Читать книгу Keine weiteren Fragen - Ross Thomas - Страница 7
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ОглавлениеDas Adelphi, das man abreißen und aus dem man mich vertreiben wollte, wenn auch nicht in dieser Reihenfolge, war in den frühen Zwanzigern erbaut worden, also ungefähr zu der Zeit, als die Badewanne mit Klauenfüßen in Amerika zu verschwinden begann.
Weil die jeweiligen Besitzer sich geweigert hatten, Geld für die Instandhaltung auszugeben, war das Adelphi unter Umgehung des mittleren Alters gleich in fortgeschrittene Senilität gerutscht. Die Heizungsanlage keuchte und spuckte Wasser. Die Aufzüge waren boshaft, wie alte Damen es sein können, und öffneten sich auf der falschen Etage. Die Wände zeigten Risse und Flecken, und was einmal perlweiß gewesen war, war jetzt schmutzig grau. Die Teppichböden waren abgewetzt, und die geflickten Stellen brachten einen zum Stolpern. Bar und Restaurant wurden größtenteils von Fremden aufgesucht, die sich aus einem schrecklichen Zufall dorthin verirrt hatten und auch nicht wiederkamen. Und dann gab es noch Eddie, den unheimlichen Empfangschef.
Eddie war einer der Typen, derentwegen viele Touristen New York nicht ausstehen können. Sein Ellenbogen war es, der ihnen in der U-Bahn in die Rippen stieß. Sein Rücken war es, den sie sahen, wenn er in das Taxi stieg, das für sie angehalten hatte. Und es war seine Stimme, die ihnen zwanzigjährige Blondinen versprach, die sich dann als fünfundvierzigjährige Nutten herausstellten.
Nach zehn Jahren unermüdlicher Versuche hatte Eddie die Hoffnung fast aufgegeben, mir etwas andrehen zu können. Aber nur fast. Wahrscheinlich sah er mich als gleichwertigen Gegner, der ihn zur Hochform auflaufen ließ.
Wenn man irgendwas erledigt haben wollte, wie zum Beispiel den Hund spazieren zu führen oder jemandem den Arm zu brechen – Eddie erledigte das oder ließ es erledigen. Wenn man eine Frau, Schnaps, Rauschgift oder ein Stück Wüste brauchte – Eddie verkaufte es einem. Für genügend Geld belog er deinen Boss, hielt den Gerichtsvollzieher auf oder besorgte dir sogar ein Taxi, was ich zufällig gerade im Sinn hatte, als ich mit einem Koffer in der Hand den Aufzug verließ.
»Ich brauche ein Ein-Dollar-Taxi«, sagte ich ihm, während er nach meinem Koffer griff.
»Was meinen Sie damit? Das ist das, was Sie als Trinkgeld geben.«
»Und es ist die Sorte Taxi, die Sie immer besorgen, mit kaputten Stoßdämpfern, zerrissenen Sitzpolstern und Fahrern, die nur kurdisch sprechen.«
»Wir sind heute Morgen wohl zum Scherzen aufgelegt, was? Wohin?«
»La Guardia, Eastern Shuttle.«
»Oh, Washington. Wenn Sie da hinfliegen, gibt’s jedes Mal Probleme.«
»Nicht jedes Mal. Als ich mit meinem Sohn hingeflogen bin, um ihm die Kirschblüten zu zeigen, gab es keine.«
»Wie geht’s ihm? Ich hab ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Er ist okay.«
»Wie alt ist er inzwischen? Zehn?«
»Ja, zehn.«
»Wissen Sie, was ich gehört hab? Dass sein neuer Daddy im Aktienmarkt auf die Nase gefallen ist. Sagt man so.«
»Ich mach mir auch ziemliche Sorgen deswegen«, sagte ich. »Er muss schon auf seinen letzten dreißig bis vierzig Millionen sitzen.«
Wir standen inzwischen draußen auf der 46th Street, und Eddie benutzte seine Finger, um nach einem Taxi zu pfeifen, aber ich merkte, dass er nur halbherzig bei der Sache war.
»Als Ihre Ex Sie sitzengelassen hat, um diesen Typen mit der vielen Knete zu heiraten, hat sie sich eigentlich einen richtigen Gefallen getan, oder?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Wahrscheinlich lässt er auch seinen Schlafanzug rumliegen.«
Eddie pfiff zum zweiten Mal durch die Finger, dann drehte er sich zu mir um und warf mir einen seiner durchtriebenen Blicke zu.
