung und Dokumentation der Testreihen gedient.

»Du musst wahnsinnig sein! WIR sind wahnsinnig! T. – ist dir klar, was wir gerade im Begriff sind zu tun? Ein unerprobtes Medikament an einem Menschen zu testen. An DEINER Großmutter. Das ist ... Wahnsinn.« Er versank in Schweigen. »Es muss einfach funktionieren. Es muss.« Diese Worte wiederholte Albert schließlich flüsternd, wie eine magische Beschwörungsformel und starrte dabei auf seine schweißnassen Hände. Blass und zitternd saß er neben mir in meinem mattschwarzen Bentley. Am Steuer dieses Wagens zu sitzen vermittelt mir immer ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass wir Erfolg haben würden.

Als wir Großmutters Zimmer betraten, lag sie in ihrem Bett und schlief. Klein und schmal sah sie aus. Ihre Haut wirkte fahl. Ihr Atem war kaum zu hören und ihr Herzschlag so schwach, dass wir schon befürchteten zu spät gekommen zu sein. Die Überwachungsmonitore zeigten zart gezackte Kurven und tauchten den Raum in ein unwirkliches Licht. Um keinen Alarm auszulösen schalteten wir das gesamte System aus und entfernten vorsichtig alle Messfühler von ihrem matten Körper. Da Alberts Hände immer noch stark zitterten, nahm ich die Spritze und das Serum an mich.

Ich hatte bereits während der Fahrt beschlossen, mir selbst ebenfalls eine Dosis davon zu spritzen. So hoffte ich mich nicht nur meiner ersten grauen Haare und der unschönen Nasolabialfalte zu entledigen, sondern auch endlich einen ganz persönlichen Beitrag an unseren Forschungen leisten zu können. Und natürlich gedachte ich sie so zu beschleunigen! Ohne weiteres Zögern injizierte ich erst Großmutter und dann mir selbst je eine Hälfte des Ampulleninhaltes. Albert riss die Augen und den Mund auf, als er sah, wie ich mir selbst die Nadel in die Vene stach. Er stieß einen spitzen Schrei aus, griff sich an die Kehle und fiel dann geräuschvoll zu Boden. Vermutlich hätte ich ihn über mein Vorhaben informieren sollen. Aber ich war einfach zu beschäftigt gewesen, um ihn auch noch in meine Gedanken einzuweihen. Ganz abgesehen von der Diskussion, die Albert mit mir begonnen hätte und die mir so erspart geblieben war. Während Albert zusammen gesunken am Boden lag, versuchte ich gespannt in meinen Körper zu hören und auf Veränderungen zu achten. Das Mittel brannte ein wenig. Ganz ähnlich der Thrombosespritzen, die ich mir bei meinen Langstreckenflügen immer gönne. Weitere Anzeichen konnte ich nicht feststellen. Erst nachdem dieser Schmerz nachgelassen oder ich mich an ihn gewöhnt hatte, kümmerte ich mich um meinen armen Freund. Meine Großmutter schlief weiterhin. Ihr Atem war dabei aber so ruhig und gleichmäßig, dass ich beschloss, mich vorerst nicht weiter um sie sorgen zu müssen.

