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Der Fahrstuhl trug ihn hinab in seinen ersten Tag. Es war neun Uhr morgens, und die Sonne schien auf das Gitter. Sie reichten ihm eine graue Tüte mit Kleidern, von denen er vor zehn Jahren nichts hatte wissen wollen und von denen er auch jetzt nichts wissen wollte.

»Könnt ihr wegwerfen«, sagte er und betrachtete aus zusammengekniffenen Augen die Formblätter, die sie ihm über den Tresen hinschoben.

»Kannst du selbst«, sagten sie.

Er ließ die Tüte ungeöffnet in den Papierkorb fallen.

»Du musst deinen Zorn jetzt zügeln, Larsen.«

»Der ist tot«, sagte Larsen.

»Das ist früh, oder?«

»Zwei Jahre.«

Seine Hand führte die Schreibarbeit aus, die die Freiheit verlangte, man hätte fast glauben können, er habe eine Zukunft; er richtete sich gerade auf und starrte in den Spiegel an der Wand hinter den Uniformen: falscher Anzug, der so saß, wie er sitzen sollte, die Reste seiner Haarpracht über der hinteren Kopfhälfte, um die Narbe zu verbergen. Er hatte vier Wochen lang mit dem Gesicht zum Gitterfenster auf einem Hocker gestanden, um nicht wie ein lebender Leichnam zu wirken. Sein Gehör war nicht so, wie es sein sollte. Er rechnete also nicht damit, Probleme mit Geräuschen zu bekommen. An den Sichteindrücken würde er nichts ändern können, an Farben, Bewegungen, Tempo, er würde es mit den neuen Selbstverständlichkeiten aufnehmen müssen, die Freiheit würde ihm Möglichkeiten geben; er würde teilnehmen und arbeiten, einkaufen, eine Zeitung lesen. Das war sein Plan. Eine Serie von Tagen zu füllen, die den Rest eines gekenterten Lebens ausmachen würden. Er hatte vor, das unbemerkt hinter sich zu bringen, den Käfig mit sich zu tragen.

Larsen nahm Abschied von dem Mann im Spiegel, ließ die Papiere denselben Weg nehmen wie die Kleider – und dann brauchte er nur einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich unter einen Himmel hinauszuschleichen, der über ihn hereinbrach wie eine kalte Dusche. Er fröstelte. Es war immer dasselbe. Er bog um eine Ecke und ging durch eine Straße, nackt wie ein Kind, seine Beine waren unsicher, es wimmelte und brauste und sein Mund lachte, der Verkehr dröhnte und ein Bus schnaufte wie ein Wal, Kinderlachen, raschelnde Stimmen und knirschende Schritte. Er war zweiundsiebzig Jahre alt bei diesem Spießrutenlauf in sein weiteres Leben. Über viel zu viele von diesen Jahren war er nicht Herr gewesen: Er hatte wegen Raubüberfalls gesessen, wegen Körperverletzung, wegen Schmuggels und wegen Betrugs, es gab so ungefähr kein Vergehen, für das Larsen noch nicht gesessen hätte.

Aber er nahm es hin, immer gibt es etwas, dessen man sich schämen kann, immer gibt es etwas zu bereuen. Larsen hatte nichts anderes getan, vor tausend Jahren hätte er ein gefeierter Krieger oder eine Stütze der Gesellschaft sein können. Jetzt war er vollauf damit beschäftigt, eine Naturkatastrophe zu sein – auf der Flucht in ein billiges Hotel.

Er starrte atemlos die Rezeptionistin an, während seine Hand »Hamburg« in die Rubrik für die vergangene Nacht und »Seemann« in die Spalte für den Beruf schrieb, das erklärte immerhin den Seesack, der wie ein Buckel über seinen Rücken hing, möglicherweise auch die verlaufenden Tätowierungen am linken Handgelenk. »Adresse ›keine‹«, sagte er und lachte ohne Sinn und Verstand.

Die Frau hinter der Rezeption war Ende zwanzig, sie lächelte mit scharfen weißen Zähnen hinter breiten Lippen und duftete nach überaus schmutzigen Fantasien, ihre Haare waren üppig und wellig, und sie trug eine Uniform, die zu einer anderen Zeit Hans Larsen aus der Fassung hätte bringen können. Jetzt musterte er sie mit gleichgültiger Erleichterung.

»412.«

Auch das Zimmer war so, wie es sein sollte. Tot, anonym, farblos, mit Hafenblick. Er schloss hinter sich ab, ließ den Seesack zu Boden fallen und sank auf das Bett. Sein großer Kopf ruhte.