»Ich hab Ihrem Anwalt ja heute Morgen den Kündigungsbrief für Sie mitgegeben.«
»Ich hab glatt vergessen, mich bei Ihnen zu bedanken. Wie lange haben Sie es schon gewusst? Ein halbes Jahr?«
»Nein. Ein paar Monate. Vielleicht drei.«
»Sie können Geheimnisse wirklich gut für sich behalten, Eddie.«
»Ein paar Leute hab ich vorgewarnt. Die, die immer nett zu mir waren, wissen Sie?«
»Na ja, ich hab mein Bestes getan, um Sie nicht zu enttäuschen. Ich hab mich richtig angestrengt.«
»Einen Scheiß haben Sie. Also, diese Leute hab ich jedenfalls vorgewarnt und ihnen irgendwie geholfen, eine neue Bleibe zu finden.«
»Sie sind nicht nur großzügig, sondern auch warmherzig, Eddie.«
»Ach ja? Ich hab gedacht, dass ich Ihnen vielleicht meine Hilfe anbieten sollte. Ich weiß von einer Wohnung, die wie für Sie gemacht ist. Drüben in der West 56th Street. Eine verdammt gute Wohnung. Ein Schlafzimmer, riesiges Wohnzimmer, Klimaanlage.«
»Wie viel?«
»Billig, wirklich spottbillig. 625 Dollar im Monat.«
»Ich meine nicht die Miete. Wie viel wollen Sie für die Vermittlung?«
Er zuckte mit den Schultern. Dabei sah er ein Taxi und pfiff es heran. Der Wagen wühlte sich durch den Verkehr in unsere Richtung. »Sie wissen doch, wie so was läuft«, sagte er. »Man muss die Richtigen ein bisschen schmieren.«
»Wie hoch ist Ihre Vermittlungsgebühr, Eddie?«
»Nur dreitausend, weil Sie es sind.«
»Vergessen Sie’s.«
»Denken Sie drüber nach«, sagte er, während er meinen Koffer auf den Beifahrersitz stellte und sich mit ausgestreckter Hand zu mir umdrehte. Ich legte 50 Cent hinein.
»Ich muss darüber nicht nachdenken«, sagte ich. »Aber aus reiner Neugier: Wem gehört das Gebäude? Ihrem Schwager?«
»Nee«, sagte Eddie und lächelte. »Mir.«
Soviel ich weiß, hat noch niemand einen Song namens April in Washington geschrieben, und das ist kein Wunder. Es war der 15. April, kurz nach ein Uhr mittags, als mein Flieger in Washington gelandet war und ich ein Taxi zum Hay Adams Hotel nahm. Es war ein warmer, fast milder Tag, und Heerscharen von Regierungsmitarbeitern saßen auf dem Lafayette-Platz und aßen ihr Mittagessen aus braunen Tüten.
Als ich zwei Stunden später aus dem Hotel kam, war die Temperatur um fünfzehn Grad gesunken, es drohte zu schneien, und der geschwätzige Taxifahrer sagte, man überlege, die Regierungsbüros deshalb früher zu schließen.
»Na ja, sie überlegen aber erst«, sagte er. »Bis die sich entschieden haben, ist es fünf Uhr und auf den Straßen liegen fünfzehn Zentimeter Schnee.«
»Sagt das der Wetterbericht?«
»Nee, das sag ich. Früher gab es in dieser Stadt so ein Wetter nicht. Erst seit zwei oder drei Jahren. Davor war das Wetter ziemlich gut. Wissen Sie, was meiner Meinung nach daran schuld ist?«
»Was?«
»Watergate.«
»Das ist eine Überlegung wert.«
»Ich seh das so: Watergate hat eine Menge Leute zum Kochen gebracht, ich mein, das hat wirklich ihre Körpertemperatur verändert. Und irgendwo muss dieser ganze Dampf ja hin. Also steigt er hoch und produziert Wolken, und deshalb haben wir mehr Regen und Schnee als früher.«
Wir fuhren gerade auf der Pennsylvania Avenue in Richtung Osten, und zu meiner Linken tauchte ein Gebäude auf, das ich noch nie gesehen hatte. Es schien sich über den gesamten Block zu ziehen.
»Was ist das denn?«, sagte ich.
