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2.3 Die zeitliche Veränderung der Lebens- und Familienzyklen

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Eine wesentliche Veränderung für das Familienleben bedeutet das Immer-Älter-Werden der Menschen. Denn mit der Verlängerung des Lebensalters und durch die im gleichen Zeitraum gegebene Reduktion der Kinderzahl pro Familie war eine Veränderung der zeitlichen Strukturierung des individuellen Lebensverlaufs verbunden. Manche Wissenschaftler bestreiten sogar, dass es heute noch eine Standardisierung in der Abfolge von bestimmten Lebensphasen gäbe, die vor ca. 30 Jahren als „normal“ galt (z.B. Kohli 1986).

Verändert hat sich vor allem der Phasenablauf bis zur Familiengründung. Die Abfolge „Kennen lernen – Verlobung – Eheschließung – Geburt des Kindes“ ist durch die Entstehung neuer Lebensformen (Wohngemeinschaften, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, Alleinleben) und dem häufigen Wechseln zwischen ihnen durchbrochen worden. Mehr junge Menschen sammeln demzufolge heute vor ihrer Eheschließung Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Lebensformen. Doch nach der Eheschließung und der Geburt des ersten Kindes (oder heute zuweilen umgekehrt: nach der Geburt des Kindes und der Eheschließung) ist der Lebensablauf (trotz der hohen Scheidungsquoten von ca. ⅓ einer Eheschließungskohorte) für ⅔ der Verheirateten gleich geblieben: Heirat/Geburt des ersten Kindes – Familienphase – nachelterliche Phase – Tod des Ehemannes/Verwitwung – Tod der Ehefrau. Die einzelnen Zyklen haben sich allerdings in ihrer Länge verschoben. Zeitlich ausgedehnt hat sich vor allem die nachelterliche Phase. Noch nie in unserer Geschichte gab es so viele Ehepaare, die ihre Goldene Hochzeit gemeinsam feiern können wie heute. Ferner haben noch nie so viele Urgroßeltern bzw. vor allem Urgroßmütter ihre Urenkel erlebt. Dieses sind historisch völlig neue Phänomene.

Abbildung 2: Veränderungen der Familienphasen seit 1949/1950


Dagegen hat sich die eigentliche Familienphase, d.h. die Zeit der Pflege und Versorgung von Kindern – trotz des längeren Verbleibens der Jugendlichen im Elternhaus – verkürzt, was – wie gesagt – auf die geringere Kinderzahl pro Familie und auf die höhere Lebenserwartung der Menschen zurückzuführen ist. Das Auszugsalter der Jugendlichen variiert geschlechtsspezifisch: Im Jahr 2015 wohnten noch 34,5 % aller 25-jährigen Männer und 21,9 % aller gleichaltrigen Frauen in Deutschland als lediges Kind im Haushalt der Eltern (Grünheid 2017: 2ff.). Dennoch beträgt bei der Mehrzahl der Eltern die Phase des Zusammenlebens und Wohnen mit ihren Kindern nur ca. ¼ ihrers gesamten Lebenszeit, vor 100 Jahren betrug ihr Anteil noch mehr als die Hälfte. Dieser Sachverhalt hat insbesondere das Leben der Frauen verändert. Eine normative Festschreibung der Frauen auf ihre Mutter-Rolle würde heutzutage bedeuten, dass sie ¼ ihres Lebens in der Erwartung auf das „eigentliche Leben“ (= Familienphase) und ca. ihres Lebens im Bewusstsein, dass das „eigentliche Leben“ vorbei sei, verbringen würden.

Die zeitliche Reduktion der Lebensphase, in der Eltern mit ihren Kindern eine Haushaltsgemeinschaft bilden, hat aber ferner zur Folge gehabt, dass von allen bestehenden Haushalten in der Bundesrepublik Deutschland nur 23 % Familienhaushalte im traditionellen Sinn sind. Sie sind also – bei einer querschnittsmäßigen Betrachtung – in eine Minoritätenstellung gedrängt worden. Das uns in Werbespots suggerierte Bild, dass unsere Gesellschaft hauptsächlich aus Haushalten von Vater und Mutter mit Kindern (aus sog. Kernfamilien) zusammengesetzt sei, stimmt also mit der sozialen Realität überhaupt nicht mehr überein. Selbst bei Addition aller verschiedenen Familienformen sind die Familienhaushalte im Sinne der Eltern – oder Vater-/Mutter-Kind-Einheit – durch die Zunahme vor allem der Ein-Personen-Haushalte, der kinderlosen Ehen und der Nichtehelichen Lebensgemeinschaften ohne Kinder o.a.m. – querschnittsmäßig betrachtet – nicht mehr quantitativ die dominante Lebensform in unserer Gesellschaft (nämlich 28 %; Stat. jahrbuch 2013: 51). Weniger als ein Drittel aller Haushalte sind Familienhaushalte (Stat. Jahrbuch 2017: 56).

Im Hinblick auf den Lebenslauf des Einzelnen jedoch – also bei einer Längsschnittbetrachtung – ist die weit überwiegende Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung dennoch zweimal in ihrem Leben in einer traditionellen Eltern-Familie eingebunden: als Kind und als Erwachsener. Doch: „in Familie leben“ (d.h. hier: das Zusammenleben mit Kindern) ist stärker als je zuvor zu einer transitorischen Lebensphase geworden.

Neben der – wie erwähnt – nur geringfügig quantitativ angestiegenen Variabilität von Familienformen während der letzten Jahrzehnte sind es also vor allem die unterschiedlichsten Lebens- und Haushaltsformen ohne Kinder, die zugenommen haben, weil sich das Leben verlängert und sich die Familienphase durch die geringere Kinderzahl pro Familie verkürzt hat. Auf diese kinderlosen Lebensformen kann sich also realiter nur die Pluralitätsthese beziehen; in Bezug auf die Familienformen verweist sie – bisher jedenfalls noch – überwiegend lediglich auf Optionen.

In der Forschung (und in der Öffentlichkeit) hat die Frage nach der Pluralität familialer Lebensformen diejenige nach dem Wandel des familialen Alltags und der innerfamilialen Beziehungen fast in den Hintergrund gedrängt, obwohl diese Veränderungen viel gravierender waren. Vor allem bedeutet „Kindheit“ heute etwas völlig anderes als noch vor 40 Jahren, schon allein wegen der geringeren Kinderzahl in der Familie, weshalb im folgenden Kapitel auf diesen Wandel ausführlich eingegangen werden soll.

1 Der Begriff „Reproduktion“ umfasst nicht nur die Geburt von Kindern, sondern auch die Bildung, Erhaltung, evtl. die Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit aller Familienmitglieder durch Ernährung, Pflege usw. Die Erhaltung der psychischen Gesundheit ist Teil der Sozialisationsfunktion. Die Geburt ist immer auch gleichzeitig eine biologisch bedingte Familiengründung bzw. -erweiterung. Eine solche Konstellation kann sich sofort oder später auflösen; und es entsteht eine neue Kernfamilie mit sozialer Vater- oder Mutterschaft, z.B. durch Adoption.

2 Der leichte Anstieg in den letzten Jahren ist vor allem auf die „starken“ Geburtsjahrgänge zurückzuführen (Kinder der „Babyboomer-Generation“).

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