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Sechstes Kapitel

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„Möchtest du mit mir Abendessen, Melisande Bruno?“

Ich starrte ihn mit großen Augen an, weil ich davon überzeugt war, nicht richtig gehört zu haben. Er hatte mich stundenlang ignoriert, und die wenigen Male, die er sich dazu herabgelassen hatte, mit mir zu reden, war er unsympathisch und kalt.

Anfangs wollte ich ablehnen, weil ich über sein kindisches und sprunghaftes Verhalten verärgert war, aber dann hatte doch die Neugier gesiegt. Oder vielleicht war es die Hoffnung sein schräges, freundliches und einladendes Lächeln wiedersehen zu dürfen. Ganz egal, aus welchen Gründen auch immer, meine Antwort war: Ja.

Mrs. Mc Millian war von der Nachricht so geschockt, dass sie während der ganzen Zeit, in der sie uns das Abendessen servierte, keinen Ton von sich gab, was bei uns Beiden ein stilles Schmunzeln verursachte.

Mc Laine hatte sich entspannt und nicht mehr diesen strengen Ausdruck im Gesicht, den ich so zu fürchten gelernt hatte.

Unser gemeinsames Schweigen brachen wir erst als die Haushälterin aus dem Raum ging und uns alleine ließ.

„Wir haben es tatsächlich geschafft, dass es der guten Millicent die Stimme verschlagen hat... Ich glaube, damit sind wir rekordverdächtig“, bemerkte er mit einem Lachen, das bis ins Innerste meines Herzen drang.

„Definitiv“ stimmte ich zu. „Es ist ein wirklich ein titanisches Unterfangen. Ich dachte nicht, dass ich das je erleben würde.“

„Da hast du Recht.“ Er zwinkerte mir zu und griff nach einem Fleischspieß.

Das improvisierte Abendessen war informell, aber sehr lecker, und seine Gesellschaft das Einzige, das ich mir hätte wünschen können. Ich versprach mir, nicht das Geringste zu tun, um diese idyllische Atmosphäre zu ruinieren, aber dann fiel mir ein, dass das nicht nur von mir abhing. Mein Gegenüber hatte bereits mehrfach bewiesen, wie einfach es ist ihn, auch ohne ersichtlichen Grund, zu verärgern.

In diesem Moment lächelte er, und ich verspürte einen Stich bei dem Gedanken, nicht die genaue Farbe seiner Augen und seiner Haare zu kennen.

„Und, Melisande Bruno, gefällt Dir Midnight Rose?“

Mir gefällst du, vor allem, wenn du so unbeschwert und in Frieden mit dir und der Welt bist.

Laut sagte ich: „Wem würde es nicht gefallen? Es ist ein Stückchen Paradies, weit weg von Hektik, Stress, Alltagsroutine.“

Er hörte auf zu essen, als ob er sich mit meiner Stimme als Nahrung begnügte. Und auch ich begann etwas langsamer zu kauen, um ja nicht den Zauber, der zerbrechlicher als Glas und schwereloser als ein Blatt im Herbstwind war, zu zerstören.

„Für jemanden, der aus London kommt, muss es wohl so sein“, räumte er ein. „Bist du viel gereist?“

Ich führte das Weinglas zum Mund, bevor ich antwortete. „Weniger als mir lieb ist. Aber ich habe eines erkannt: die Welt entdeckt man in den kleinen Ecken, Falten und Furchen, nicht in den großen Städten.“

„Deine Weisheit steht deiner Schönheit in nichts nach“, sagte er ernst. „Und was entdeckst du in diesem sonderbaren schottischen Dorf?“

„Das Dorf habe ich noch nicht gesehen“, erinnerte ich ihn ohne Groll. „Aber Midnight Rose ist ein interessanter Ort. Es kommt mir vor, als ob man hier die Welt anhalten kann, und die Zukunft nicht vermisst.“

Er hörte meinen Worten kopfschüttelnd zu. „Du hast das Wesen dieses Hauses in so wenig Zeit erfasst... Ich habe es bis heute noch nicht geschafft... .“

Ich antwortete nicht, die Furcht die soeben wiedereroberte Intimität zu zerstören, lähmte meine Zunge.