Nach ein paar freundschaftlichen, aber herzhaften Ohrfeigen stellte ich Albert wieder auf seine beiden Beine mit den schlotternden Knien und zog mich mit ihm ins Kaminzimmer meines schottischen Schlosses zurück, das ich neuerdings mit Melody bezogen hatte. Sie war damals auf Reisen, weshalb wir uns beide geräuschvoll in meine Chesterfield-Sessel fallen lassen konnten. Albert stöhnte. Seine ersten wiederkehrenden Lebensgeister bedachten mich mit Kommentaren, die alle sehr unwissenschaftlich waren und hier nicht erwähnt werden sollen. Danach besprachen wir uns erst einmal schweigend mit einer Flasche Dalmore Whisky. Die Flüssigkeit war deutlich älter als wir und wirkte sehr beruhigend auf uns. Nachdem Albert seinen anfänglichen Schock überwunden und er mir nochmals in deutlichen Worten seine Meinung gesagt hatte, kehrte sein fachliches Interesse zurück. »Ich war mir ja bereits darüber im Klaren, dass du reichlich exzentrisch bist und zu Verrücktheiten neigst, mein lieber T. Aber das! Das grenzt an Irrsinn.« Während er wieder und wieder in grübelndes Schweigen verfiel, knetete er fiebrig seine Unterlippe. Nach einer Weile richtete er sich auf. »Wo endet Wissensdurst und wo beginnt der Wahn. Ich denke wir beide sind gerade ganz in der Nähe dieses Punktes. Lass uns das Beste daraus machen. Und das einzig Sinnvolle. Lass uns forschen.« Er betrachtete mich wie eines seiner Versuchstiere. Er beobachtete meine Bewegungen, fühlte meinen Puls, meine Temperatur und meinen Blutdruck und lies sich von mir beinahe minütlich mein Befinden beschreiben. Jede meiner Regungen wurde von ihm aufmerksam verfolgt, bewertet und in einem kleinen schwarzen Büchlein notiert.

In dieser Nacht fanden wir beide fast keinen Schlaf. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich aber am nächsten Morgen frisch und erholt. Albert rieb sich bei meinem Anblick die Augen, pfiff leise durch die Zähne und ergänzte seine Notizen mit dem Eintrag »optisch minus fünf«. Mindestens. Ich hatte einen gewaltigen Appetit und nötigte ihn dazu mich bereits in aller Frühe zum Frühstück an den Familientisch im Stammhaus zu begleiten. Dort machte ich mich über mehrere Rühreier mit Speck und einer ganzen Wurstplatte her, während mein Freund nur müde in seiner Kaffeetasse rührte, an einem Rosinenbrötchen nagte und mich mit geröteten Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, beobachtete. Die allmählich eintreffenden Mitglieder meiner Familie wunderten sich ein wenig über uns. Besonders meine Mutter war sofort argwöhnisch. Sie kannte mich als notorischen Morgenmuffel. Während sie noch damit beschäftigt war, mein für sie seltsames Verhalten zu untersuchen, wurde plötzlich die Tür des Salons aufgestoßen und meine Großmutter stürmte in den Raum. »Meine Lieben! Seht mich an! Es ist ein Wunder geschehen!«

Einige Sekunden herrschte absolutes Schweigen am Tisch. Vollkommene Stille. Mutters Kaffeelöffel fiel klirrend zu Boden und Albert riss wieder seine Augen auf und griff sich an die Brust. Ich fürchtete schon, er würde erneut in Ohnmacht fallen. Erst als Tonis kleiner Sohn mit einem Jauchzer von seinem Stühlchen kletterte und auf seinen kurzen Beinen auf seine Ur-Oma zu stürmte, löste sich die allgemeine Erstarrung. Vater sprang ebenfalls auf und half unserem ältesten Familienmitglied an der Frühstückstafel Platz zu nehmen. Die alte Dame schien, genau wie ich, einen ungeheuren Appetit zu haben und verlangte nach Eiern Benedict mit Rosmarin und Sauce Hollandaise, frischem Orangensaft und einem großen Milchkaffee. Alle waren aufgesprungen, lachten und plapperten fröhlich durcheinander. Jeder wollte sie anfassen. Denn Großmutter sah um Jahre jünger aus. Albert notierte in einem zweiten Notizbuch mit cremefarbenem Einband »ebenfalls minus fünf. Mindestens.« Ihr graues Haar hatte zwar nicht über Nacht seine ursprüngliche Farbe zurück gewonnen, dennoch wirkte es gesund und kräftig. Kein Vergleich zu den schütteren wirren Strähnchen vom Vortag. Ihre Augen strahlten. Die fortschreitende Katarakt war verschwunden. Ihre Haut schien frisch und rosig und ihre rheumatischen Gelenkschmerzen verschwunden. Sie berichtete von ihrem Erwachen und dem ersten Blick in den Spiegel. Sie glaubte zu träumen oder aus einem bösen Traum erwacht zu sein, in dem sie alt und schwach war und im Sterben lag. Der Anblick ihres Bettes und der umstehenden medizinischen Geräte belehrte sie aber eines Besseren. Es war ein Wunder an ihr geschehen. Davon war sie überzeugt. Sie war überglücklich und die Familie freute sich mit ihr. Nur eine Person am Tisch schien nicht so recht an das Wunder zu glauben, sondern hatte sofort einen anderen Verdacht.

