Читать книгу Kursänderung der C. C. - Roswitha Koert - Страница 10
ОглавлениеAngelika schrie. Sie versuchte, mit den Händen einen Halt zu finden. Doch ihr Körper wurde von heftigen Erschütterungen hin und her gerissen.
»Oh Gott«, stieß sie gepresst hervor, als Norbert sie mit seinen Armen umfing und versuchte, sie festzuhalten. Ihre Handtasche, die sie auf dem kleinen Tisch abgestellt hatte, fiel polternd herunter. Angelikas Körper rutschte von der seidenen Tagesdecke ab, sie landete auf dem Boden. Wieder schrie sie auf.
»Hast du dir wehgetan?«, keuchte Norbert, bevor er ebenfalls herunterfiel. Er landete auf Angelikas Po und stöhnte auf. Die Laute, die Angelika von sich gab, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Sie klangen wie von einem Tier, gequält und animalisch. Ein Koffer fiel um, bedeckte Norberts Beine. Doch er schien nicht darauf zu achten. Sein Körper bäumte sich auf und endlich schrie auch er.
Mit zitternden Beinen ging Angelika ins Bad. Das fing ja gut an. So etwas hatte sie seit Wochen, nein, seit Monaten nicht mehr erlebt oder sogar schon über ein Jahr nicht mehr. Sie betrachtete sich im Spiegel. Über ihrem rechten Auge entdeckte sie eine kleine Schramme, die etwas blutete. »Bestimmt von dem Sturz auf den Boden«, murmelte sie und lächelte ihr Spiegelbild entschuldigend an. Ja, es war etwas hoch hergegangen, gleich, nachdem sie ihre Kabine bezogen hatten.
Sie hatte kaum Gelegenheit, ihr neues Domizil zu betrachten, das sie nun acht Tage beherbergen würde. Norbert war regelrecht über sie hergefallen, hatte sie auf das Bett geschubst, ihre Jeans heruntergezerrt und ihre Bluse aufgerissen. Das teure Stück konnte sie jetzt bestimmt entsorgen.
Egal, es war toll gewesen. Ob das nun jeden Tag so …?
Angelika grinste wieder. Jetzt erst einmal duschen.
Ramil, der philippinische Kabinenboy, hatte ihnen in holprigem Englisch mitgeteilt, dass sie auf Deck 9 ›Francia‹ zu einem Willkommensbuffet erwartet wurden. Dann hatte er ihnen ein mehrseitiges Blatt ausgehändigt, das die Überschrift »Costa Today« trug. Angelika war leider nicht dazu gekommen, sich dieses Informationsblatt näher anzusehen.
»Hoffentlich ist das Ding nicht heruntergefallen und ich habe es mit meinem Körper in Fetzen gerissen«, sinnierte sie, während sie sich das wohlig warme Wasser über den Rücken laufen ließ. Eigentlich schön geräumig, diese Dusche. Sie hatte sich alles etwas enger vorgestellt. Auch die geschmackvolle Einrichtung überraschte sie.
Angelika wickelte sich in ein flauschiges grünes Badetuch, das farblich auf den Teppichboden der Kabine abgestimmt war, und öffnete die Tür. Norbert lag schnarchend auf dem Bett. Typisch, dachte sie. Sie streichelte ihm zärtlich über den leicht gerundeten Bauch und flüsterte in sein Ohr:
»Aufwachen, der Kapitän erwartet uns zum Empfangsbuffet auf Deck 9.«
Norbert brummte etwas, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. Angelika entdeckte unter seinem Körper die Schiffszeitung und zog sie vorsichtig hervor. Ah, Glück gehabt. Sie war noch ganz!
»Civitavecchia, Freitag, 13. Januar 2012 – Willkommen an Bord«, las sie. Aber den Rest der eng bedruckten Bordzeitung würde sie sich nachher ansehen. Jetzt hatte sie Hunger. Und sie wollte endlich Deck 9 kennenlernen.
»Los, Norbert, steh auf. Deine Frau verhungert.«
Angelika kannte ein paar todsichere Griffe, um ihren Ehemann wach zu bekommen. Sie funktionierten immer.
Eine halbe Stunde später wanderten die beiden Hand in Hand den langen Gang von ihrer Kabine zum Fahrstuhl.