Er schaute mich aufmerksam an, so wie er es oft tat, so als ob ich ein Forschungsobjekt auf dem Glasträger und er das Mikroskop wäre. Die nächste Frage war wohl überlegt, aber explosiv und Vorbote einer drohenden Katastrophe.

„Hast du Familie, Melisande Bruno? Leben deine Angehörigen noch?“

Es schien nicht eine Frage zu sein, die einfach nur so gestellt wurde. Sie beherbergte ein brennendes und echtes Interesse.

Ich überspielte mein Zögern, indem ich noch einen Schluck Wein trank, und in der Zwischenzeit überlegte ich mir die Antwort. Wenn ich erzählen würde, dass meine Schwester und mein Vater noch am Leben sind, hätte dies eine Lawine unangenehmer Fragen losgetreten, denen ich mich im Moment nicht stellen wollte. Ich war realistisch: diese Einladung zum Abendessen hatte er nur ausgesprochen, weil er sich an diesem Abend langweilte und er etwas Abwechslung suchte. Und ich, die noch unbekannte Sekretärin, erfüllte diesen Zweck in geradezu idealer Weise. Es würde ein kein weiteres Abendessen geben. Ich entschied mich für die Unwahrheit, denn sie war leichter und nicht so kompliziert.

„Ich bin allein auf der Welt“. Erst als meine Stimme erlosch, wurde mir klar, dass das nicht einmal gelogen war. In meiner Absicht war es eine Lüge, aber wenn man es genau betrachtete, eben doch nicht.

Ich war allein, egal was auch passierte. Ich konnte auf niemanden zählen, außer auf mich selbst. Unter dieser Tatsache litt ich so sehr, dass ich beinahe den Verstand verloren hatte, aber dann habe ich mich daran gewöhnt. Es war absurd, traurig, schmerzhaft, aber wahr.

Ich hatte mich daran gewöhnt, nicht geliebt zu werden. Unverstanden zu sein. Einsam.

Absurderweise schien er über meine Antwort erfreut zu sein, so als ob es die richtige war. Die richtige für was, hätte ich nicht sagen können.

Er hob das halbleere Weinglas und prostete mir zu.

„Auf was?“ frage ich ihn und erwiderte seine Geste.

„Auf dass du weiterhin träumen kannst, Melisande Bruno. Und dass deine Träume wahr werden.“

Seine Augen lächelten mir über das Glas hinweg zu.

Ich gab es auf, ihn verstehen zu wollen. Sebastian Mc Laine war ein lebendiges Rätsel, und sein Charisma, seine animalische Anziehungskraft reichten als Antwort aus.

In dieser Nacht träumte ich zum zweiten Mal. Die Szene war identisch mit der vorherigen: Ich im Nachthemd, er am Fußende meines Bettes in dunkler Kleidung, vom Rollstuhl keine Spur.

Er streckte mir seine Hand entgegen, ein Lächeln hob seine Mundwinkel. „Tanz mit mir, Melisande“.

Sein Ton war sanft, süß, geschmeidig wie Seide. Es war eine Aufforderung, kein Befehl. Und seine Augen ... Zum ersten Mal hatten sie einen bittenden Blick.

„Träume ich?“ Ich dachte, ich hätte das nur gedacht, stattdessen hatte ich es tatsächlich gefragt.

„Nur, wenn du möchtest, dass es ein Traum ist. Andernfalls ist es Realität“, sagte er kategorisch.

„Aber Sie können gehen ...“

„Im Traum ist alles möglich“, sagte er und führte mich in einen Walzer, genau wie beim ersten Mal.

Eine Woge der Wut erfasste mich. Warum waren in MEINEM Traum die Alpträume anderer Leute nichtig, während mein eigener fortbestand und zwar in seiner heftigsten Vollkommenheit? Es war MEIN Traum, aber er ließ sich nicht zähmen und auch nicht abschwächen. Seine Eigenständigkeit war bizarr und irritierend.