»Was um Himmels Willen habt ihr getan?« zischte meine Mutter Albert und mir zu. Ihre Augen waren dabei fast schwarz und zu schmalen Schlitzen verengt. Albert ließ seine Kaffeetasse und deren Inhalt nicht aus den Augen. Statt einer Ohnmacht hatte er sich diesmal für die Salzsäule entschieden. Mutters Blick bohrte sich in mein Gesicht. Für gewöhnlich lasse ich mich von niemandem einschüchtern, aber in diesem Moment fühlte ich mich klein und hilflos. Ja, was hatte ich nur getan? Während ich mir auszurechnen versuchte, wie viele Haarnadeln und Perlen ich für Mutters Besänftigung wohl erwerben müsste, begann ich ihr leise in kurzen Worten vom Auftrag der Schildkröten und unserem Experiment zu berichten. »Mutter, mach dir keine Sorgen. Wir haben alles im Griff…«. Ihre Mimik wechselte zwischen Zorn, Besorgnis und Angst. Zwischendurch entfuhren ihr kurze spitze Schreie. »Um Gottes Willen« und »Ach du liebe Zeit«. Einmal schlug sie ihre flache Hand auf die Tischplatte. Alle Augenpaare blickten auf uns. Am Ende tupfte sie sich mit ihrer Serviette die Augen, seufzte tief, legte ihre Hand auf meinen Arm und berief einen sofortigen Familienrat ein. »Wir müssen auf der Stelle reden.«

Erneut musste ich von den Geschehnissen berichten. Diesmal aber mit lauter Stimme und in aller Ausführlichkeit. Von unseren fortgeschrittenen Forschungen, den besorgten Schildkröten, unserem verzweifelten Eingreifen, meinem Selbstversuch und den doch so offensichtlich positiven Ergebnissen. Meine Familie war entsetzt. Wissenschaftliche Experimente an zwei Familienmitgliedern. Ohne vorherige Abstimmung und Genehmigung durch den Rat oder des Familienoberhauptes. Ein Affront gegen sämtliche ungeschriebene Gesetze und Regulierungen. Vaters Mund wurde zu einem schmalen Strich in seinem Gesicht. Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich kühne Falten. Das sah nicht gut aus. Er war besorgt.

Albert war neben mir bereits gleich zu Anfang dieser Anhörung zu einem Häufchen Elend zusammen gesunken. Seine Salzsäulenpose hielt weiter an. Erst als mein Vater direkt das Wort an ihn richtete, schreckte er auf und kam zu sich. Auf seine Arbeit angesprochen, erwachte endlich wieder der Wissenschaftler in ihm zum Leben. Er erhob sich und erklärte mit wenigen Gesten und für alle gut verständlich die Möglichkeiten des Wirkstoffes, den wir aus den Genen der Schildkröten extrahiert hatten. »Sehen Sie, meine Damen und Herren. Zusammenfassend ist zu sagen: Das Potential von G.O.D. 08-15 ist gigantisch. Zweifelsohne. Es gilt aber zunächst die Wirkung des Mittels beim einzelnen Individuum genauestens zu beobachten. Hier sind meiner Meinung nach ganz unterschiedliche Reaktionen zu erwarten. Ich gehe aber davon aus, dass das Serum die Zellpolarität und damit die Teilungs- und Regenerationsfähigkeit der Stammzellen wieder herstellen kann. Stellen Sie sich vor: so können degenerative Erkrankungen gestoppt werden. Im besten Falle kann sogar der Alterungsprozess völlig umgekehrt werden. Das ist bahnbrechend! Bahn-brech-end! Und seien sie unbesorgt: Ein Mittel, das diesen möglichen Verjüngungsprozess wieder stoppen kann, steht bereits kurz vor Vollendung. Es wird zukünftig möglich sein, den Körper in jedem gewünschten Alter zu erhalten oder in jedes beliebige Alter zurückzuführen.« Bis das Medikament auf den Markt gebracht werden könnte, müsste es aber noch ein langwieriges Zulassungsverfahren durchlaufen, was vermutlich keiner von uns ohne die heimliche Verwendung des Mittels noch erleben würde.