Auf dem Flur vor dem Fahrstuhl wartete eine lärmende italienische Familie. Eine bunt gekleidete ältere Dame mit großen goldenen Ohrringen trug ein kleines Mädchen auf dem Arm, das sie hin und her schaukelte und mit lautem Gesang zu beruhigen versuchte. Fast gelang es ihr auch, das Weinen des Mädchens zu übertönen, wenn nicht ein junges Pärchen, wohl die Eltern des Kindes, mit großem Palaver auf die Kleine eingeredet hätten. Als Angelika und Norbert herbeischlenderten, rief die italienische Sippe fröhlich:
»Buona sera, Signora, Signore«, und redete anschließend sofort auf die beiden ein. Norbert versuchte es mit: »Oh, nix comprende, we are German«, doch die Italiener lachten nur laut und plauderten weiter.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich und die Wartenden traten in eine glänzende Glaskabine. Die gleißenden Lichteffekte, die sich in Grün-, Gelb- und Rottönen tausendmal im spiegelnden Glas brachen, blendeten Angelika. Sie schloss die Augen, lauschte den sphärischen Klängen einer Meditationsmusik und wartete darauf, dass sich die gläserne Kabine in Bewegung setzte. Langsam schwebten sie nach oben. Angelika blinzelte, dann wagte sie einen weiteren Versuch, den umgebenden Luxus zu würdigen: Vier gläserne Außenfahrstühle schwebten zwischen grünleuchtenden Fassaden durch das riesige Atrium des Schiffs. Monumentale Grafiken in sanften Erdfarben schmückten die Wände.
Schaute man herunter, erblickte man in der Mitte der Lounge auf einem großen Podest einen gläsernen Flügel, über dessen weiß-schwarze Tasten die Finger eines befrackten Musikers flogen. Goldverzierte Wandlampen in Form riesiger Blüten zogen Angelikas Blicke magisch auf sich. Als sie aus dem Fahrstuhl trat, taumelte sie leicht. Ihr Gehirn hatte Probleme, die vielen optischen Eindrücke des Traumschiffes zu verarbeiten.
Auf Deck 9 ›Francia‹ gab es das Buffetrestaurant ›Parigi‹, das Spezialitäten des Küchenchefs in Selbstbedienung anbot, das Grill-Buffet ›Lido Riviera Magica‹, das direkt neben dem Hauptpool lag, den etwas kleineren Grill ›Lido Mediterrano‹ am hinteren Pool und die Pizzeria ›Parigi‹. In jedem Restaurant standen freundlich dreinschauende Herren mit riesigen Kochmützen hinter dampfenden Töpfen, schwenkten Pfannen oder wendeten zart gebräunte Fleischstücke.
Angelika und Norbert suchten sich einen freien Tisch in der Menge und wurden umgehend von einem Kellner in einem rot glänzenden Jackett auf Deutsch angesprochen. »Möchten etwas trinken?«, klang es ihnen freundlich mit asiatischem Akzent entgegen und Norbert bestellte eine halbe Flasche Weißwein und eine Flasche Wasser.
Angelika schlenderte zum Buffet und stellte sich einen riesigen Salatteller zusammen. Norbert stand hinter ihr und sang ihr ins Ohr: »Eine Seefahrt, die macht hungrig, eine Seefahrt, die …«
»Wir sind doch noch gar nicht abgefahren«, lächelte Angelika zurück, worauf Norbert erwiderte: »Was hat dich denn dann so hungrig gemacht?«
Dabei zwickte er ihr unauffällig in den Po und ging dann schnurstracks hinüber zum Grillbuffet, um sich mit einem Berg Lammkoteletts zu versorgen.
Angelika brachte ihren Salatteller zum Tisch und ging dann noch einmal los, um sich ein Hauptgericht auszusuchen. Sie entschied sich für Pangasiusfilet und Scampis, wählte dazu ein Kartoffelgratin und häufte auch etwas von der duftenden Gemüsepfanne auf ihren Teller.
»Wenn das so weiter geht, passt du am Ende der Reise in keine Hose mehr hinein«, warnte ihre innere Stimme, aber heute stellte sich Angelika taub.
Mit dem gut gefüllten Teller stand sie etwas ratlos herum und suchte den Tisch, den Norbert und sie reserviert hatten. Von den kulinarischen Genüssen überwältigt, war sie immer weiter gegangen, von einem Buffet zum nächsten, und nun hatte sie total die Orientierung verloren. Wo war er denn nur ihr Tisch und wo war Norbert?
Ein etwas rundlicher Kellner mit strohblonden Haaren sprach sie an:
»Have you got a problem?«
»Ich finde meinen Mann nicht wieder«, antwortete Angelika und ärgerte sich, dass sie sich mal wieder nicht traute, ein paar Brocken Englisch zu sprechen.
