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Der Dieb rief um 20:32 Uhr an, und ich hätte nicht sagen können, ob die Stimme einem Countertenor gehörte oder einem tiefen Alt. Wer es auch immer war, schien sich etwas in den Mund gesteckt zu haben, um die Stimme zu verfremden. Alles, was man wirklich tun muss, wenn man das will, ist, sich einen Finger in den Mund zu stecken und darum herum zu reden. Es gibt Leute, die Murmeln, Taschentücher oder sogar Stimmenverzerrer benutzen, aber nichts wirkt viel besser als ein Finger.

»Sind Sie bereit?«, sagte die Stimme.

»Sie sind ein bisschen früh dran«, sagte ich. »Der Versicherungsmensch aus Kalifornien ist noch nicht da. Ich weiß nicht, ob er das Geld mitbringt oder arrangiert hat, es hier von einer Bank zu holen.«

»Sein Flieger ist vor drei Minuten am Flughafen Dulles gelandet«, sagte die Stimme.

»Ich war nicht mal sicher, dass er bei dem Schnee landen kann.«

»Das Flugzeug musste eine Stunde lang kreisen.«

»Sie sind ja bestens informiert.«

»Wir bemühen uns«, sagte die Stimme. »Deshalb möchten wir uns auch einen Eindruck von Ihnen verschaffen.«

»Da gibt es nicht viel zu sagen. Eins achtzig groß, fünfundsiebzig Kilo, heller Teint, dunkelblondes Haar und scheue braune Augen.«

»Wie nett«, sagte die Stimme. »Um neun Uhr können Sie Ihre braunen Augen in die Lobby bemühen, wo gerade eine Gruppe vom Abendessen kommt. Wir möchten, dass Sie Punkt fünf nach neun am Zeitungsstand ein Time-Magazin kaufen, einen Hershey-Riegel und zwei Päckchen Kent. Danach gehen Sie sofort wieder auf Ihr Zimmer.«

»Und dann?«

»Wir melden uns«, sagte die Stimme. Ich hörte ein Klicken und die Leitung war tot.

Weil ich ausreichend Zeit totzuschlagen hatte, und weil das Leben mich gelehrt hatte, nicht so blauäugig zu sein wie mit sechs, rief ich am Flughafen an und erfuhr, dass ein United Airlines Flug aus Los Angeles tatsächlich vor ein paar Minuten gelandet war, nachdem das Flugzeug fast eine Stunde hatte Kreise ziehen müssen. Dann stellte ich mich ans Fenster und sah zu, wie es auf die Denkmäler auf dem Lafayette-Platz schneite.

Eine Minute nach neun war ich in der Lobby. Dort trieben sich an die fünfzig gutgekleidete Leute herum, die sich gerade die Mäntel anzogen und einander erzählten, wie interessant der Vortrag gewesen sei und wie froh sie wären, dass sie dem Schnee getrotzt hätten, um dabei zu sein. Ich stand da und dachte darüber nach, ob es einen Politiker gäbe, für dessen Auftritt ich an einem verschneiten Abend, geschweige denn an einem schönen warmen, das Haus verlassen würde. Ich kam zu dem Schluss, dass es keinen gab, und wanderte dann langsam durch die Menge hin zum Zeitungsstand. Ich blieb dort stehen, sah mich beiläufig um und versuchte eher zu spüren als zu sehen, ob ich beobachtet wurde. Aber es waren noch zu viele Leute mit dem Anziehen ihrer Mäntel und dem Geplauder über den Vortrag und den Schnee beschäftigt. Weder spürte noch sah ich jemanden in meine Richtung starren, also schaute ich auf meine Uhr und sah, dass es fünf nach neun war.

Ich nahm ein Exemplar des Time-Magazins aus dem Ständer und sagte dem Verkäufer, ich hätte gern noch einen Hershey-Riegel und zwei Päckchen Kent, bezahlte und ging durch die sich auflösende Menge zum Aufzug. Ich sah mich noch einmal um, aber niemand blickte auch nur in meine Richtung. Sie redeten immer noch miteinander, und keiner von ihnen schien sich dafür zu interessieren, ob ich jetzt aufs Zimmer fuhr und mich kurz aufs Ohr haute oder hinaus auf die 16th Street ging und einen Schneemann baute.

Im Zimmer schaltete ich den Fernseher ein und aß den Hershey-Riegel, während ich mir die Wiederholung eines Krimis anschaute, der offenbar in Los Angeles bei Smog-Alarm spielte. Nach ein paar Minuten schaltete ich den Fernseher aus und ließ mich mit meinem Time-Magazin nieder, um es wie immer von hinten nach vorn zu lesen. Ich war zur Hälfte durch und wusste jetzt, wer letzte Woche von sich reden gemacht hatte, als das Telefon klingelte.