Seine letzten Ausführungen gingen bereits in einem Jubelschrei unter. Großmutter hatte begeistert die Arme in die Luft gerissen. Sie klatschte in die Hände und verkündete den Wunsch wieder 50 Jahre alt sein zu wollen. Wir sollten gar nicht erst versuchen, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen – sie würde sich von ihrem Entschluss nicht mehr abbringen lassen. Ihre 50er seien die glücklichsten Jahre ihres Lebens gewesen.

Das Entsetzen meiner Familie war während Alberts Ausführungen zunächst ehrfürchtigem Schweigen und dann bewunderndem Gemurmel gewichen und nach Großmutters Begeisterungsausbruch war die Stimmung am Tisch endgültig gelöst. Die Zuhörer waren nicht mehr zu halten. Meine Cousinen plapperten aufgeregt durcheinander. Vaters Mund nahm wieder seine gewohnte Form an und Mutter tupfte sich mit einer Serviette die letzten Tränen ab. Und doch war allen dabei klar, was dies für uns bedeutete: In aller erster Linie ein weiteres großes Familiengeheimnis. Niemand sonst durfte davon erfahren. Wir alle wollten schließlich weiterhin in Ruhe unseren Geschäften nachgehen. Genau jenen Geschäften, von denen wir uns offiziell bereits vor Jahren zurückgezogen hatten.

Während das aus den Schildkröten gewonnene Serum weiter seine Wirkung entfalten würde, sollten unsere Seniorin und ich daher erst einmal untertauchen. Wir wurden dazu angehalten, uns unbedingt im Haus versteckt zu halten. Meine Geschäftstermine wurden abgesagt. Ohne Diskussion. Niemand außerhalb des Familienkreises durfte über unseren wahren Zustand informiert werden. Sogar Melody durfte nicht eingeweiht werden. Sie würde früh genug von den Veränderungen an mir erfahren. Mutter meinte es wäre besser sie nicht unnötig zu beunruhigen. Sie müsste sich sicherlich auf ihre unheimlich anstrengenden Auftritte konzentrieren. Ich hatte dabei zum ersten Mal den Eindruck, dass sie Melody nicht besonders schätzte. Vielleicht wäre es besser gewesen in die diesem Falle nicht auf Mutter und den Rat zu hören. Vielleicht würde Melody dann noch leben. Manchmal quäle ich mich im Nachhinein mit derlei Überlegungen. Das betrifft auch die einzige Ausnahme, die damals vom Rat gestattet wurde. Der langjährige Hausarzt. Er durfte bei seiner täglichen Visite ebenfalls ins Bild gesetzt werden. Und diese Entscheidung war auf jeden Fall ein Fehler, wie sich kurz darauf herausstellte. Der Schock war zu viel für sein altes Herz.