Und mit einem Mal hörte ich auf zu denken, es war als ob es wichtiger war in seinen Armen zu versinken, anstatt mich über meine persönlichen Dramen zu ereifern. Er war unverschämt schön, und ich fühlte mich geehrt, dass ich ihn in meinen Träumen haben durfte.

Wir tanzten für eine lange Zeit, im Takt mit einer nicht vorhandenen Musik, unsere Körper in perfekter Harmonie.

„Ich dachte schon, dass ich nicht mehr träumen würde“, sagte ich und strich mit meiner Hand über seine Wange. Sie war glatt, heiß, fast glühend.

Seine Hand nahm meine und unsere Finger verflochten sich. „Auch ich dachte, dass du nicht mehr träumen würdest.“

„Du siehst so echt aus...“, flüsterte ich. „Aber du bist ein Traum ... Du bist zu sanft um etwas anderes zu sein ...“

Er lachte amüsiert und zog mich fester an sich.

„Bist du böse auf mich?“

Ich sah ihn schmollend an. „Manchmal würde ich dir gerne eine reinhauen.“

Er schien nicht beleidigt zu sein, eher zufrieden mit dieser Antwort. „Das mache ich absichtlich. Ich liebe es, dich zu necken.“

„Warum?“

„So ist es leichter, dich auf Abstand zu halten“.

Der schrille Ton der Pendeluhr drängte sich in den Traum und entfachte eine Unzufriedenheit in mir. Denn er begann erneut sich zurückzuziehen. Wie wenn es ein Signal dafür gewesen wäre.

„Bleib bei mir“, bat ich ihn.

„Ich kann nicht.“

„Es ist mein Traum und da entscheide ich“, erwiderte ich beleidigt.

Er streckte seine Hand aus, um mit einer federleichten Bewegung liebevoll über mein Haar zu streichen.

„Die Träume verflüchtigen sich, Melisande. Wir verhelfen ihnen zum Leben, aber sie sind nicht ganz unser Eigen. Sie haben ihren eigenen Willen, und entscheiden, wann sie zu einem Ende kommen.“

Ich trotzte wie ein Kind. „Das gefällt mir nicht.“

Über sein Gesicht huschte ein Anflug einer ungewöhnlichen Schwere. „Das gefällt niemandem, aber die Welt ist die Ungerechtigkeit par excellence.“

Ich habe versucht mich an den Traum zu klammern, aber meine Arme waren zu schwach, und mein Schrei war nur ein Flüstern. Er verschwand so schnell wie beim ersten Mal. Ich fand mich wieder, mit offenen Augen und einem ohrenbetäubenden Lärm, den ich mit Bestürzung als meinen eigenen unregelmäßigen Herzschlag wiedererkannte. Selbst mein Herz machte, was es wollte, es war als ob mir gar nichts mehr angehörte. Ich hatte keinen einzigen Teil meines Körpers mehr unter Kontrolle.

Was mich jedoch am meisten bestürzte war, dass selbst mein Geist und meine Gefühle außer Kontrolle geraten waren.

Der Brief kam an diesem Morgen an, und hatte die gleiche zerstörerische Wirkung eines Steins, den man in einen ruhenden Teich wirft. Sein Fall endet an einem bestimmten Punkt, aber seine Auswirkungen sind noch lange durch konzentrische immer größer werdende Kreise sichtbar.

Meine Stimmung war bestens und ich begann den Tag, indem ich eine Melodie vor mich hin summte. Das war nicht wirklich ich.

Mrs. Mc Millian servierte das Frühstück in religiöser Stille, und war äußerst damit beschäftigt so zu tun, als ob sie es kein bisschen interessieren würde, was bei unserem Essen am Abend zuvor geschehen war.

Ich beschloss, nicht erst lange um den heißen Brei herumzureden. Ich wollte jegliche Zweifel klären, bevor sie sich ihre eigenen Gewissheiten schaffen würde, die meinem Ruf und vielleicht auch dem von Herrn Mc Laine schädlich sein könnten. Jede sentimentale Hoffnung, die ich ihm gegenüber hegte, war ausschließlich ein Produkt meiner Träume, und ich durfte mich nicht deren verblassenden Herrlichkeit hingeben.