»Das da?«, sagte er. »Das ist das neue Hauptquartier des FBI. Raten Sie mal, nach wem es benannt ist.«
»Nach Bobby Kennedy.«
»Von wegen! J. Edgar Hoover. Sie wissen, was der in Wirklichkeit war, nicht?«
»Nein. Was?«
»Die größte Schwuchtel der Stadt, das war er. Jack Kennedy hat’s rausgekriegt, und drum hat Hoover dafür gesorgt, dass er in Dallas erschossen wird.«
»Das gibt’s doch nicht.«
Der Fahrer nickte düster. »Wenn Sie in dieser Stadt Taxi fahren und die Ohren offen halten, wissen Sie über ’ne Menge Sachen Bescheid.«
Wir erreichten den südöstlichen Eingang der Kongressbibliothek ohne weitere Ausführungen des Fahrers. »Ich frag mich, was die da drin wirklich machen«, sagte er, während er das alte Gebäude mit leichtem Misstrauen beäugte.
»Meines Wissens verleihen sie Bücher«, sagte ich.
»Wissen Sie, was die angeblich wirklich lagern?«, sagte er. »Die größte Sammlung versauter Bücher auf der ganzen Welt, aber sie lassen nur Kongressabgeordnete und andere hohe Tiere aus der Regierung da ran.«
»Eine Schande«, sagte ich, gab ihm das Fahrgeld und begann auszusteigen.
»Wissen Sie noch was?«
Ich drehte mich zu ihm um. Er sah mit einem missmutigen Blick an der Fassade hoch. »Ich glaub, ich hab seit fünfundzwanzig Jahren kein Buch mehr gelesen.«
»Merkt man kaum«, sagte ich und stieg aus. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem Mr. Hawkins Gamble Laws III., der mir alles über ein Buch erzählen würde, das ohne Genehmigung ausgeliehen worden war und für dessen Rückgabe eine Viertelmillion Dollar gezahlt werden sollte.
Ich erkundigte mich bei ein paar in Tweed gehüllten Herren mit kurzen Bärten und nachdenklichen Mienen, wo ich die Abteilung für seltene Bücher finden könne. Einer von ihnen war, dem Akzent nach, aus Paris. Der andere informierte mich ungefragt darüber, dass er aus Italien stamme, genauer gesagt aus Bologna, und dass er seit einundzwanzig Jahren an einem interessanten, aber mir unverständlichen Thema aus dem hebräischen Sprachgebiet arbeite, und zwar in der Orientabteilung der Bibliothek. Wir hatten einen netten kleinen Plausch darüber, bevor ich mich allein auf den Weg machte, bewaffnet mit ihrer Wegbeschreibung. Ich verirrte mich nur zweimal, vielleicht sogar aus Absicht, denn die Kongressbibliothek ist ein interessanter Ort für einen Streifzug. Am besten gefiel mir der Hauptlesesaal mit seiner hohen Decke und der Atmosphäre absoluter Stille sowie den hingebungsvoll Studierenden, die sich mit Dingen beschäftigten, bei denen ich das Gefühl hatte, mehr darüber wissen zu wollen.
Die Abteilung für seltene Bücher befand sich im ersten Stock des Ostflügels. Ich betrat den Lesesaal durch eine eindrucksvolle bronzene Flügeltür, die mehr als nur einen Blick wert war. Jeder der Flügel hatte drei mit den Namen und Werkzeugen bedeutender Buchdrucker geschmückte Felder. Ich erkannte die Namen Fust und Schöffer, zwei Buchdrucker, die mit Johannes Gutenberg zusammengearbeitet haben sollen, dem Mann, mit dem alles angefangen hatte. Ich erkannte auch die Druckermarke von William Morris, dem Gründer der Kelmscott Press, nicht der Künstleragentur. Wie kein anderer belebte er das Interesse der Nation an wertvollen Drucken in den Jahren vor der Jahrhundertwende.
Der Lesesaal der Abteilung für seltene Bücher stellte sich als friedlicher Ort mit sechs Meter hohen Decken und einer konzentrierten Arbeitsatmosphäre heraus.
Es gab ein paar Reihen von hübsch erleuchteten Lesetischen mit bequem aussehenden Stühlen, an denen geschätzt ein Dutzend Leute mit versunkenem Gesichtsausdruck saßen, die ihre Lippen nicht bewegten, während sie lasen.
