Читать книгу Kursänderung der C. C. - Roswitha Koert - Страница 6
ОглавлениеSandra war ganz ruhig. Ihr Atem ging gleichmäßig und kontrolliert. Selbstbeherrschung war ihr sehr wichtig. Ein Sedativum, das Dr. Hartwig ihr verschrieben hatte, half dabei. Verstohlen sah sie sich um. Ob es hier im Wartezimmer noch andere Patienten mit einer ähnlichen Diagnose gab? Vielleicht die ältere Dame, die sich demonstrativ hinter einer Illustrierten versteckte. Oder die junge Mutter, die sich vergeblich bemühte, ihren kleinen Sohn ruhig zu halten.
»Mama, warum hat die Frau so kurze Haare?«, krähte er jetzt und Sandra bereute, sich heute Morgen gegen ihre Perücke entschieden zu haben. Ihre kurzen Stoppeln gingen eben doch noch nicht als schicke Kurzhaarfrisur durch, da konnte Oliver sagen, was er wollte.
»Frau Baumgart bitte«, ertönte es jetzt aus der Sprechanlage und Sandra erhob sich eilig und warf dem kleinen Jungen ein Lächeln zu, der sich daraufhin sofort hinter dem Rücken seiner Mutter versteckte.
»Nehmen Sie noch einen Augenblick hier Platz, Dr. Hartwig ruft Sie sofort herein.«
Sandra kannte das Prozedere. Man war froh, der unwirklichen Atmosphäre des Wartezimmers entkommen zu sein, das Herz begann trotz der Beruhigungsmittel bereits wild zu schlagen und dann saß man unter Umständen noch länger vor dem Sprechzimmer als zuvor im Wartebereich. Sie versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Ein, aus, ein, aus. Der Puls beruhigte sich etwas. Unerwartet schnell öffnete sich die Tür und Dr. Hartwig begrüßte sie mit einem unverbindlichen Lächeln.
»Kommen Sie herein, Frau Baumgart, nehmen Sie Platz.«
Er deutete mit der rechten Hand auf einen der modernen Designer-Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.
»Sind Sie allein?« Dr. Hartwigs Frage brachte Sandras Blutdruck in schwindelerregende Höhen.
»Ich frage nur, weil Ihr Mann Sie doch häufig begleitet hat.«
»Mein Mann ist heute beruflich unterwegs, er konnte nicht …« Sandra geriet leicht ins Stottern, wie meistens, wenn sie nicht die Wahrheit sagte.
Dr. Hartwig runzelte die Stirn und blickte angestrengt auf ein dicht beschriebenes Schriftstück, das vor ihm lag.
»Der Bericht von der letzten CT-Untersuchung ist jetzt da.«
Sandra versuchte, Blickkontakt zu Dr. Hartwig herzustellen, doch er schaute angestrengt auf das Blatt vor sich.
»Stimmt etwas nicht?« Sandras Stimme klang brüchig.
Dr. Hartwig setzte seine Brille ab und rieb sich das linke Auge. »Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie. Deshalb hätte ich es auch lieber gesehen, wenn Ihr Mann Sie begleitet hätte.«
›Wie denn, er weiß ja nicht, dass ich hier bin‹, hätte Sandra am liebsten geschrien, aber sie blieb ganz still.
»Wir haben weitere Metastasen gefunden, in der Leber.«
Sandra spürte jetzt wieder die Ruhe, die sie eben im Wartezimmer empfunden hatte. Sie weinte nicht, sie schrie nicht, nur Hände und Beine schienen ihr irgendwie nicht mehr zu gehören.
»Die Chemotherapie hat nicht so angeschlagen, wie wir uns das erhofft hatten. Aber Sie dürfen den Mut nicht verlieren, wir werden etwas anderes versuchen.«
Sandras Kopf suchte verzweifelt nach medizinischen Terminologien. Sie musste jetzt ganz cool bleiben, sonst verlor sie völlig die Fassung. »Sind es mehrere infiltrativ wachsende Tumore in der Leber …?«
»Leider ja. Und sehr verstreut. Deshalb ist eine OP wohl nicht möglich. Aber es gibt eine neue Chemo, die in den USA entwickelt wurde und mit der hat man erstaunliche Erfolge bei der Bekämpfung von sekundären Lebertumoren erzielt.«
»Wann könnte ich damit anfangen?« Sandra lauschte erstaunt ihrer eigenen Stimme hinterher. War das wirklich sie, die da sprach? Ihre Worte klangen so unbeteiligt und kalt, so wie sich ihre Hände anfühlten. Und in ihrem Kopf machte sich ein Gedanke immer breiter: Das darf Oliver nicht erfahren.