»Oh, wir haben viele nette Männer hier«, lachte der Blonde, »kommen Sie mit, wir suchen einen für Sie aus.«
Er dirigierte sie in die entgegengesetzte Richtung, lief durch eine große, grün glänzende Tür und Angelika beeilte sich, ihm zu folgen.
Tatsächlich entdeckte sie nach einiger Zeit den Tisch, an dem Norbert bereits wieder Platz genommen hatte.
»Thank you very much«, rief sie dem Kellner zu und zerbrach sich insgeheim den Kopf, woher der wusste, wo ihr Tisch war.
»Ich habe mich verirrt«, erklärte sie Norbert, der ihr sein Weinglas zum Anstoßen entgegenhielt.
»Ich musste leider schon anfangen. Die Lammkoteletts schmecken nur gut, wenn sie heiß gegessen werden.« Angelika nickte und machte sich über ihren Fisch her.
Punkt 19.00 Uhr legte die Costa Colomba im Hafen von Civitavecchia ab. Sie nahm Kurs auf Savona, das 197 Seemeilen entfernt war.
Civitavecchia lag kurz vor Rom. Angelika und Norbert waren mit dem Roma-Express eine knappe Stunde bis zum Hafen gefahren.
Vor ihrer Kreuzfahrt hatten sie drei Tage in der Ewigen Stadt verbracht und die Sehenswürdigkeiten der italienischen Metropole bewundert. Sie sahen in der Basilika San Giovanni ein Stück des Tisches, an dem Jesus Christus das Abendmahl abgehalten hatte. Nahe der Kapelle Scala Santa, standen sie auf den 28 Stufen, die Jesus bei seinem Prozess zu Pontius Pilatus gegangen war. Dort hatte Norbert Angelika zärtlich und innig geküsst, wie seit langem nicht mehr.
Im Petersdom standen sie vor der letzten Ruhestätte des Heiligen Petrus und bewunderten die Kuppel, die Michelangelo einst mit seinen üppigen Malereien verziert hatte.
Angelika musste abends im Hotel ihre schmerzenden Füße mit Salbe einreiben, dennoch fühlte sie sich stark und gesund, wie schon lange nicht mehr.
Die vielen Eindrücke, die sie in Rom in sich aufnahm, vertrieben ihre düsteren Gedanken, ließen sie wieder frei atmen. Ein paar interessierte Blicke aus der Menge der Touristen gaben ihr etwas von ihrem Selbstbewusstsein zurück, das sie schon für immer verloren glaubte.
Ja, diese Reise würde ihr guttun. Sie würde eine andere sein, wenn sie wieder nach Hause kam. Keine kleine dumme Hausfrau, die sich verhaspelte, wenn sie den Mund aufmachte. Die unter schlabberigen Shirts die etwas rundlich gewordenen Hüften versteckte und die seit Jahren den gleichen pflegeleichten Bob trug, weil ihre Friseurin meinte, dass ihr dies am besten stünde.
Diese Reise war eine Chance für Angelika. Die Chance auf einen Neuanfang und die Hoffnung, endlich das Vergangene vergessen zu können. Frei zu werden von dieser blöden Eifersucht, die immer wieder wie die Krallen eines Löwen nach ihr griff. Es war ein einmaliger Fehltritt, redete sie sich ein. Kein Grund, das eigene Leben dafür wegzuwerfen.
Angelika und Norbert hatten das Ablegemanöver der Costa Colomba oben auf dem Panoramadeck verfolgt. Staunend beobachteten sie, wie der Riese ganz langsam aus dem Hafenbecken glitt und Kurs auf das offene Meer nahm.
»Lass uns noch einmal auf unsere Kabine gehen. Ich möchte mir das Tagesprogramm ansehen und schauen, ob es heute Abend schon ein Showprogramm gibt, und außerdem möchte ich die genaue Reiseroute noch einmal studieren und mich noch umziehen und …«
»Schon gut, überredet«, lachte Norbert. »Du bist ja ohnehin nicht mehr zu bremsen.«
Von Ramil hatten sie erfahren, dass sie zur zweiten Tischzeit gehörten, die begann um 20.45 Uhr. Sie hatten also noch etwas Zeit, sodass Angelika ihren Wissensdurst stillen und sich auch für das erste Abendessen angemessen kleiden konnte.
»Oh Gott, stell dir vor, im Theater ›Atene‹ hat es um 19.30 Uhr schon die erste Show gegeben. ›Elan, der fantastische Pantomime‹. Und wir haben das verpasst.« Angelika klang enttäuscht.