Das Büro, das die Regierung dem Leiter dieser Abteilung zur Verfügung gestellt hatte, war nicht gerade überwältigend. Es gab einen schönen Schreibtisch, ein paar gepolsterte Stühle und einige Bilder; aber nichts Auffälliges. Es hätte genauso gut das Büro eines Brigadegenerals im Pentagon sein können, zuständig für die Beschaffung von Maschinengewehren der US-Armee. Behördenbüros sehen alle ziemlich gleich aus.
Wenn das Büro nicht beeindruckend war, dann jedoch derjenige, der darin saß, umso mehr. Zum einen war Hawkins Gamble Laws III. der höflichste Mensch, der mir je begegnet war. Nachdem seine Sekretärin mich hineingeleitet hatte, schüttelte er meine Hand auf eine Weise, die mir zeigen sollte, dass es tatsächlich eine große Freude für ihn sei, mich kennenzulernen. Dann sorgte er dafür, dass ich den bequemsten Stuhl erhielt, und bat seine Sekretärin, uns Kaffee zu bringen, bevor er sich entgegenkommend danach erkundigte, wie er mir am besten helfen könne. Ich hatte das Gefühl, dass er, wenn ich gerade eine schlechte Phase durchmachte und bis nächsten Dienstag einen Hunderter bräuchte, ohne Zögern in seine Brieftasche gegriffen und ihn mir wortlos überreicht hätte; höchstens mit der Bemerkung, dass, wenn es Dienstag nicht ganz passen würde, ich ihm diesen durchaus auch Freitag zurückgeben könne.
»Meine erste Frage wäre wohl, was wem entwendet wurde«, sagte ich. Ich benutzte den Begriff »entwendet«, weil ein simples »gestohlen« ihn hätte irritieren können, obwohl er viel zu höflich gewesen wäre, um sich dies anmerken zu lassen. Ich hatte bemerkt, dass er selbst eine Art Mandarin-Englisch sprach, gespickt mit Kommata und Semikolons, auf das man in den Vereinigten Staaten nicht zu oft stößt, es sei denn, man hätte The Economist abonniert.
»Ich muss mich wirklich dafür entschuldigen, dass ich Ihrem Anwalt, Mr. Greene, den Titel des Buchs vorenthalten habe«, sagte Mr. Laws. »Wie auch immer, als ich meine Gründe dafür vorbrachte, verstand er meine Lage augenblicklich, obwohl es eine höchst unpassende Stunde war, in der ihn anzurufen die Umstände mich zwangen.«
»Myron hat am Morgen eine ausgeprägte Auffassungsgabe.«
»Ein Mann mit bemerkenswertem Verstand, scheint mir. Zucker?«
»Gern.«
Statt mir die Zuckerdose über den Schreibtisch zuzuschieben, stand er auf, ging um den Tisch herum und hielt mir die Dose hin, bis ich mich bedient hatte. Die Dose war offensichtlich aus massivem Silber, ebenso wie das Sahnekännchen und das Tablett, auf dem sie standen. Die Tassen waren aus einem dünnen, durchscheinenden Porzellan. Es wurde mir klar, dass Laws sich gerne mit schönen Dingen umgab. Dabei war mir allerdings nicht entgangen, dass zu diesen schönen Dingen kein silbergerahmtes Foto von Gattin und Kindern gehörte. Ich kam zu dem Schluss, dass er wohl entschieden hatte, sein Privatleben sei eine persönliche Angelegenheit und müsse der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden.
Laws war schätzungsweise Ende fünfzig, ein großer Mann, sehr groß sogar, aber mit einer leicht gebückten Haltung, als ob er befürchtete, dass ihm aufgrund seiner Größe etwas entgehen könnte, was seine Aufmerksamkeit und Höflichkeit erforderte. Er trug einen gut geschnittenen, zinnfarbenen Flanell-Anzug, der bestens zu seinen Haaren passte, und ich habe nur wenige Männer getroffen, die wie er den Phi-Beta-Kappa-Schlüssel ganz selbstverständlich an einer goldenen Kette über der Weste getragen haben.
Sein Gesicht war groß, fast zu groß, und kantig. Er neigte es oft zur Seite, um Aufmerksamkeit und Interesse zu signalisieren. Seine Augen funkelten und waren so braun und freundlich wie die eines jungen Cockerspaniels, und er benötigte keine Brille, was ich ungewöhnlich fand. Er lächelte gern, als ob die Welt für ihn ein ziemlich interessanter und angenehmer Ort zum Leben wäre, weil sie von so wundervollen Menschen wie mir bewohnt wurde. Nach ein paar Minuten in seiner strahlenden Gesellschaft konnte ich sogar darüber hinwegsehen, dass sein Haar in der Mitte gescheitelt war und er eine Fliege trug.
