Читать книгу Schweigen, wenn alles in dir schreit - Rosemarie Ruppen - Страница 7

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Aufgewachsen war Sarah behütet in ihrem Elternhaus, zusammen mit ihren drei Schwestern und ihrem Bruder. Die Ferien verbrachte sie oft bei den Großeltern, den Eltern ihrer Mutter. Sie liebte ihre Großmutter über alles. Ihre Geschichten faszinierten sie immer wieder. Besonders die Geschichte vom kleinen bunten Schmetterling … Ihr Großvater nannte sie immer meine „Kleine“. Er verwöhnte Sarah, wo er nur konnte. Mit ihrem Onkel hatte sie es immer lustig. Er war für sie wie ein großer Bruder. Neben dem Haus der Großeltern stand ein großer Kirschbaum.

Im Frühling war der Baum voll mit großen, roten Kirschen. Ihr Onkel hielt ihr die Zweige runter. So konnte sie die süßen Kirschen pflücken und essen. „Warum isst du keine Kirschen?“, fragte sie einmal ihren Onkel. Schmunzelnd sagte er zu Sarah: „Weil da kleine Würmchen drin sind.“ „Nein …“, rief sie und spuckte die Kirschen aus! Dann öffnete sie ein paar von den roten Kirschen. Doch von Würmchen war nichts zu sehen. Sie aß die süßen Kirschen weiter. Ihr Onkel meinte dann: „Es war Spaß, ich mag keine Kirschen.“

Im Winter ging er mit Sarah oft schlitteln. An seiner Hand stampfte sie im Schnee die Wiese hoch. Neben ihrem großen Onkel kam sie sich klein vor. Oft nahm er sie auf den Rücken und trug sie hoch. Wenn sie nach dem Schlitteln ausgekühlt nach Hause kamen, hatte Sarahs Großmutter eine große Kanne Tee auf dem Kachelofen abgestellt. Sie und ihr Onkel schlürften den heißen Tee und wärmten sich die Hände an den heißen Tassen. Nur Großmutter konnte so guten süßen Tee kochen.


Schon als Kind konnte Sarah, in sich gekehrt, über längere Zeit an einem Ort sitzen. Sie liebte es, in der Nähe ihres Vaters zu sein. Sie schaute ihm oft bei seiner Arbeit zu. Freudig winkte sie im zu, wenn er sie erblickte. Einmal sah sie ihren Vater weinend am Tisch sitzen. Den traurigen Blick ihres Vaters konnte sie lange nicht vergessen. Ihre Mutter erklärte ihr: „Deine Großmutter ist heute gestorben. Für deinen Vater ist das sehr schwer. Er hat seine Mutter sehr geliebt.“ Auch Sarah vermisste ihre Großmutter. Sie war oft bei ihr auf Besuch. Mit großer Geduld hatte sie ihr beigebracht, wie sie ihre Schuhe selber binden kann. Dabei sah sie oft voller Mitleid auf die rauen, rissigen Hände.

Einmal fragte sie ihre Großmutter: „Tun dir denn deine Hände nicht weh?“ Zärtlich strich sie über Sarahs Gesicht und meint: „Nein, mein Kind die tun mir nicht weh. Weißt du, als dein Großvater, mein Mann gestorben war, musste ich oft hart arbeiten. Es war nicht immer einfach, doch meine Kinder waren das ‚Wichtigste‘ für mich. Meine rissigen Hände haben mich nie gestört und ich habe mich dafür nie geschämt.“

Sarah stand auf und setzte sich ihrer Großmutter auf den Schoss und fuhr ihr mit ihren kleinen Händen durch ihr graues Haar. Wenn das Wetter es nicht erlaubte, draußen zu spielen, war Sarah gerne in der Nähe ihrer Mutter. Wenn sie ihr Strickzeug in die Hände nahm, setzte sie sich nahe zu ihr. „Wenn ich größer bin, lernst du mich dann auch stricken?“, fragte sie ihre Mutter oft.