Über dem Waschbecken in der kleinen Nische hing ein Spiegel. Hans Larsen konnte sich selbst in schräger Perspektive sehen, mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem fremden Bett. Er stand auf und zog die Vorhänge zu. Er legte sich wieder hin. Er setzte sich. Auf dem Nachttisch lag ein Schlüssel, der zur Minibar unter dem Fenster passte. Er öffnete sie und nahm ein Mineralwasser heraus, zog die Vorhänge auf und stand am Fenster und sah ruhelose Wolken über den Himmel treiben. Auf der anderen Seite des Hafens regnete es, die Wasseroberfläche sah aus wie zerstoßenes Glas, ein englisches Passagierschiff mit Horden von Regenschirmen auf dem oberen Deck, eine russische Rostlaube und ein schräggestelltes Segel hinter dem Lagerhaus, in dem Larsen seinerzeit seinen ersten Job gehabt hatte, als Laufbursche. Die alten Kähne, schwer und langsam, und sein Kopf dachte an die Tochter, damals, als sie ihm nur bis zu den Achselhöhlen gereicht hatte. Zuerst achtete man auf die Augen, grün und ausweichend, dann auf die Haare, lang und schwarz und verworren, mit allerlei funkelnden Spangen und Klämmerchen. Die langen dünnen Finger, über die sie gern Ringe streifte, eine Ziernärrin und eine Puppe. Larsen war stolz auf ihre Schönheit gewesen. Er hatte sie lesen gelehrt, noch ehe sie in die Schule gekommen war. Er hatte sie reiten gelehrt und war mit ihr durch den Hafen gegangen, durch die Stadt und durch die Wälder, er hatte sie im Kopf gehabt, hatte auf die Welt gezeigt und sie ein wenig besser gemacht als sie war, die kleinen Lügen, die einen Vater zum Vater machen und eine Tochter zur Tochter. Jetzt war das vorbei. Das musste es sein.

Er erwachte mit einem fröstelnden Unbehagen und ihm fiel ein, dass der Arzt ihm Medikamente gegen solche Augenblicke gegeben hatte. Er nahm sie aus dem Seesack, las das Etikett, überlegte und spülte sie im Waschbecken hinunter, öffnete noch ein Mineralwasser und starrte durch das schmutzige Fenster. Stadt und Hafen und Regen und die Wohnung mit den Kinderzeichnungen an der Küchenwand, dem Spülbecken und den grünen Fliesen im Badezimmer. Tut das hier weh? Wohin fahren die Schiffe? Werde ich es schaffen? Er sah, wie der Regen endete und ein neuer einsetzte, Stoßverkehr und Stadtgeräusche wie brutale Liebkosungen an den Fensterscheiben.

Im Zimmer stand auch ein Schrank.

Er öffnete den Seesack und hängte seine Habseligkeiten auf: einen alten und frischgereinigten Anzug, einen Mantel und einige Hemden, zwei Paar Schuhe und einen Hut. Er hatte Zweifel gehabt, was diesen Hut anging, er hatte ihn in Gedanken aufgesetzt und anprobiert, ehe er ihn bestellt hatte. Aber als der Hut dann eintraf, war er es, der zu keinem Hut passte. Es ist schwer zu wissen, was zwischen vier Wände passt, wer man ist, die Höhe und Breite einer Persönlichkeit. Er legte den Hut ins Schuhregal und stapelte Socken und Unterwäsche auf Kante daneben auf. Er kannte Menschen, die ihren rechten Arm für ein wenig Ordnung geben würden, er kannte erwachsene Männer, die nicht leben könnten, ohne zu wissen, was sie um vier Uhr machen würden, ganz zu schweigen von um fünf Uhr. Hans Larsen war ein solcher Mann.

Er duschte, zog sich langsam an und suchte sich einen Schlips vom Halter im Schrank aus. Als zuletzt ein Schlips an Hans Larsen gehangen hatte, war er siebzig geworden, allein mit sich selbst und einem kleinen Festmahl, drei Kokosküssen und Jack Londons »Martin Eden«, derselbe Schlips. Er lief im Zimmer hin und her und trug den Schlips. Er zog eine Jacke an, strich einige Male mit der Bürste aus dem Schrank über die Ärmel und schaltete das Radio ein. Er stand mitten im Raum und schaute auf kreisende Möwen und einen weiteren Regenschauer hinaus.

Würde Hans Larsen sich mit dem allem abfinden können?

Er griff sich an den Kopf und betastete ihn.

Aber dann kann er dieses Zimmer verlassen und hinter sich abschließen. Er kann auf dem Gang stehen und hören, dass er vergessen hat, das Radio auszuschalten – denn es ist möglich, ein Zimmer zu verlassen und zu vergessen, das Radio auszuschalten.