Ich trank meinen Kaffee und lobte dessen Geschmack, worüber er sich ernsthaft zu freuen schien. Danach strich er sich ein paarmal nachdenklich über sein großes Kinn, neigte den Kopf zur anderen Seite, wie um sicherzugehen, dass ich mich so wohl fühlte wie irgend möglich, und reichte mir eilig einen Aschenbecher, als ich meine Zigaretten aus der Tasche holte. Er beugte sich vor, gab mir mit einem Streichholz Feuer und bestand darauf, dass ich gleich die ganze Schachtel behielte. Ich steckte sie dankend weg, nicht ohne vorher zu registrieren, dass sie aus dem Sans Souci stammte, einem Restaurant, in dem alle wichtigen Leute Washingtons zu Mittag aßen.
»Ich gehe also davon aus», sagte er, »dass Sie die Rolle des Vermittlers bei der Wiederbeschaffung des stibitzten Buches spielen werden? Ach du liebe Güte, das dürfte das erste Mal seit dreißig Jahren sein, dass ich ›stibitzt‹ verwendet habe.«
»Allzu oft hört man’s nicht mehr«, sagte ich.
»Mr. St. Ives, wir waren alle mehr als bestürzt, als wir über den Diebstahl des Buches unterrichtet wurden, unser Kummer wurde allerdings dadurch gemindert, dass es nicht direkt aus der Bibliothek gestohlen wurde.«
»Kann ich verstehen.«
»Das fragliche Buch ist sehr alt und sehr selten und folglich sehr wertvoll.«
»Wie wertvoll?«
»Schwer zu sagen. Auf dem aktuellen Markt und unter Berücksichtigung der Inflation glaube ich, dass es fünfhunderttausend Dollar einbringen müsste. Der Preis könnte sogar bis zu einer Dreiviertelmillion gehen.«
»Es ist keine Gutenberg-Bibel, oder?«
»Ach du liebe Güte, nein. Wenn die gestohlen worden wäre, hätten wir die National Guard in Bewegung gesetzt. Wir haben hier drei Exemplare, wissen Sie.«
»Das wusste ich nicht. Aus reiner Neugier, was würde eine von denen auf dem aktuellen Markt erzielen, mal angenommen, es gäbe so einen Markt?«
Darüber musste Mr. Laws nachdenken. Er rieb sich wieder nachdenklich mehrmals das Kinn, zog an einem Ohrläppchen und nahm einen Schluck Kaffee. »Ich würde mich ungern festlegen, aber wir sprechen mit Sicherheit von ein paar Millionen Dollar. Im Jahr 1930 erwarb die Bibliothek Doktor Vollbehrs Sammlung, die aus dreitausend Inkunabeln bestand. Darunter war eines der drei uns bekannten Pergamentexemplare der Gutenberg-Bibel. Es bedurfte eines speziellen Kongressbeschlusses, aber am Ende haben wir anderthalb Millionen Dollar für die gesamte Vollbehr-Sammlung gezahlt. Ich muss hinzufügen, dass Doktor Vollbehr selbst fast dreihundertfünfzigtausend Dollar für diese Bibel auf den Tisch legen musste, damals der höchste Preis, der je für ein gedrucktes Buch gezahlt worden war. Und das vor beinahe fünfzig Jahren! Heute?« Mr. Laws zuckte mit den Schultern und ließ die Frage sich selbst beantworten.
»Welches Buch ist denn nun gestohlen worden?«
»Die Historia Naturalis von Plinius«, sagte Laws. »Sind Sie damit vertraut?« Er fragte das sehr höflich, und als ich den Kopf schüttelte, lächelte er verständnisvoll, ohne den geringsten Anflug von Überheblichkeit.
»Ich gehe davon aus, dass nicht allzu viele Menschen heutzutage damit vertraut sind, aber es war das erste wissenschaftliche Werk, das gedruckt wurde. Plinius, der Ältere natürlich, war Gaius Plinius Secundus, ein römischer Naturforscher, Enzyklopädist und Schriftsteller, der von 23 bis 79 nach Christus lebte. Sein Werk war tatsächlich das umfassendste Kompendium naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, das den Gelehrten im Mittelalter zur Verfügung stand. Die Erstausgabe, um die es hier geht, war eines der ersten Bücher überhaupt, das in Venedig von Johannes de Spira gedruckt wurde.«
»Wann war das?«, sagte ich.