Eine tiefe Männerstimme fragte, ob ich Mr. St. Ives sei, und sagte, nachdem ich das bejaht hatte, sein Name sei Max Spivey, und er sei Vizepräsident der Pacifica-Versicherungsgesellschaft. Er habe gerade einen Scheißflug von Los Angeles hinter sich und einen noch schlimmeren Trip vom Flughafen in die Stadt, wolle mich dringend sprechen, brauche aber noch dringender einen Drink.

»Trinken Sie Scotch?«

»Ich trinke alles.«

»Ich hab hier eine Flasche J&B, und Sie sind herzlich eingeladen.«

»Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.«

Er brauchte keine fünf Minuten. Seine tiefe Stimme passte zu seiner Größe. Er war groß, sehr groß, beinahe massiv. Er streckte die Hand aus und sagte: »Ich heiße Max Spivey«, und die Stimme kam wie ferner Donner tief aus seiner Brust.

»Philip St. Ives«, sagte ich, während meine Hand in seiner verschwand.

»Ich hab von Ihnen gehört«, sagte er. »Es heißt, Sie wären gut.«

»Danke«, sagte ich. »Nehmen Sie Platz, wo Sie wollen.«

Das Zimmer schien um die Hälfte geschrumpft, seit er es betreten hatte. Er sah sich um und nickte in Richtung Bett. »Ich nehm das hier. Ich sitz nicht gern auf Hotel-Stühlen, ehe ich sie getestet habe.«

Er war fast zwei Meter groß, vielleicht fehlten ein oder zwei Zentimeter, mehr auf keinen Fall. Er setzte sich vorsichtig auf das Bett, dennoch protestierten dessen Federn, was ihm peinlich zu sein schien. Bei aller Größe stimmten die Proportionen seiner 125 Kilo, und als er sich vorbeugte und die Arme auf die Knie stützte, spannten sich die Hosenbeine und zeigten Oberschenkel, die so dick waren wie Telegrafenmasten. Sie passten zum Rest.

»Nettes Hotel«, sagte er, als ich mit zwei Gläsern aus dem Bad zurückkam. »Ich hab hier ein Zimmer gebucht, als Ihr Anwalt sagte, Sie würden hier absteigen.«

»Die geben sich Mühe«, sagte ich. »Wie mögen Sie Ihren Scotch? Es gibt Wasser, aber kein Eis.«

»Schütten Sie einfach Whiskey in ein Glas«, sagte er.

»Ist das okay so?«, sagte ich und reichte ihm ein Wasserglas, das zu einem Drittel voll war.

Er sagte, es sei bestens. Dann wartete er, bis ich mich selbst bedient hatte, hob sein Glas, prostete mir zu und nahm einen großzügigen Schluck.

Er hatte die fünfunddreißig um ein Jahr oder zwei überschritten, was lang genug war, um ihn an die Idee zu gewöhnen, dass er mit einer Welt klarkommen musste, die für Kleinere entworfen worden war. Seine Bewegungen waren geschmeidig und vorsichtig, fast grazil, als hätte er Angst, etwas zu zerquetschen, wenn er sich zu schnell bewegte.

Wäre er nicht so groß gewesen, hätte sich niemand nach ihm umgedreht. Er war zwar nicht gerade hässlich, hatte aber ein bisschen zu viel Kinn und Stirn, und man hätte etwas für die Nase tun sollen, die sich nach unten und nach links bog, hin zu einem wulstigen Mund, der am einen Ende nach oben und am anderen nach unten tendierte, als ob er sich nicht entscheiden könnte zwischen einer Grimasse und einem Lächeln. Aber wenn er lächelte, wie gerade nach dem großen Schluck von meinem Scotch, dann war es ein fröhliches Lächeln, das eine Reihe blendend weißer Zähne zeigte.

Wenn man ihn nur flüchtig betrachtete, hätte man ihn einfach für einen weiteren Hünen halten können, der es nicht ganz zum Riesen geschafft hatte. Aber bei genauerem Hinsehen hätte man seine Augen bemerkt und begriffen, dass sich in diesem riesigen Körper eine kühle, wachsame Intelligenz verbarg, die den Dingen gern selbständig auf den Grund ging. Die Augen waren grün, fast meergrün, und was sie bislang vom Leben gesehen hatten, mochte ihnen das meiste von ihrer Wärme geraubt haben.

Er nahm einen weiteren Schluck Scotch, holte ein Päckchen filterloser Camel hervor, zündete sich eine an und wies mit dem Daumen zum Fenster.

»In Los Angeles kennen wir Schnee eigentlich nicht«, sagte er.