Sarah liebte die Natur, sie konnte sich an jeder kleinen Blume erfreuen. Oft brachte sie ihrer Mutter ein Blumensträußchen nach Hause. An einem wunderschönen Sommertag stand sie vor der großen Wiese, nahe ihrem Elternhaus. Sie konnte nicht widerstehen, lief los und setzte sich mitten in das meterhohe Gras. Sie schaute zum tiefblauen Himmel und dachte, ob ihre Großmutter sie wohl sehen könne. Ein kleiner Marienkäfer setzte sich auf ihr Knie. In Gedanken an ihre Großmutter versunken, sah sie den Bauer nicht auf das Feld zukommen. Plötzlich schreckte sie ein lautes Geschrei auf … „Was fällt dir ein, komm da sofort raus. Wenn ich dich hier noch einmal sehe, sperre ich dich in den Schweinestall.“

Sarah hoffte, dass ihre Eltern nicht von ihrem Abenteuer erfuhren, denn das würde bestimmt Hausarrest geben.

Genau richtig an einem regnerischen Tag, packte sie ihr Geburtstagsgeschenk aus. Sie jubelte vor Freude. Ein roter Regenschirm, wie sie sich schon lange gewünscht hatte. Sie holte ihre Jacke und nahm ihren Regenschirm. „Ich muss schauen, ob er den Regen aushält“, sagte sie freudestrahlend zu ihrer Mutter und verließ das Haus.

Ihre Mutter schaute ihr nach … sie freute sich mit ihrem Mädchen. Sarah blickte zurück und hielt begeistert ihren kleinen Daumen hoch. Sie vergaß sogar ihren Geburtstagskuchen, den sie mit ihren Geschwistern teilen wollte. Was für sie im Moment zählte, war ihr roter Regenschirm, mit dem sie stolz den Weg hochlief.

Sie klopfte bei ihrer besten Schulkameradin an. Ihre Mutter öffnete die Türe. „Ist Charlotte zu Hause, ich möchte ihr meinen neuen Schirm zeigen und sie zum Kuchen einladen?“ „Sicher, komm rein. Viel Glück auch von mir.“


Sarah ging gerne zu Schule. Das Lernen fiel ihr leicht. Ihre Lehrerin sagte oft zu ihr: „Du bist eine gute Schülerin, aber du bist eine Träumerin.“ Das störte sie allerdings gar nicht.

Ihr war noch nicht bewusst, dass Träume zerstört werden können! Jahre später, aus dem kleinen verträumten Mädchen war eine lebensfrohe, hübsche junge Frau geworden, wünschte sie sich oft die Zeit zurück. Gerne erinnerte sie sich an ihre behütete Kinderzeit in ihrem Elternhaus. Die Tage bei ihren Großeltern vermisste sie sehr.

Gut gelaunt kam sie auf ihr Elternhaus zu. Sie winkte ihrer Mutter am Fenster. Sie hatte den Nachmittag mit einer Kollegin verbracht. Sarah setzte sich zu ihrer Mutter und sah sie an. „Sag schon, was hast du auf dem Herzen?“ „Paula geht im Herbst in ein Mädchenpensionat. Meinst du, dass ich da auch hingehen könnte? Paulas Mutter meinte, wir könnten im Sommer arbeiten gehen. Sie hat eine Liste von Sommerjobs für junge Mädchen. So könnte ich einen Teil der Internatskosten selber bezahlen.“ Sarah sah ihre Mutter an. „Du sagst nichts?“ „Ich rede am Abend mit deinem Vater. Du weißt ja, dass du nach der obligatorischen Schulzeit arbeiten gehen solltest.“ Am Abend hörte sie ihre Eltern miteinander diskutieren und ahnte nichts Gutes. Sie lag noch lange wach, schlief dann mit dem Gedanken ein, dass sich bestimmt alles zum Guten wenden würde.