»Wird das nicht noch mal wiederholt? Ich habe eben auf dem Deck von jemandem aufgeschnappt, dass das Showprogramm immer zweimal gezeigt wird.«
»Ja, ja, das stimmt schon. Aber die zweite Show beginnt um 21.15 Uhr und ist für die Gäste, die die erste Tischzeit haben. Wir sind ja dann beim Abendessen. Zweite Tischzeit. Beginn: 20.45 Uhr. Du erinnerst dich?«
Norbert nahm Angelika in den Arm.
»Man kann nicht alles haben, mein Mäuschen. Du wolltest gern sehen, wie die Costa Colomba ablegt. Und das war doch auch wirklich interessant. Dass wir dadurch den Pantomimen verpasst haben, finde ich nicht so schlimm. Den kann ich dir auch machen. Schau mal, an was denke ich jetzt wohl?«
Norbert machte ein paar eindeutig zweideutige Bewegungen und Angelika musste lachen.
»Okay, okay, du bist der volle Ersatz für ›Elan, den Wunderbaren‹, den ich leider nicht gesehen habe. Aber noch einmal passiert mir das nicht. Von jetzt an wird die Today-Bordzeitung vom ersten bis zum letzten Satz studiert, und zwar noch vor dem Frühstück, ist das klar?«
»Aye, aye, Madam, zu Befehl.« Norbert kicherte. »Gibt’s noch andere wichtige Informationen, die wir auf keinen Fall übersehen dürfen?«
»Ja, den Wellnessbereich ›Samsara Spa‹ kann man heute Abend noch bis 22.00 Uhr besichtigen. Du, das sollten wir unbedingt machen. Das muss traumhaft sein. Meinst du nicht, dass wir uns die eine oder andere Wohlfühlmassage gönnen sollten? Mit Blick aufs offene Meer, wäre das nicht wunderbar?«
»Denkst du gelegentlich auch mal an unser Portemonnaie? Alles hier ist wunderbar, aber auch wunderbar teuer.«
»Du Geizhals. Erst überredest du mich zu so einer Reise und dann drehst du den Geldhahn zu. Ich fass es nicht!«
Norbert setzte gerade zu einer patzigen, aber ebenfalls nicht ernst gemeinten Entgegnung an, als Angelika nachdenklich wurde.
»Also, mal im Ernst, wir müssen schon ein bisschen auf unser Geld achten. Es ist ja so einfach hier an Bord. Wir bezahlen alles mit unserer Colomba-Card, abgerechnet wird später über unsere Kreditkarte. Da kann man schnell den Überblick verlieren.«
»Ja, du hast recht. Einige Passagiere zahlen vorher einen Bargeldbetrag ein. Wenn der aufgebraucht ist, wird man informiert. Ich glaube, das wäre besser gewesen.«
»Egal, nun haben wir mal unsere Kreditkarte als Zahlungsmittel angegeben und müssen halt ein bisschen aufpassen. Heute Abend werde ich mir beim Essen noch einen Wein gönnen, ab morgen trinke ich dann nur noch Wasser. Ist auch besser für die Figur.«
»Nein, das wirst du nicht machen. Ich liebe es, wenn du einen Schwips hast. Dann bist du nämlich viel leichter zu verführen.«
Angelika kreischte, denn Norbert hatte ein paar Griffe angewendet, die sie obszön fand, aber hin und wieder ganz gerne hatte.
»Du, keine Zeit für Dummheiten. Wie müssen uns umziehen. Sonst verpassen wir noch das erste Galadinner.«
Punkt Viertel vor neun saßen Norbert und Angelika an ihrem Tisch. Sie waren die Ersten, weitere vier Plätze warteten noch darauf, besetzt zu werden.
Der Ober reichte ihnen eine Menü-Karte mit der verheißungsvollen Überschrift ›Willkommensgala-Abendessen‹.
Zuvor hatte er den Stuhl für Angelika zurechtgerückt und ihr die Serviette auf den Schoß gelegt. Angelika fühlte ein leichtes Unbehagen, die formvollendete Höflichkeit, die Etikette des Kellners, die gezwungene Atmosphäre beschleunigten ihren Puls. Hoffentlich machte sie nur alles richtig. Erleichtert sah sie, dass auf der Speisekarte eine deutsche Übersetzung stand. Trotzdem sprachen die Kellner nur Englisch. Ramil übrigens auch. Hatte die Costa Concierge-Reederei sie nicht mit einem ›deutschsprachigen Schiff‹ geködert?