“Mrs. Mc Millian ...”

“Ja, Miss Bruno?“ Sie bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und stellte die Frage, ohne aufzublicken.

„Mr. Mc Laine fühlte sich letzte Nacht einsam, und bat mich, ihm Gesellschaft zu leisten. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er sicher Sie gefragt, oder Kyle“, sagte ich mit fester Stimme.

Sie rückte ihre Brille zurecht und nickte. „Natürlich, Miss. Ich hätte nie etwas Schlechtes dabei gedacht. Es ist ganz offensichtlich, dass das nicht häufiger vorkommt.“

Die Überzeugung in ihren Worten ließ mich erschauern, obwohl ihre Aussage sicherlich Sinn machte. Alles in allem, war auch ich davon überzeugt. Es gab keinen Grund zu hoffen, dass der begehrteste Junggeselle in der Region sich in mich verliebt. Er saß im Rollstuhl, er war nicht blind. Meine Welt in schwarz und weiß war der andauernde lebende Beweis meines Andersseins. Ich konnte mir nicht den Luxus erlauben, das zu vergessen.

Niemals. Oder sie wäre in tausende Bruchstücke zerborsten.

Ich ging die Treppe wie an jedem anderen Tag hinauf. Ich fühlte mich unruhig, trotz der Ruhe, die ich zur Schau trug.

Sebastian Mc Laine lächelte schon, als ich die Tür öffnete, und so flog mein Herz geradewegs ins Paradies. Ich hoffte, dass ich es dort nie wieder holen müsste.

„Guten Morgen, Sir“, begrüßte ich ihn ruhig.

„Wie sind wir heute formell, Melisande“, sagte er tadelnd, als ob wir uns näher gekommen wären als nur ein einfaches gemeinsames Abendessen.

Meine Wangen brannten, und ich war mir sicher, dass ich errötete, obwohl ich keine Ahnung von der wirklichen Bedeutung dieser Worte hatte. Rot war eine dunkle Farbe, gleich dem Schwarz in meiner Welt.

„Es ist nur aus Respekt Ihnen gegenüber, Sir“, sagte ich und milderte meinen formellen Ton mit einem Lächeln.

„Ich habe nicht unbedingt viel dazu getan, um Respekt von Dir zu verdienen“, sinnierte er. „Im Gegenteil, ich bin dir sicherlich manchmal unausstehlich vorgekommen.“

„Nein, Sir“, antwortete ich, während ich mich auf einem Minenfeld bewegte. Die Gefahr, seinen Zorn zu entfachen, lauerte überall, bei jedem unserer verbalen Schlagabtausche, und ich durfte nicht unachtsam werden. Auch wenn mein Herz dies bereits getan hatte.

„Erzähle mir keine Märchen. Das ertrage ich nicht“, gab er zurück mit seinem wunderbaren Lächeln.

Ich setzte mich ihm gegenüber und bereitete mich auf die Aufgaben vor, für die ich bezahlt wurde. Mich in ihn zu verlieben war sicherlich nicht eine von ihnen. Ganz außer Frage.

Er deutete auf einen Stapel Post auf seinem Schreibtisch. „Trenn‘ bitte die Post zwischen privaten und geschäftlichen Angelegenheiten.“

Seinen Blick von seinen mit einer unbekannten Zärtlichkeit erfüllten Augen abzuwenden, war nicht einfach. Ich spürte sie weiterhin auf mir ruhen, heiß und unwiderstehlich, und ich hatte große Mühe mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.

Ein Brief erregte meine Aufmerksamkeit, weil kein Absender verzeichnet war, und ich die Handschrift auf dem Umschlag kannte. Und da das noch nicht genügte, der Empfänger war nicht mein geliebter Schriftsteller, sondern ich selbst.

Wie gelähmt hielt ich den Umschlag in den Fingern, während sich in meinem Kopf widersprüchliche Gedanken breit machten.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

Ich hob meinen Kopf und unsere Blicke trafen sich. Er starrte mich aufmerksam an, und ich merkte, dass er dies schon die ganze Zeit getan hatte.