»Vor dem 18. September 1469. Zeitgenössische Quellen besagen, dass nur hundert Exemplare gedruckt wurden. Glücklicherweise verfügt unsere Bibliothek über ein weiteres Exemplar, welches Teil der Rosenwald-Sammlung ist. Aber die Ausgabe, die gestohlen wurde, ist die einzige, die auf Pergament gedruckt wurde, zudem ist sie in einem viel besseren Zustand als unsere. Natürlich ist sie deshalb auch viel wertvoller. Wir waren fürchterlich bestürzt angesichts dieses Diebstahls.«
»Erzählen Sie mir mehr darüber.«
»Über den Diebstahl?«
»Ja.«
»Zunächst muss ich klarstellen, dass uns das Buch nur als Leihgabe zur Verfügung stand. Das bedeutet, dass der Besitzer es uns geliehen hat mit der Auflage, dass wir nach eigenem Ermessen entscheiden würden, es interessierten Wissenschaftlern zugänglich zu machen. Wir waren, das sollte ich noch hinzufügen, ungemein erfreut darüber, es in unsere Sammlung aufzunehmen, wenn auch nur auf begrenzte Zeit. In der letzten Woche, am Dienstag, um genau zu sein, informierte uns der Eigentümer, dass er die Leihgabe zurückziehen wolle. Natürlich äußerten wir unser Bedauern, aber der Eigentümer blieb unerbittlich. Daraufhin erboten wir uns, das Werk unter speziellen Sicherheitsvorkehrungen zurückzugeben.«
»Von welchen Sicherheitsvorkehrungen sprechen Sie?«
Laws nahm einen Schluck Kaffee. »Sie hängen natürlich vom Buch ab. Für etwas so Wertvolles wie die Plinius-Ausgabe würden wir einen unserer erfahrensten Mitarbeiter in Begleitung eines bewaffneten Sicherheitsbeamten schicken.«
»Aber dazu kam es nicht.«
»Nein. Der Besitzer lehnte es ab und entschied sich für eine andere Vorgehensweise.«
»Und zwar?«
»Ein Privatdetektiv, ein Mr. Marsh, traf gestern Morgen ein und präsentierte uns die entsprechenden Dokumente. Wir haben sie mit der gebotenen Sorgfalt geprüft und das Buch Mr. Marsh übergeben. Seitdem hat kein Mensch mehr von ihm gehört.«
»Was sagt die Polizei dazu?«
»Offen gesagt, Mr. St. Ives, mein Eindruck ist, dass sie nicht weiterweiß. Ein Lieutenant Fastnaught leitet die Untersuchung.«
»Hat er gekräuseltes blondes Haar und leuchtend blaue Augen?«
»Genau. Kennen Sie ihn?«
»Als ich ihn kannte, war er nur Sergeant, aber recht ehrgeizig. Das hat sich wohl ausgezahlt. Er hat noch keine Anhaltspunkte, oder?«
»Keine, fürchte ich, aber er hat mich nicht gerade ins Vertrauen gezogen.«
»Und der Eigentümer des Buchs?«
»Ja?«
»Ist er ein Spinner?«
Laws lächelte. Es war ein trauriges Lächeln, das auszudrücken schien, dass der Besitzer keinesfalls ein Spinner sei, lediglich exzentrisch, bedauerlicherweise. »Der Eigentümer ist eine Frau, Mr. St. Ives, eine Miss oder Mrs. Maude Goodwater. Sagt Ihnen der Name Joiner Goodwater etwas?«
»Es klingelt bei mir, aber nur leise«, sagte ich. »Hat mit einer Menge schnell gemachtem Geld zu tun.«
»Uran«, sagte Laws. »Im Frühling des Jahres 1947 unterrichtete Joiner Goodman noch Naturwissenschaften an einem Gymnasium in Salt Lake City. Im Sommer machte er sich auf den Weg in die Utah-Wüste, ausgestattet mit nichts anderem als einem alten Armeejeep, einem Kanister Wasser, ein, zwei Kartons mit Notrationen und einem Geigerzähler. Als er Ende August wieder auftauchte, war er ein unfassbar reicher Mann.«
»Ich erinnere mich jetzt«, sagte ich. »Er war auf eines der reichsten Uranvorkommen der Vereinigten Staaten gestoßen, die Zeitungen nannten ihn den ›Urankönig‹. Ich erinnere mich aber auch daran, dass er das Geld genauso schnell wieder ausgegeben hat.«