Im Familienrat einigten wir uns darauf Großmutters »Verschwinden« damit zu erklären, dass es der ausdrückliche Wunsch der alten Dame gewesen sei, zur Familie ihres Enkels nach Südamerika zu ziehen. Sie wünschte dort ihr Lebensende zu verbringen und wollte dort auch ihre letzte Ruhe finden. Aus gesundheitlichen Gründen war der Umzug ganz überstürzt und über Nacht erfolgt. Man war in Sorge gewesen, ihr diesen Wunsch sonst nicht mehr erfüllen zu können. Das Pflegepersonal war somit nicht mehr nötig und wurde noch am selben Tag entlassen. Cousin Toni zeigte sich damals großzügig. Er stellte den überraschten Ex-Angestellten, die ahnungslos zum Dienstantritt erschienen waren, eine Stellung als Schildkrötenpfleger in Aussicht. Hierfür setzte er lediglich eine entsprechende Umschulung voraus, deren Kosten wir gerne übernommen hätten. Die so Beglückten zeigten sich aber wenig begeistert und verließen nach einer höflichen Verabschiedung unser Refugium. Daher war auch niemand mehr anwesend, der das Herz unseres alten Hausarztes wieder hätte in Schwung bringen können. Er verstarb im Kreise unserer Familie auf einem der Seidenteppiche im großen Salon. Traurig und in dieser Situation für uns alle äußerst unpassend. Cousin Toni kümmerte sich daher darum, dass sein Leichnam wenig später am Steuer seines Wagens im Straßengraben gefunden wurde. Ein weiteres Opfer dieser Vertuschungsaktion wurde kurze Zeit später eine angeblich beteiligte Pappel. Die Witwe des Doktors sah alleine in ihr die Schuld am Tod ihres Gatten und lies sie nur Tage später fällen.

Albert selbst war ohne weitere Fragen zurück in sein Labor entlassen worden, um das so wortreich beschriebene Medikament zur Beendung des Verjüngungsprozesses zu vollenden. Es sollte uns umgehend zur Verfügung gestellt werden. Ich war nach seinem Vortrag vor der Familie beunruhigt. Mir persönlich graute davor, wieder ganz jung zu sein. Ich erinnere mich nur ungern an meine Kindheit und Schulzeit. Mein Leben hatte doch eigentlich erst an meinem dreißigsten Geburtstag begonnen richtig Spaß zu machen.

Es war entsetzlich. Ich fühlte mich von Tag zu Tag frischer. Tatsächlich. Ich wurde jünger! Da mein eigentliches Ziel ja nicht wie bei Großmutter in einer massiven Verjüngung, sondern lediglich in der Unterbindung meines Alterungsprozesses lag, war ich mehr als erleichtert, als Albert das ergänzende Präparat tatsächlich wie versprochen in kurzer Zeit fertig stellen konnte. Ich kann nicht leugnen, dass ich froh darüber war, wie sich meine Haut in den wenigen Tagen verändert hatte: Meine Nasolabialfalte und die störenden Augenringe waren völlig verschwunden und kein einziges graues Haar störte mehr meinen Schopf. Sogar meine Nackenschmerzen waren wie weggeblasen und die Haut auf meinen Handrücken war glatt wie ein Bettlaken. Aber jung. Richtig jung wollte ich auf gar keinen Fall wieder werden. Was in jener Kanüle enthalten war, interessierte mich nicht. Ich lies Albert gewähren. Mit geschlossenen Augen ertrug ich den Schmerz, den die Nadel beim Einstich in meine Haut auslöste. Er war schnell verschwunden.

Frisch erholt nahm ich meine Arbeit wieder auf und berichtete meinen erstaunten Geschäftspartnern von einem Kuraufenthalt. Großmutter hingegen weigerte sich, dieses Zusatzpräparat einzunehmen. Sie schloss sich im Badezimmer ein und beobachtete zwischen Marmorplatten und goldenen Wasserhähnen die Rückkehr ihrer Jugend. Ihr unmäßiger Appetit vom Frühstück hielt weiterhin an. Ihr Hunger und unser gutes Zureden trieb sie schließlich dazu, sich durch das Oberlicht der Badezimmertür stärkende Delikatessen reichen zu lassen. Unsere Köche waren Tag und Nacht beschäftigt. Sie war fast unersättlich. Ihr Geschmack blieb dabei erlesen. Zwischendurch schien sie für einige Stunden zu schlafen. Kaum wieder erwacht, betrachtete sie sich hörbar im Spiegel. Dann stieß sie spitze Schreie aus und klang überglücklich. Sie verlangte nach Kleidern. Zuerst nach ihren alten Lieblingskleidern. Dann nach Mutters. Dann nach Mode-Magazinen. Es würde nichts mehr passen. Behauptete sie. Nur sie konnte die Veränderung an ihrem Körper verfolgen. Die gesamte Familie war ausgesperrt und spekulierte darüber, was hinter dieser Tür vor sich ging. Keiner von uns wusste wie lange und wie stark das Schildkrötenserum wirken würde. Die Axt, die Cousin Toni nach wenigen Stunden bereitgestellt hatte, blieb jedoch unbenutzt.