„Nein, ich ... Es ist alles in Ordnung ... Es ist nur…“ Und plötzlich befand ich mich in einem Labyrinth, einem Dilemma: soll ich es ihm von dem Brief sagen oder nicht? Wenn ich nichts sagte, bestände die Gefahr, dass es Kyle ihm später erzählen würde. Er übernahm normalerweise die Post und legte sie ihm auf den Schreibtisch. Oder vielleicht hatte er es gar nicht bemerkt, dass ein Brief einen anderen Empfänger hatte. Konnte ich darauf hoffen und den Brief zu einem späteren Zeitpunkt zur Seite legen? Nein, unmöglich. Mc Laine war zu analytisch und es entging ihm nichts. Das Gewicht meiner Lüge trat zwischen uns.

Er streckte seine Hand aus und brachte mich so in starke Bedrängnis. Er spürte meine Unentschlossenheit, und verlangte es mit seinen eigenen Augen zu sehen.

Mit einem schweren Seufzer reichte ich ihm den Umschlag.

Er löste seinen Blick von mir für nur eine Sekunde, gerade lang genug, um den Namen auf dem Umschlag zu lesen, dann sah er mich erneut an. Die Feindseligkeit spiegelte sich in seinen Augen wieder, ein Gefühl so dick wie Nebel, klamm wie Blut, schwarz wie Misstrauen.

„Wer schreibt dir, Melisande Bruno? Ein Verlobter in der Ferne? Ein Verwandter? Ah, nein, wie dumm von mir. Du hast mir ja gesagt, dass sie alle tot sind. Und? Vielleicht ein Freund?“

Er spielte mir den Ball zu und ich ergriff ihn ohne zu Zögern und fuhr mit meiner Lüge fort. „Das wird meine ehemalige Mitbewohnerin sein. Jessica. Ich wusste, dass sie mir schreiben würde, ich hatte ihr die Adresse gegeben“, sagte ich und war selbst davon überrascht, wie die Worte so natürlich und doch so falsch aus meinem Mund flossen.

„Dann lies ihn doch. Du wirst es doch kaum erwarten können. Mach dir keine Sorgen, Melisande.“ Seine Stimme war honigsüß mit einem Spritzer erschreckender Grausamkeit. In diesem Moment wurde mir klar, dass mein Herz noch da war, entgegen meiner früheren Annahme. Es war aufgebläht, synkopisch, vom Rest meines Körpers losgelöst. Genauso wie mein Geist.

„Nein ... es ist nicht so dringend ... später, vielleicht ... Ich meine ... Jessica wird keine große Neuigkeiten haben ...“, stammelte ich und versuchte seinen eisigen Blick zu vermeiden.

„Ich bestehe darauf, Melisande.“

Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir die Süße von Gift bewusst, seinem betörenden Duft und seinem trügerischen Charme. Denn seine Stimme und sein Lächeln offenbarten seine Wut nicht. Nur seine Augen verrieten ihn.

Ich nahm den Umschlag mit den Fingerspitzen, so als ob ich mich dadurch infizieren könnte.

Er wartete. In diesen bodenlosen Augen war ein Hauch von sadistischem Vergnügen zu erkennen.

Ich steckte den Umschlag in meine Tasche. „Er ist von meiner Schwester.“ Die Wahrheit entwich aus meinem Mund, und ich fühlte mich befreit, auch weil es sicherlich keinen Weg gab, sie zu vermeiden. Er schwieg und ich setzte tapfer meine Erklärung fort.

„Ich weiß, dass ich gelogen habe, über meine Familie, aber ... Ich bin wirklich allein in der Welt. Ich…“. Meine Stimme versagte. Ich versuchte es noch einmal. „Ich weiß, dass es falsch war, aber ich wollte nicht über sie reden.“

„Sie?“

„Ja. Mein Vater ist auch noch am Leben. Aber nur, weil sein Herz noch schlägt.“ Meine Augen beschlugen sich mit Tränen. „Er vegetiert eigentlich nur noch vor sich hin. Er ist Alkoholiker im letzten Stadium und erinnert sich nicht einmal daran, wer wir sind. Monique und ich, meine ich.“

„Es war dumm von Ihnen zu lügen, Miss Bruno. Hatten sie nicht daran gedacht, dass Ihnen Ihre Schwester schreiben würde? Oder vielleicht sind sie einfach untergetaucht, um sich nicht um Ihren Vater kümmern zu müssen, und die ganze Last jemand anderem aufzubürden?“ Die Stimme erklang im Arbeitszimmer so tödlich wie ein Gewehrschuss.