»Nicht ganz«, sagte Laws. »Aber es sah so aus, als wäre er von der Idee getrieben, seinen Namen unter denen der größten Kunstmäzene des Landes einreihen zu wollen, also Guggenheim und Frick und Mellon und Rosenwald und sogar« – Laws schniefte ein wenig – »Hirshhorn. Um die traurige Geschichte kurz zu machen: Er kaufte meterweise Gemälde und kistenweise seltene Bücher. Sein Pech war jedoch, dass die Bilder entweder nicht wirklich gut oder meisterhaft gefälscht waren. Ich sage es ungern, aber in Kunstkreisen wurde er mehr oder weniger zur Lachnummer. Was seltene Bücher angeht, hatte er aber ein besseres Händchen. Er hat sich auf seltene Wissenschaftsbücher konzentriert und es tatsächlich geschafft, eine ziemlich feine Sammlung zusammenzustellen, deren Prunkstück natürlich der Plinius war. Er wurde uns vor wenig mehr als zehn Jahren als Leihgabe überlassen, im stillen Einverständnis, dass er nach Goodwaters Tod dauerhaft in unsere Sammlung übergehen sollte.«
»Er starb vor ungefähr fünf Jahren, nicht wahr?«, sagte ich.
»Vor sechs«, sagte Laws. »Soviel ich weiß, starb er als verarmter und verbitterter Mann. Ich kannte ihn flüchtig, und er kam mir vor wie ein Mann – ich sage das nicht aus Böswilligkeit –, der besser im Labor seines Gymnasiums geblieben wäre. Er war für die Welt des großen Geldes, in die er geraten war, gänzlich ungeeignet.«
»Ich habe, glaube ich, etwas in der Richtung gelesen«, sagte ich. »Er ging jedem schmierigen Betrüger auf den Leim, der vorbeikam.«
»Nicht nur das«, sagte Mr. Laws, »er hatte auch ernsthafte Probleme mit der Steuer. Was die schmierigen Betrüger, wie Sie sie nennen, nicht kassiert haben, kassierten das Finanzamt und die Anwälte. Er ist als verhältnismäßig armer Mann gestorben.«
»Wie würden Sie verhältnismäßige Armut definieren?«, sagte ich.
»Na ja, er hatte seine gesamte Buchsammlung verkauft, nur nicht den Plinius. Nachdem die Regierung ihre restlichen Steuerforderungen eingezogen hatte, bestand sein Vermögen aus einem Haus in Los Angeles, ein paar gut gefälschten Gemälden und vielleicht hunderttausend Dollar in sonstigen Vermögenswerten.«
»Was hat er so durchgebracht? Ein paar hundert Millionen?«
»So ungefähr, ja.«
»Also ist das Buch von Plinius alles, was noch übrig ist, abgesehen davon, dass es gestohlen wurde.«
»Ja.«
»Als die Tochter, wie hieß sie nochmal, Maude, sich entschlossen hat, den ausgeliehenen Plinius zurückzuholen, wie ist sie da vorgegangen?«
Laws dachte einen Augenblick nach. »Ihr Anwalt in Los Angeles hat mir in einem formellen Anschreiben ihre Entscheidung mitgeteilt. Ich habe ihn unverzüglich angerufen und ihn zu überreden versucht, mich bei dem Versuch zu unterstützen, sie von ihrem Entschluss abzubringen.«
»Haben Sie mit ihr selbst gesprochen?«
»Aber natürlich, und zwar mehrere Male. Es handelt sich um eine bemerkenswerte Ausgabe, und wir wollten nicht untätig zusehen, wie sie unsere Bibliothek verlässt. Außerdem gab es die stillschweigende Vereinbarung, dass sie mit dem Tod von Mr. Goodwater in unsere Sammlung übergehen sollte. Unglücklicherweise halten stillschweigende Übereinkommen vor Gericht nicht stand, wie wir von dem erfahrenen Rechtsberater der Bibliothek erfahren mussten.« Laws lächelte schwach. »Wahrscheinlich wären wir nie vor Gericht gegangen, obwohl wir schon zu Löwen werden können, wenn es um ein Buch von der Bedeutung des Plinius geht.«