Angelika wählte als Vorspeise ein Kalbscarpaccio auf kleinem Salat, ließ die angebotenen Suppen aus, auch die frischen Herzmuscheln mit Brokkoli und die Trofie, die köstlichen italienischen Spätzle, bestellte sie nicht.
Bei den Hauptgerichten entschied sie sich für ein gebratenes Lachsfilet mit Weißweinsauce, dazu einen gemischten Salat.
Die separate Dessertkarte klang so verlockend, dass Angelika sich noch nicht entscheiden wollte.
»Please later«, lächelte sie den Kellner an und war sich nicht sicher, ob er das verstanden hatte. Er verbeugte sich tief und wandte sich nun Norbert zu.
Norbert, der zuvor schon eine Flasche Chardonnay doc Serbato delle Langhe ›Beni di Batasiolo‹ für 21,— € geordert hatte, gab seine Menübestellung mit weltmännischer Sicherheit und in einem perfekten Englisch auf. Er ließ keinen Gang aus und bestellte zwei Desserts.
»Vielleicht kannst du mir beim Nachtisch etwas helfen?«, flüsterte er Angelika zu, als der Kellner sich entfernte.
Angelika saß mit hochrotem Kopf auf ihrem Stuhl, blickte auf das ruhige Wasser und nickte nur leicht, als ein zweites Pärchen an ihren Tisch kam.
Die aus Zürich stammenden Eheleute waren deutlich jünger als Norbert und Angelika. Sie waren beide sehr elegant gekleidet, ›overdressed‹ fand Angelika.
Sie hingegen hatte heute Abend eine marineblaue Hose und eine gestreifte Bluse gewählt. Die Schweizerin in ihrem eng anliegenden schwarzen Kleid mit einer pinkfarbenen Stoffrose am Dekolleté sah aus, als sei sie zu einem Theaterbesuch eingeladen.
»Ich finde das sehr gut, dass Sie die Kleidungsempfehlung nicht so ernst nehmen. Morgen ziehe ich auch etwas Bequemeres an«, flüsterte sie Angelika zu.
»Kleidungsempfehlung?« Angelika war irritiert. Hatte sie etwas nicht mitbekommen?
»Ja, haben Sie nicht die Bordzeitung bekommen? Auf der Seite 3 steht immer ganz oben rechts in der Ecke, welche Kleidung beim Abendessen empfohlen wird. Heute stand dort ›Gala/Elegant‹. Wahrscheinlich wegen dem ›Willkommensgala-Abendessen‹. Wenn ›Leger‹ angegeben ist, können Sie anziehen, was Sie wollen. Nur bitte nicht in Badeschuhen kommen!«
Die Schweizerin lachte hinter vorgehaltener Hand, als habe sie den Witz des Jahrhunderts gemacht.
Angelika spürte ein Kribbeln in ihrer Luftröhre und sie wusste, dass das gleich einen starken Hustenreiz auslösen würde.
»Auch das noch«, dachte sie und überlegte kurz, ob sie einfach aufstehen, eine plötzliche Unpässlichkeit verkünden und sich dann auf ihre Kabine zurückziehen sollte.
Aber nein, sie wollte Norbert nicht gleich den ersten Abend verderben.
»Sie haben sicherlich schon öfter ...?«, fragte sie stattdessen ihre Tischnachbarin.
Leider konnte sie ihren Satz nicht beenden, weil ein heftiger Husten ihr das Sprechen unmöglich machte.
»Ob wir schon viele Kreuzfahrten gemacht haben, wollten Sie sicherlich wissen. Ja, das kann man so sagen. Letztes Jahr waren wir auch auf der Costa Colomba. Wir lieben dieses Schiff. Die Italiener sind so herrlich ungezwungen, alle sind so fröhlich und der Service ist einfach perfekt. Auch die ganze Organisation. Wirklich einmalig.«
Jetzt mischte sich auch der bisher so schweigsame Ehemann ein und ergänzte die Ausführungen seiner Frau im angemessenen Schweizer Tempo und mit rollendem ›R‹.