Als Sarah am Morgen, sie stand früh auf, in die Küche kam, saßen ihre Eltern am Tisch und tranken Kaffee. An ihren Gesichtern, besonders am traurigen Blick ihres Vaters entnahm sie, dass sie ihr keinen positiven Entscheid mitteilen würden. „Wir können uns dein Studium nicht leisten. Du musst die Grundschule fertig machen und dann arbeiten gehen. Es tut uns leid.“ Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihre Schultasche und verließ die Wohnung … An diesem Morgen spürte, ja wusste sie: ihre wohlbehütete, schöne Kinder- und Jugendzeit war vorbei!


Zwei Monate später: Sarah saß im Zug und Tränen verschleierten ihren Blick. Sie blickte aus dem Fenster. Der Zug fuhr vorbei an Wiesen, Bächen und Dörfern. Es überfiel sie eine unendliche Traurigkeit. Es war ein Einsteigen und Aussteigen, doch sie nahm es kaum wahr. Eine ihr gegenübersitzende ältere Frau schaute sie schon längere Zeit an. „Geht es dir nicht gut? Du bist noch jung und schaust so traurig aus.“ „Nein es geht mir nicht so gut“, sagte sie zaghaft. „Ich bin heute das erste Mal allein unterwegs.“ Beim Aussteigen sagte ihr die Frau: „Pass gut auf dich auf. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder. Wenn du magst, kannst du mich besuchen. Ich wohne hier im Dorf und heiße Helene Bircher.“ „Ich bin Sarah, danke für ihre Einladung.“

Sarah sah die junge Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Sie ging auf sie zu. „Sind sie Frau Müller?“ „Ja, ich bin Anna, so darfst du mich auch nennen. Das ist meine Tochter Lena. Und du bist Sarah. Meine Mutter hat mir von dir erzählt. Hattest du eine gute Reise?“ „Ja danke, das Elternhaus zu verlassen, fiel mir nicht leicht.“ Anna tat das junge Mädchen leid. „Ich nehme dir deinen Koffer ab, der ist bestimmt schwer. Du darfst Lena mit dem Kinderwagen schieben.“

Das kleine Mädchen lächelte Sarah an, als ob es ihr Mut machen wollte. Sie lächelte zurück und die „Kleine“ fing an zu strampeln und lustige Laute von sich zu geben. „Ein Herz hast du bereits für dich gewonnen“, meinte Anna. Auf dem Weg in ihr neues Zuhause erklärte ihr Anna, was es in dem großen Dorf alles zu sehen gab. „Hier ist die Schreinerei meines Vaters. Er beschäftigt dort acht Arbeiter. Zwei sind hier vom Dorf. Die restlichen Arbeiter kommen von auswärts. Sie wohnen in unserem Haus. Und hier ist unser Laden, da darfst du arbeiten. Ich hoffe, es wird dir gefallen. Wir schauen kurz hinein, so kannst du meine Mutter kennenlernen. Meine Mutter und ich teilen uns die Arbeit. Ab Morgen bist du unsere neue Mitarbeiterin“, sagte Anna freundlich.

Eine stämmige Frau kam auf sie zu und begrüßte sie. „Da bist du, ‚Willkommen‘ bei uns! Ich möchte, dass du mich wie alle anderen Angestellten mit Madam anredest.“ „Ja, das kann ich gerne“, sagte Sarah freundlich. „Sie scheint ein anständiges Mädchen zu sein“, flüsterte Madam ihrer Tochter zu.


Während die beiden Frauen sich unterhielten, streckte Lena ihre Ärmchen nach Sarah aus. „Darf ich sie aus dem Wagen nehmen?“, fragte sie zaghaft. „Ja klar, mach nur!“ Anna hoffte, dass die Kleine ihr den Start ins neue Leben ein wenig erleichterte. Weiter liefen sie durch das Dorf, bis sie zu einem großen weißen Haus kamen.