Ich schluckte meine Tränen hinunter und starrte ihn trotzig an. Ich hatte gelogen, das war nicht zu leugnen, aber er stellte mich wie ein verwerfliches Etwas dar, das es weder verdient hat zu leben, noch respektvoll behandelt zu werden.

„Ich erlaube Ihnen nicht, über mich zu urteilen, Mr. Mc Laine. Sie wissen nichts über mein Leben, oder über die Gründe, warum ich gelogen habe. Sie sind mein Arbeitgeber, und nicht mein Richter und umso weniger mein Henker“. Die gewagte Ruhe, mit der ich gesprochen hatte, überraschte mehr mich selbst als ihn, und ich legte meine Hand auf den Mund, der scheinbar an meiner Stelle geredet hatte, losgelöst vom Geist, mit der Eigenständigkeit, die auch mein Herz oder meine Träume von mir trennte.

Ich stand schnell auf und warf den Stuhl nach hinten um. Ich hob ihn mit zitternden Händen auf, mein Geist befand sich in katatonischer Starre.

Ich war schon an der Tür angekommen, als er mit eiskalter Härte sprach. „Nehmen Sie den Rest des Tages frei, Miss Bruno. Sie kommen mir ziemlich aufgewühlt vor. Wir sehen uns morgen.“

Ich erreichte mein Zimmer wie in Trance, und rannte ins angrenzende Bad. Hier wusch ich mein Gesicht mit kaltem Wasser, und studierte mein Spiegelbild. Das war zu viel. Das ganze Schwarz und Weiß, das mich umgab, war noch furchterregender als ein Leichentuch. Ich fühlte mich gefährlich nahe einem Abgrund balancieren. Mich erschreckte der Gedanke zu fallen kein bisschen. Ich war schon so oft gefallen, und ich bin immer wieder aufgestanden. Meine Haut und mein Herz waren mit Millionen von unsichtbaren und schmerzhaften Narben übersät. Ich hatte Angst, den Verstand zu verlieren, die Klarheit, die mich bis dahin am Leben erhalten hatte. In diesem Fall würde ich eher den Abgrund hinunterstürzen.

Die nicht vergossenen Tränen zerwühlten meine Eingeweide und machten mich fix und fertig. Ich fühlte mich wie ein Zombie, wie der Protagonist in einem der Romane von Mc Laine.

Meine Hand tastete in der Tasche meines Tweedrocks, in die ich den Moniques Brief gesteckt hatte. Was immer sie auch wollte, ich konnte es nicht noch weiter hinausschieben. Ich zog ihn heraus und trug ihn ins Schlafzimmer.

Er war so schwer wie ein Sack Zement, und ich war versucht ihn nicht zu öffnen. Sein Inhalt kann nur eines bedeuten: Leid. Ich dachte, ich wäre stark, bevor ich nach Midnight Rose kam. Da war ich wohl völlig danebengelegen. Ich war alles andere als stark.

Meine Hände handelten nach ihrem eigenen Willen, ich selbst war nur noch eine Marionette. Sie rissen den Umschlag auf und zogen das darin enthaltene Blatt Papier heraus. Es waren nur wenige Worte, was so typisch für Monique war.

Liebe Melisande,

Ich brauche mehr Geld. Ich danke Dir dafür, dass Du mir welches aus London geschickt hast, aber es reicht nicht aus. Kannst Du diesen Schriftsteller nicht um einen Vorschuss auf Dein Gehalt bitten? Sei nicht schüchtern und habe keine Skrupel. Ich habe gehört, dass er sehr reich ist. Im Grunde ist er schließlich nur ein Behinderter, den man leicht beeinflussen kann. Mach schnell.