»Wirr sind im vergangenen Jahr von Savona aus nach Barrcelona gefahren, dann hinüber nach Marrokko, von dort aus nach Tenerrifa, dann nach Madeirra, Malaga, Rrom und zurück nach Savona.«
Norbert nickte anerkennend. »Eine tolle Reise. Wie viele Tage waren Sie unterwegs?«
»Elf Tage«, antwortete die Eidgenossin für ihren Mann. »Aber im Atlantik hatten wir einen schrecklichen Wellengang. Wir waren grün und blau im Gesicht. Das herrliche Essen konnte man gar nicht genießen.«
Ihr Mann nickte zustimmend und machte ein ganz bekümmertes Gesicht – was wohl von der Erinnerung an das damalige Unwohlsein herrührte.
»Gut, dass wir auf dieser Reise nur im Mittelmeer bleiben.«
Norbert, der gerade seine gebratene Kalbskeule mit Fondant-Kartoffeln und Weißkohl genoss, stellte sich wohl vor, wie sein Essen auf einen vom Seegang gereizten Magen wirken würde.
»Ich dachte immer, ein so großes Schiff könne gar nicht so schaukeln!«, sagte Angelika jetzt in die Runde.
Damit hatte sie wieder die Informationsquelle des Schweizer Landsmannes zum Sprudeln gebracht. Obwohl Angelika normalerweise allergisch gegen jegliche Besserwisserei reagierte, hörte sie dem Schweizer interessiert zu.
»Die Costa Colomba ist gut 290 Meterr lang und 35 Meterr brreit. Ihrr maximalerr Tiefgang ist 8,2 Meterr.«
Der Schweizer legte eine Pause ein, offensichtlich strengte ihn sein Vortrag sehr an. Angelika musste ein Grinsen unterdrücken, die rollenden ›Rs‹ hörten sich wirklich zu komisch an.
»Sie hat zwei elektrrische Prropellerrmotorren mit überr 57.000 PS und sechs Dieselmotorren zur Enerrgieverrsorrgung. Außerrdem hat sie noch zwei Balance-Ruderr. Sie liegt schon sehrr rruhig, auch bei hohem Wellengang. Aber derr Mensch hat halt ein sehrr empfindliches Gleichgewichtsorrgan.«
Erschöpft sank der Schweizer nun über seinem Teller zusammen. Angelika wusste nicht genau, ob ihn die lange Rede so ermüdet hatte oder die Erinnerung an die Seekrankheit während der letzten Reise.
»Toll«, antwortete sie deshalb, auch, um den Armen etwas aufzumuntern. »Was mag ein solches Schiff kosten?«
Sofort erwachte der Tischherr wieder zum Leben, sein Wissen schien wie ein Schweizer Uhrwerk abspulbar.
»Die Costa Colomba hat bei ihrrem Bau im Jahrr 2005/2006 565 Millionen Dollarr gekostet.«
»Ob sie unsinkbar ist?« Langsam gefiel es Angelika, den eigentlich so schweigsamen Mann zum Plaudern zu bringen.
»Ja, sie ist unsinkbarr. Genauso wie die Titanic, gnädige Frau.«
Alle am Tisch lachten, nur Angelika schaute nachdenklich.
Die beiden anderen Plätze an dem Sechser-Tisch blieben unbesetzt.
Norbert deutete mit der Hand und auf die leeren Stühle und zuckte mit den Schultern. »Ob die auch schon seekrank sind?«
»Vielleicht ein kleiner Ehekrieg zu Beginn der Reise«, kicherte die Schweizerin. »Oder ein Paar in den Flitterwochen, denen plötzlich etwas Besseres eingefallen ist.« Die beiden Frauen lachten sich an und Angelika begrub die anfängliche Antipathie gegen ihre Mitreisende.
»Eigentlich ist sie ja ganz nett«, dachte sie. »Und morgen werde ich mich mal in Schale schmeißen; mal sehen, wie sie sich dann fühlt, wenn sie leger gekleidet hier auftaucht.«
Man war schon beim Dessert angelangt. Norbert hatte eine Käsecreme an knusprigen Nüssen mit Erdbeeren und ein Zitronen-Melone-Sorbet bestellt. Das Sorbet schob er jetzt zu Angelika hinüber.
»Oh, eine Belohnung? Wofür?«, flüsterte sie ihm zu.
»Das weißt du doch genau«, raunte er zurück und Angelika nickte unauffällig mit den Augenlidern.
Sie fühlte sich allmählich nicht mehr so verkrampft und freute sich, dass das Abendessen sich doch noch so nett entwickelt hatte.
Es war genau 21.45 Uhr, als die junge, hübsche Züricher Dame ihr Gelato del giorno im hohen Bogen in ihr Dekolleté beförderte und dabei auch die pinkfarbene Rose traf. Ein heftiger Stoß hatte die stolze Costa Colomba erzittern lassen.