Als sie nach 14 Tagen endlich wieder ihr selbst gewähltes Gefängnis verlassen hatte, war sie fast nicht wieder zu erkennen. Oder eigentlich doch. Wir alle kannten schließlich die alten Fotos von ihr, die im gesamten Anwesen zu finden waren. Ihre ursprüngliche Haarfarbe war tatsächlich zurückgekehrt. Ihre Haut war glatt, rosig und strahlte mit ihren Augen um die Wette. Rank und schlank stand sie vor uns. Sie hatte tatsächlich ihr Wunschziel erreicht. Optisch, körperlich und geistig schien sie wieder in ihren Fünfzigern angekommen zu sein. Mit der Lebenserfahrung einer knapp Neunzigjährigen. Albert stellte später fest, dass ihr biologisches Alter damals ganz genau bei 49 Jahren lag. Sie war in den wenigen Tagen um 40 Jahre verjüngt worden. Ein unfassbares Resultat!

Unsere nun so verjüngte Großmutter stellten wir in der Öffentlichkeit als Tante Anna vor – eine neu entdeckte Halbschwester meiner Mutter, die bisher im Ausland gelebt hatte und nun in unseren Familienkreis aufgenommen worden war. Auch dies war ein Einfall von Cousin Toni und ein offizieller Beschluss in unserem Familienrat gewesen, an den es sich zwingend zu halten galt.

Albert und ich waren stolz auf dieses Ergebnis. Durch die Kombination aus dem verjüngenden Schildkrötenserum und dem Blocker, der den Verjüngungs-Prozess unterbindet, hatten wir eine einzigartige Medikamententherapie zum individuellen Anti-Aging entwickelt. Davon waren wir zu diesem Zeitpunkt bereits felsenfest überzeugt. Wenn es uns irgendwann einmal gelingt, dafür eine Zulassung für den internationalen Medikamentenmarkt zu bekommen, möchte ich unser Serum unter dem Namen Mr. T – R.S.Y.L. also »Re-Start-your-Life« vertreiben. Vielleicht sollte ich aber über den Namen noch etwas länger nachdenken. Mr. T finde ich aber bereits hervorragend. Darauf lässt sich aufbauen.

Während innerhalb der Familie noch lange diskutiert wurde, wer dieses Medikament nutzen wollte und ab welchem Zeitpunkt oder Alter dies sinnvoll wäre, waren die Schildkröten einfach nur begeistert. Ich spürte, dass einige von ihnen sehr interessiert daran waren, es mir oder Großmutter gleichzutun. Sie wollten ebenfalls das Serum injiziert bekommen. Meine verschwundenen Augenringe und die wieder gewonnene Jugend der ehemaligen alten Dame waren dafür die besten Argumente. Harriet und Adwaitya schienen sofort Feuer und Flamme zu sein. Andere Tiere blieben von den Vorgängen dahingegen völlig unbeeindruckt. Die Veränderung wurde von ihnen regelrecht ignoriert. Obwohl »Tante Anna« nun jeden Tag mit federndem Schritt durch die Aufzuchtstation tänzelte, ließ es sich John F. Kennedy nicht nehmen, die verjüngte Freundin weiterhin täglich von der Veranda abzuholen und auch wieder zurückzubringen.


Die Diktatur der Schildkröte

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