»Na ja, so sicher sind die hier auch nicht, was das sein soll.«

»Wohl wahr. Ich hab am Flughafen ein Taxi genommen. Die Fahrt hat mich zwanzig Dollar gekostet, und ich glaube, die halbe Zeit sind wir seitwärts gerutscht. Was für ein Scheißtrip.« Er nahm noch einen Schluck. »Haben Sie von denen gehört?«

»Dem Dieb? Oder den Dieben?«

»Ja. Ich schätze, dass es zwei sind. Mindestens zwei. Es sind zwei nötig, um mit Jack Marsh fertigzuwerden.«

»Ich hab gehört, Sie halten einiges von ihm.«

Er nickte. »Er ist einer der besten privaten Ermittler an der Westküste. Wir haben ihn wohl ein Dutzend Mal angeheuert.«

»Für welche Art von Jobs?«

»Wissen Sie viel über uns?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Nur was mir mein Anwalt erzählt hat. Es klingt, als würden Sie Lloyd’s in London einige ausgefallene Geschäfte abnehmen.«

»Reden Sie von dem Arsch-und-Titten-Geschäft?«

»Nennen Sie das so?«

»Ja. Der Typ, der das mit uns vor rund fünfundzwanzig Jahren angefangen hat, war vorher Künstleragent, einer der besten in L. A. Er wollte dabei bleiben, bis sich eines Tages jemand die Mühe gemacht hat, ihm zu erklären, wie eine Lebensversicherung arbeitet – ich meine, wirklich arbeitet. Also, wie Sie vermutlich wissen, ist eine Lebensversicherung so was wie eine Lizenz zum Stehlen, und damit geb ich bestimmt kein Geschäftsgeheimnis preis.«

»Nein«, sagte ich, »das tun Sie nicht.«

»Dieser ehemalige Agent – er heißt Ronnie Saperstein und ist jetzt unser Aufsichtsratsvorsitzender –, also, zuerst hat er sich nach einer kleinen Versicherungsgesellschaft umgesehen und ist dabei auf die träge im Sonnenschein vor sich hindösende Pacifica Life and Casualty in Santa Barbara gestoßen. Mit denen hat er einen Deal gemacht und als Erstes jeden seiner Klienten – damals hatte er um die dreißig – für eine Million Dollar pro Nase zu einem speziellen Gruppentarif versichert. Das war natürlich ein fetter Brocken für eine so kleine Gesellschaft wie Pacifica damals, und Ronnie wird über Nacht Vizepräsident. Also, er hatte immer noch diese eine Klientin, eine ziemlich attraktive Schauspielerin, deren Karriere allerdings auf Eis lag. Aber sie hatte immer noch diese grandiosen Titten. Also versichert Ronnie sie für fünf Millionen – pro Stück. Na, damit ist sie in die Nachrichten gekommen, und auf einmal wollten alle Agenten alles versichern, vom Silberblick ihrer Kunden bis zu ihrer Stimme. Und so hat das Arsch-und-Titten-Geschäft angefangen.«

»Aber Sie sind vor allem eine Lebensversicherung?«

»Vor allem. Die Schadensversicherung ist eine Nebenbeschäftigung, bringt aber eine Menge Geld, weil uns über die Jahre die Arsch-und-Titten-Reklame, ob Sie’s glauben oder nicht, jede Menge gute konservative Geschäfte an Land gezogen hat – Museen, Lagergesellschaften und so weiter.«

»Wofür haben Sie Jack Marsh eingesetzt, Leben oder Schaden?«

»Beides«, sagte Spivey. »Aber vor allem Leben. Immer wenn ein Typ auf die Idee kommt, seine Frau für ein paar hunderttausend Dollar zu versichern, und sie eine Woche später bei einem Autounfall stirbt, schicken wir Jack, um mit ihm zu reden. Darin ist er ziemlich gut.«

»Ich hab gehört, dass er mit dieser Goodwater eng befreundet ist, der das Plinius-Buch gehört.«

»Soviel ich weiß, sind Maude Goodwater und er mehr als nur gute Freunde«, sagte Spivey. »Sie leben zusammen.«

»Ich hab auch gehört, Sie wären damit einverstanden gewesen, dass sie Marsh losschickt, um das Buch zu holen.«

»Wenn wir zwischen ihm und einer Kompanie Marines hätten wählen können, hätten wir wohl immer noch ihn genommen. So gut ist er. Jedenfalls glaub ich das.«

»Er hat das Buch gestern abgeholt«, sagte ich.