»Ja, das ist etwas, was ich mit Ihnen heute besprechen wollte. Die Therapie, die ich eben erwähnt habe, ist noch ganz neu. Sehr wirksam, eine echte Chance für Sie. Aber leider nicht ohne Nebenwirkungen. Und da Sie ja immer noch Beschwerden von der letzten Chemo haben …«
»... meinen Sie, dass ich das sowieso nicht schaffen würde!«, unterbrach Sandra Dr. Hartwig.
»Nein, nein, Sie verstehen mich völlig falsch!« Dr. Hartwig klang erschrocken. »Das habe ich doch nicht gemeint. Ich denke nur, dass es medizinisch vertretbar und auch sinnvoll wäre, wenn man Ihrem Körper die Möglichkeit einer funktionellen morphologischen Regeneration gibt.«
»Wie lange?« Sandra sprach jetzt nur noch im Telegrammstil.
»Schauen Sie, Frau Baumgart, wir gehen in Ihrem Fall von langsam wachsenden Tumoren aus. Eine Pause von zwei bis drei Wochen ist deshalb durchaus vertretbar. Gönnen Sie sich etwas Ablenkung, lassen Sie sich verwöhnen, vielleicht eine schöne Reise mit Ihrem Mann …«
»Ein Abschiedsgeschenk, sozusagen …«
»Nein, Frau Baumgart, so dürfen Sie nicht denken. Bleiben Sie positiv. Das ist so wichtig bei dieser Krankheit!«
»Positiv denken! Aber machen Sie das mal, wenn der Krebs Ihren Körper zerfrisst!« Sandra hatte nur geflüstert.
»Frau Baumgart«, rief Dr. Hartwig jetzt scharf. »Davon ist doch gar keine Rede. Ja, wir haben Metastasen festgestellt. Aber die kann man bekämpfen. Wir tun alles für Sie. Aber Sie müssen schon mitmachen, sonst sind wir wirklich machtlos!«
Sandra senkte den Kopf. Wenn Sie doch endlich weinen könnte. Aber es schien, als sei ihr ganzer Körper ausgetrocknet. Sie griff zu dem Glas Wasser, das Dr. Hartwig ihr gereicht hatte.
»Also gut, ich überleg’ mir das mit der Reise. Aber sie müssen mir einen Gefallen tun, mein Mann darf nichts von der neuen Diagnose erfahren …«
»Das halte ich für keine gute Idee, Frau Baumgart. Ihr Mann ist so fürsorglich, so besorgt um Sie …«
»Eben, ich könnte das nicht ertragen. Bitte, sagen Sie ihm nichts.«
»Wenn Sie das wirklich möchten, muss ich mich danach richten. Aber ich hielte es für besser, wenn Sie die Krankheit zusammen bekämpften und wenn Sie ehrlich Ihrem Mann gegenüber wären.«
»Sie sollten sich den Wünschen einer Patientin nicht widersetzen, Dr. Hartwig.« Sandras Stimme klang plötzlich sehr hart.
»Natürlich, Frau Baumgart.«
»Wann soll ich wiederkommen?«
»Wenn Sie sich für eine Reise entscheiden, möchte ich Sie gern vorher noch einmal sehen. Wir machen einen kleinen Check und besprechen die Medikation für Ihren Urlaub. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute, Frau Baumgart.«
»Danke, Dr. Hartwig.«
Sandra schloss die Tür hinter sich geräuschlos.
Vor dem Sprechzimmer traf sie auf die junge Mutter, die ihren zappelnden Sohn fest umschlungen hielt.
»Da ist die Frau mit den Stoppelhaaren wieder«, rief der Kleine und endlich liefen Sandra die Tränen übers Gesicht.
Ihre Mutter hatte nie verstanden, warum Oliver und Sandra in München leben wollten. »So eine Großstadt frisst einen doch auf, nimmt einem die Luft zum Atmen.«
Ruhpolding, Sandras Heimat, war da schon etwas beschaulicher. Die Mutter liebte die bayerischen Traditionen, die Heimatverbundenheit. Dass es die Tochter nach München gezogen hatte, konnte sie ihr lange nicht verzeihen.