»Und es ist Ihnen nicht gelungen, die Tochter zu überreden?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sagte, sie bedauere, das Buch zurückfordern zu müssen, zumal es auch das Gedenken an ihren Vater wahre, aber sie brauche Geld. Sie habe ein sehr großzügiges Angebot für das Buch erhalten und sei entschlossen, es anzunehmen.«
»Hat sie gesagt, wer ihr das Angebot gemacht hat?«
»Sie verwies darauf, dass der Käufer auf Anonymität bestanden habe. Sie nannte mir aber den angebotenen Preis, weil ich die Hoffnung hatte, ein identisches oder sogar besseres Angebot für die Sammlung vorlegen zu können.«
»Das konnten Sie aber nicht.«
Er schüttelte wieder den Kopf. »Wie schon erwähnt, gingen wir von einem Marktwert um eine halbe Million aus. Die Bibliothek hätte so viel Geld aus eigener Kraft nicht aufbringen können, aber ich hätte bei einigen unserer Förderer anklopfen und versuchen können, einen solchen Betrag aufzutreiben, obwohl das Geld heutzutage schrecklich knapp ist, wie Sie wissen.«
»Wie hoch war das Angebot, das ihr vorlag?«
Laws seufzte. »Eine Dreiviertelmillion Dollar.«
Ich verkniff es mir zu pfeifen, weil ich wusste, dass Laws das geschmacklos gefunden hätte. »Wer hat heutzutage so viel Geld?«
»Offen gesagt, niemand«, sagte Laws. »Wie Sie ahnen können, Mr. St. Ives, haben wir unsere Netzwerke im Bereich wertvoller alter Bücher, und ich gestehe, dass ich meine Verbindungen habe spielen lassen, um herauszufinden, wer für den Plinius ein solch ungewöhnliches Angebot hätte machen können. Es bestand Einigkeit darüber, dass keiner von uns einen Sammler oder einen Händler kannte, der dahinterstehen könnte. Daher kamen wir – ich meine unsere Gruppe alter Knaben, wie man uns nennen könnte –, zu dem Schluss, es könne sich nur um jemanden handeln, der an dem Buch als Investition interessiert sei.«
»Wäre es denn eine gute Investition, bei dem Preis?«
Laws dachte kurz darüber nach, dann nickte er und sagte: »Als eine extrem langfristige Geldanlage durchaus. Aber es gibt nur ein paar Personen, die sich diese Summe leisten könnten, eigentlich kaum eine Handvoll.«
»Araber?«
»Eine Möglichkeit.«
»Die kaufen doch heutzutage alles auf«, sagte ich.
»Ich habe von Gerüchten gehört, dass sie angefangen haben, in seltene Bücher zu investieren, aber das sind eben nur Gerüchte.«
»Wie alt ist die Goodwater-Tochter?«
»Ich glaube, dass sie noch ein Kind war, als ihr Vater auf die Uranmine stieß. Ich nehme an, dass sie heute so um die dreißig ist.«
»Ich möchte mir nur ein Bild von ihr machen«, sagte ich. »Ist sie verheiratet?«
»Nein.«
»Ist sie eigenartig, exzentrisch, verrückt oder auf irgendeine Weise unausgeglichen?«
Laws schüttelte wieder den Kopf. »Weder noch. Soviel ich weiß, zumindest laut ihrem Anwalt, ist sie eine sehr selbstbewusste und entschlossene junge Frau. Dieser Eindruck bestätigte sich bei meinem Telefonat mit ihr.«
»Ich frage mich, warum sie Ihr Angebot abgelehnt hat, Sicherheitsmaßnahmen für die Übergabe des Buches zu organisieren.«
»In diesem Punkt war sie äußerst deutlich und unnachgiebig.«
»Aha.«
»Ja. Sie sagte, dass der Privatdetektiv, den sie mit der Abholung des Werkes beauftragt hätte, ein gewisser Mr. Marsh …« Er hielt mitten im Satz inne, als wäre er unsicher, wie er ihn zu Ende bringen sollte.
»Was ist mit ihm?«, sagte ich.
»Also, sie hat gesagt, dass sie mit Mr. Marsh nicht nur eng befreundet sei, sondern dass er auch eine hohe Kompetenz auf dem Gebiet habe.«
»Haben Sie sich bei der Versicherungsgesellschaft über ihn erkundigt? Die müssten doch von ihm gehört haben.«
»In der Tat habe ich das. Sie sagten, er sei nicht nur kompetent. Sie sagten, er sei der Beste schlechthin.«