„Das wird ab heute dein neues Zuhause sein. Im ersten Stock wohnen meine Eltern. Im Parterre wohne ich mit meinem Mann und Lena. Rechts im angebauten Teil wohnen unsere Angestellten und dort ist auch dein Zimmer.“ Sie betraten das Haus und Anna zeigte Sarah das Zimmer. „Du kannst dich einrichten, ausruhen und eingewöhnen. Um sieben Uhr gibt es Nachtessen. Ich zeige dir noch das Esszimmer. Es wird auch als Aufenthaltsraum genutzt.“

Irgendwie tat Anna das Mädchen leid. Das erste Mal fern vom Elternhaus, in einer neuen Umgebung mit lauter fremden Menschen. „Sarah, wenn du etwas benötigst oder Sorgen hast, darfst du jederzeit zu mir kommen.“ Mit Tränen in den Augen bedankte sich Sarah. Anna nahm sie kurz in die Arme und drückte sie.

Sie ging in ihr Zimmer, packte den Koffer aus, legte sich aufs Bett und schlief ein. Aus Angst, was auf sie zukam, hatte sie die letzten Nächte kaum geschlafen. Durch ein Klopfen wurde sie wach und musste kurz überlegen, wo sie war.

Vor der Türe stand eine junge Frau. „Ich bin Katrin und wohne im Zimmer neben dir. Kommst du auch zum Essen? Übrigens, ich bin hier im Haus so Mädchen für alles, ich putze, wasche und helfe beim Kochen …“ Im Esszimmer angekommen, neugierige Blicke. „Du bist wohl die ‚Neue‘?“ „Ja die bin ich, ich heiße Sarah.“ Sie war froh, nach den Essen die ganze Belegschaft zu verlassen. Es waren ihr zu viele Fragen auf einmal. Mit einem „Gute Nacht“ verabschiedete sie sich und ging zurück in ihr Zimmer. Wenig später kam ihre Madam und fragte nach ihrem Befinden. „Ich habe deinen Eltern mitgeteilt, dass du gut angekommen bist.“ Sarah setzte sich an das kleine Tischlein. Sie schrieb ihren Eltern, wie sie es versprochen hatte, einen Brief.

Liebe Eltern, liebe Geschwister,

ich bin gut angekommen, und bin gerade von dem Nachtessen zurück. Jetzt bin ich in meinem kleinen Zimmer, meinem neue Zuhause! Die Leute haben mich freundlich empfangen, es geht mir gut, aber ich vermisse euch alle sehr. Mir wurde der neue Arbeitsplatz gezeigt, es ist ein großer Laden mit allerlei Angeboten. Kleider, Wolle, Kosmetikartikel und vieles mehr. Morgen ist mein erster Arbeitstag, und ich freue mich darauf. Ich versuche, mich hier einzuleben. Hoffe, dass es euch allen gut geht, der Abschied von euch fiel mir schwer. Am liebsten hätte ich im Zug losgeheult. Ich habe eine nette ältere Frau kenne gelernt, vielleicht gehe ich sie einmal besuchen. So, ich mache jetzt Schluss für heute, bis zum nächsten Mal.

Liebe herzliche Grüße an euch alle

Eure Tochter und Schwester Sarah

Sarah faltete den Brief zusammen und stecke ihn in den Umschlag. Das Briefpapier hatte sie von einer Schulkollegin zum Abschied geschenkt bekommen. Die Briefmarken hatten ihr die Eltern zugesteckt. Sarah eilte aus dem Haus. Ihr war beim Herkommen unweit vom Haus ein Briekasten aufgefallen. Sie warf den Brief ein. Als sie sich umdrehte, sah sie am Straßenrand gegenüber einen hübschen jungen Mann.

Er grüßte sie freundlich: „Dich habe ich hier noch nie gesehen.“ „Ich bin erst heute angekommen. Und was machst du hier, hat man dich versetzt?“ „Ich warte auf meine Freundin. Komm doch rüber, ich bin Elias.“ Sie ging kurz zu ihm. Als sie seine Freundin kommen sah, verabschiedete sie sich mit einem „Tschüss“. Der junge Mann mit den schönen blauen Augen ging Sarah nicht so richtig aus dem Kopf. „Blödsinn, er wartet auf seine Freundin“, dachte sie.

Schweigen, wenn alles in dir schreit

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