»Gestern Morgen.«

»Und als Nächstes ruft jemand mit einer hohen Stimme und dem Mund voller Murmeln bei Ihrer Gesellschaft an und sagt, sie hätten das Buch und würden es Ihnen für eine Viertelmillion zurückverkaufen. Was haben die über unseren Jack Marsh gesagt?«

»Was glauben Sie, wer das ist?«, sagte er. »Eine Frau oder ein Mann, der wie eine Frau klingen will?«

»Weiß ich nicht«, sagte ich.

»Also, wer auch immer das war, hat gesagt, Jack wäre wohlauf.«

»Ist das alles?«

»Und dass sie ihn laufen lassen, wenn sie das Geld haben.«

»Haben Sie ihr das geglaubt?«

»Ihr?«

»Ich nenne die Stimme so«, sagte ich. »Sie.«

Spivey schaute auf sein leeres Glas. Ich nahm die Flasche und füllte nach. Diesmal nahm er einen kleinen Schluck und rollte ihn im Mund herum, bevor er ihn schluckte. »Es geht also auch um Entführung?«

»Sieht so aus.«

»Ich hab noch nie mit Kidnappern zu tun gehabt«, sagte er. »Ich hatte es mit gewöhnlichen Gangstern zu tun, aber noch nie mit Entführern. Sie aber schon, oder?«

»Ein paarmal.«

»Wie war’s so?«

»Widerlich.«

»Hab ich mir gedacht.«

»In der Hälfte der Fälle werden die Opfer umgebracht«, sagte ich. »Vielleicht in etwas mehr als der Hälfte.«

»Sie meinen, Marsh hätte eine Fifty-fifty-Chance?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Die wollen ja kein Lösegeld für ihn. Die wollen eine Viertelmillion für das Buch, nicht für ihn.«

»Verdammt viel Geld«, sagte Spivey.

»Noch mehr, wenn man meine Fünfundzwanzigtausend mitrechnet.«

»Ich hab das nicht vergessen.«

»Mein Anwalt kriegt zehn Prozent davon.«

»So spielen Sie das also?«, sagte Spivey. Es schien ihn zu interessieren.

Ich nickte. »Ich hab mich eben etwas gefragt. Sie kennen doch Jack Marsh. Wäre eine Viertelmillion Dollar eine Menge Geld für ihn?«

Spivey starrte mich an. »Die Frage ist mir auch durch den Kopf gegangen«, sagte er.

»Und?«

»Ich bin nicht sicher. Menschen machen komische Sachen für so viel Geld. Jack ist ein Mensch. Vielleicht hat er beschlossen, was Komisches zu machen.«

»Wäre möglich, wie?«

»Ja«, sagte Spivey. »Genau das ist es. Möglich.«

»Wie läuft das jetzt mit dem Geld?«

»Wir haben mit der Riggs-Bank hier etwas vereinbart«, sagte er. »Ich kann es morgen jederzeit abholen, in jeder von den Dieben gewünschten Form. Die haben nicht gesagt, wann oder wo das sein soll, oder?«

»Nein.«

»Wie sieht es mit der Polizei aus?«

»Sie versuchen die Sache unter dem Deckel zu halten«, sagte ich. »Der Typ, der den Deckel hält, ist ein Lieutenant Fastnaught.«

»Kennen Sie ihn?«

»Ich hab schon mal mit ihm zusammengearbeitet.«

»Wie ist er so?«

»In Ordnung.«

»Das ist nicht unbedingt die wärmste Empfehlung, die ich je gehört habe.«

»Sagen wir es mal so: Er ist besser als einige und schlechter als andere.«

»So einer also.«

Ich nickte. »So einer.«

»Das lässt noch eine Frage offen«, sagte er.

»Nämlich?«

»Das FBI. Wenn’s ’ne Entführung ist, wäre das deren Spielplatz, oder?«

»So seh ich das auch.«

»Hat dieser Polizist … wie ist nochmal sein Name?«

»Fastnaught.«

»Ja, Fastnaught. Hat er mit denen gesprochen?«

»Ich hab ihn nicht gefragt«, sagte ich. »Und zwar, weil ich ihn nicht daran erinnern wollte, falls er’s vergessen hat.«

»Klingt, als ob Sie nicht viel Wert aufs FBI legen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Manchmal trumpfen die ein bisschen zu sehr auf.«

»Also würde es Sie nicht kümmern, wenn das FBI nicht hinzugezogen würde?«

»Würde es nicht.«

»Wenn es Sie nicht kümmert, dann mich auch nicht. Und die Diebe, schätze ich, ebenso wenig.«

»Ja«, sagte ich. »Die bestimmt nicht.«

»Dann bleibt nur noch Jack Marsh. Was meinen Sie?«

»Vielleicht ist der schon jenseits des Kümmerns.«

Spivey stand auf. »Ja«, sagte er. »Vielleicht.«

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