Als Sandra nun mit tränenüberströmtem Gesicht in die Anonymität der Menschenmenge auf dem Kripperlmarkt eintauchte, fand sie das Großstadtleben tröstend. Niemand kümmerte sich um sie, niemand sprach sie an. Die Menge in der Fußgängerzone schob sie über die Neuhauser Straße, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Genau das brauchte sie jetzt. Bloß keine mitfühlenden Worte, keine Umarmungen, kein Mitleid. Das hätte sie nicht ertragen können. Sie betrachtete durch einen Tränenschleier die handgeschnitzten Krippenfiguren aus aller Welt, ohne sie wirklich zu sehen. Obwohl der Markt erst vor zwei Tagen eröffnet worden war, strömten die Menschen in Scharen hierher.
Der leckere Duft eines Bratwurststandes rief Sandra in Erinnerung, dass sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Sie biss herzhaft in die Wurst, die von einer knusprigen Semmel eingehüllt war und probierte sogar einen Tupfer Senf dazu. Anschließend gönnte sie sich noch einen Becher Glühwein und bemerkte erstaunt, dass der Tränenfluss endlich verebbt war. Gleich würde sie mit der U-Bahn nach Hause fahren und Oliver erzählen, sie habe sich mit Kathrin auf dem Weihnachtsmarkt getroffen.
Plötzlich erschien ihr alles ganz einfach und nur halb so tragisch.
Sie schaffte es gerade noch hinter die kleine Bude mit den bunten Krippenfiguren, als sie mit einem heftigen Schwall ihren Mageninhalt erbrach.
»Iihh …«, hörte sie jemanden in der Menge schreien, aber sie drehte sich nicht um. Ihr Mantel hatte einige Spritzer abbekommen und sie versuchte, diese mit einem Taschentuch abzutupfen. Zum Glück entdeckte sie ein paar Meter weiter einen Toilettenwagen mit Trinkwasser, in den sie sich eilig zurückzog. Sie schloss sich in die Kabine ein und versuchte, ihren Magen durch eine bewusste Bauchatmung zu beruhigen. Am Waschbecken trank sie ein paar Schlucke Wasser und bearbeitete noch einmal die Flecken auf ihrem Mantel mit dem Taschentuch. Dann machte sie sich auf den Weg zur U-Bahn-Station.
»Hallo Sandra, wo warst du solange, ich hab mir schon Sorgen gemacht!« Oliver schloss seine Frau in die Arme.
»Ich hab mich mit Kathrin getroffen, sie wollte unbedingt auf den Kripperlmarkt in die Neuhauser Straße. Da war vielleicht ein Gedränge. Und Glühwein hab ich auch getrunken, damit du’s gleich weißt, wenn du meine Fahne bemerkst.«
Oliver lachte. »Es sei dir gegönnt. Aber schon am Vormittag Alkohol, das kenn ich ja gar nicht bei dir. Alles in Ordnung?«
»Na, klar, was soll schon sein?«
Sandra hatte ihren Mantel ausgezogen und hängte ihn nun gleich in den Garderobenschrank.
»Möchtest du etwas essen? Ich habe einen Bohneneintopf aus dem Tiefkühlschrank genommen.«
»Oh, nein, danke, wir haben Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt gegessen. Bin noch pappsatt, weißt du.«
»Okay, dann trink wenigstens einen Kaffee mit mir, ja?«
»Ja, gern, Oliver, ich verschwinde nur mal schnell auf die Toilette, bin gleich wieder zurück.«
Sandra putzte sich im Bad die Zähne, wusch sich das Gesicht und bürstete sich die kurzen Haare. Eine Weile betrachtete sie sich im Spiegel, dann griff sie nach ihrer Perücke und setzte sie auf. Schon besser. Sie zog ihre Lippen nach und legte etwas Rouge auf die Wangen. Ja, so müsste es gehen.
»Oh, ganz verändert«, bemerkte Oliver, als sie zurück in die Küche kam.
»Ja, musste mal sein. Ach, übrigens, Dr. Hartwig hat heute Morgen angerufen. Es ist alles in Ordnung mit dem letzten CT. Er meint, wir sollten doch ganz kurz entschlossen mal einen Urlaub buchen, so als Erholung nach der Chemo. Was hältst du davon?«
»Gute Idee, da hab ich auch schon mal drüber nachgedacht. Aber ich wusste nicht, was du davon hältst.«
»Ja, ich glaub’, das wäre wirklich gut. Eine Kreuzfahrt würde mir gefallen, Mittelmeer oder so. Wo jetzt schon die Sonne scheint. Das wär doch toll, oder?«
»Ja, das wäre wirklich toll. Ich besorge gleich morgen mal Prospekte, ja?«
»Tu das Oliver, eine Kreuzfahrt auf dem Traumschiff, das bringt uns auf andere Gedanken.«