Deine Monique.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf den Brief starrte, vielleicht ein paar Minuten, vielleicht Stunden. Plötzlich verlor alles an Bedeutung, so als ob mein Leben nur als Anhängsel von Monique und meinem Vater einen Sinn hatte. Ich hätte gewollt, dass sie beide sterben, und dieser schreckliche Gedanke, der nur einen Augenblick aufblitzte, erfüllte mich mit Entsetzen. Monique hatte versucht, mich zu lieben, natürlich auf ihre eigene egoistische Art und Weise. Und mein Vater ... na ja, die schönen Erinnerungen an ihn waren so spärlich, dass sie mir die Kehle zuschnürten. Aber er war immerhin mein Vater. Derjenige, der mir das Leben geschenkt hatte, und dann sich dazu berechtigt fühlte, es mit Füssen zu trampeln.

Ich faltete den Brief langsam mit übertriebener Sorgfalt und Aufmerksamkeit zusammen. Dann schloss ich ihn in die Schublade meines Nachtkästchens.

Geld.

Monique brauchte Geld. Schon wieder. Ich hatte alles verkauft, was ich in London besaß, was in der Tat sehr wenig war, um ihr zu helfen, und schon nach wenigen Wochen waren wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Ich wusste, dass Vaters Pflege teuer war, aber jetzt bekam ich es tatsächlich mit der Angst zu tun. Wenn Sebastian Mc Laine mir kündigen würde - und Gott allein weiß, ob er außer zum eigenen Vergnügen noch andere gute Gründe dafür hatte – stände ich auf der Straße. Wie konnte ich nur, nach alldem was geschehen war, ihn um einen Vorschuss bitten? Schon allein der Gedanke daran, ließ mich ermüden. Monique hatte nie zu viele Skrupel, sie hatte diese beneidenswerte Dreistigkeit, aber ich war anders. Kommunikation war nicht gerade meine Stärke, um Hilfe zu bitten gar unmöglich. Ich hatte zu viel Angst, abgelehnt zu werden. Nur einmal hatte ich es getan und ich kann mich immer noch an den Geschmack des Neins erinnern, an das Gefühl der Ablehnung, das Geräusch der Tür, die mir ins Gesicht geschlagen wurde.

„Kyle ist wirklich ein Faulpelz. Er ist heute Nachmittag mit dem Auto verschwunden und erst vor einer halben Stunde zurückgekehrt. Herr Mc Laine ist außer sich. Diesem Nichtsnutz sollte man in den Hintern treten, sage ich Ihnen. Den armen Mann ohne Hilfe lassen!“ Mrs. Mc Millians Stimme war voller Verachtung, als ob Kyle ihr persönlich ein Unrecht zugefügt hätte.

Ich stocherte weiterhin mit meiner Gabel im Essen, ohne auch nur ein bisschen Appetit zu verspüren.

Die Gouvernante redete weiter, ausschweifend wie immer, und bemerkte es nicht. Ich lächelte ihr gezwungen zu und zog mich in das finstere Gewühl meiner Gedanken zurück. Wie sollte ich das Geld auftreiben? Nein, ich hatte keine andere Wahl. In zwei Wochen würde ich mein Gehalt ausgezahlt bekommen. Monique musste eben warten. Ich hätte ihr alles geschickt, in der Hoffnung, dass das nicht unvorsichtig war. Das Risiko, fristlos entlassen zu werden, war erschreckend real. Herr Mc Laine war ein unberechenbarer Mann mit einem einzigartigen und offensichtlich unzuverlässigen Temperament.

Ich zog mich auf mein Zimmer zurück, wo ich so verstört ankam, dass ich weder weinen noch still stehen konnte. Ich ging zu Bett in der Hoffnung, dass mich der Schlaf überkommen würde, aber das dauerte ziemlich lang. Inzwischen hatte ich keine Kontrolle mehr über irgendetwas, ich war von meinem eigenen Körper ausgeschlossen.

Es ist sicherlich nicht nötig zu sagen, dass ich in dieser Nacht nicht geträumt habe.

Das Mädchen Der Verbotenen Regenbögen

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