Ich bin frei, denkt er. Im Fahrstuhl schaue ich mich über die Schulter um, als mein Finger den leuchtenden Knopf mit der Ziffer 1 berührt. Niemand sieht mich, niemand nickt mir zustimmend zu. Die Türen sind nicht blockiert. Auf dem Weg nach unten kann ich in jedem Stockwerk meiner Wahl aussteigen, ich kann durch unbekannte Gänge wandern und an fremde Türen klopfen, ich kann mich damit entschuldigen, dass ich mich ganz einfach in der Tür geirrt habe, kann mein Bedauern aussprechen und sie werden mir glauben, warum sollten sie mir nicht glauben, niemand wartet, als ich unten ankomme, und die Türen öffnen sich – automatisch.

»Hat jemand nach mir gefragt?«, fragt er die Schönheit hinter der Rezeption, es ist ein Experiment.

»Nein«, sagt sie. »Erwarten Sie Besuch?«

Larsen hat nicht gewagt, darauf zu hoffen.

Sie lächelt und senkt den Blick wieder.

»Schönen Abend noch.«

Vielleicht sehe ich normal aus, denkt er vage, denn einmal muss der Gedanke doch Wurzel schlagen, wenn das hier von Dauer sein soll, der Gedanke, dass er es schaffen kann.

Er folgt den Straßen und dem Leben, bis es ihn überwältigt und er sich in eine menschenleere Bar schleppen und die Hände um ein Glas Bier falten muss, bis das Bier zu warm ist, um getrunken zu werden. Er geht mit den Händen in den Taschen weiter, sein Kopf ist angenehmerweise von dem vergessenen Hut befreit. Er sieht Gesichter an und kostet Gerüche und Luft. Er sieht Unterschiede zwischen dem, was dem Rhythmus folgt, und dem, was still steht, dem Nostalgischen und dem Melancholischen. Die Jugend ist noch immer als Jugend verkleidet, die Alten sehen noch immer aus wie sie selbst, Unruhe und Würde, die Jugend, der die Nächte gehören, und die Alten, die den Tag erobert haben. Die brutalen Spiegel und der Rausch, alles, was größer geworden ist und das Geräusch seiner Schuhe, die durch unsichtbaren Sand auf dem Bürgersteig klappern.

Hans Larsen ist schneller geworden.

Er läuft. Das ist noch eine Erfahrung. Hans Larsen gerät außer Atem, bleibt stehen und kauft eine Zeitung, trägt sie unter dem Arm wie einen Rettungsring. Besteht auch diese Probe. In einer neuen Bar lauscht er einem Klavier und einem Gesang. Auf dem Weg hinaus stößt er mit einem Jungen zusammen, der ihm etwas hinterherruft. Sein Schnürsenkel hat sich geöffnet. Doch, wahrlich. Larsen lässt die Zeitung fallen, kniet nieder und bindet einen Schnürsenkel, richtet sich auf und schaut auf die Uhr. Das hier geht über alle Erwartung gut. Ein Taxi kommt aus der Dunkelheit, er starrt in gemalte Masken mit weißen Zähnen, bis es an der Zeit ist, wieder zu laufen, aber jetzt hat er schon angefangen zu denken, dass er es schaffen kann, das bedeutet dieses Pochen, die Hammerschläge im Blut, dass er es schaffen kann.

Im Hotel ist Dienstwechsel gewesen und die neue Person will die Quittung sehen, ehe sie ihm den Schlüssel reicht. Er merkt, dass er mit Lächeln aufgehört hat, aber dass er bereit ist, wieder damit anzufangen. Auf dem Weg nach oben in einem lautlosen Fahrstuhl. Ein freier Mann in 412. Schließt hinter sich ab und legt die Sicherheitskette vor – freiwillig. Aber er redet sich ein, dass die Sinne ihn betrügen, hebt den Telefonhörer und erkundigt sich mit angespannter Leichtigkeit, ob jetzt vielleicht jemand eine Nachricht hinterlassen hat, denn ich muss reden, denkt er, und eine Stimme hören.

»Na gut«, murmelt er und setzt sich auf. »Von wem?«

»Nein, keine Nachricht, habe ich doch gesagt.«

Hans Larsen überlegt.

»Verkauft ihr etwas zu trinken?«, fragt er.

»Die Bar hat geöffnet, ja, wenn Sie das gemeint haben?«

Niemand ist auf dem Gang oder im Fahrstuhl. In der Bar sitzen ein junges Paar mit einem Kartenspiel und zwei Männer mittleren Alters mit einem Schachbrett. Larsen bestellt Martini, trinkt und denkt daran, dass er nichts gegessen hat, winkt aber in Gedanken ab und stellt sich vor, wie es wäre, endlich den Brief zu öffnen, den er seit zehn Jahren hütet – während ein grauer Schäferhund in der Küchentür auftaucht und sich umschaut, ehe er durch das Lokal trottet und sich zu Larsens Füßen auf den Teppich legt. Der Barmann will ihn zurückrufen, aber Larsen sagt – nein, nein, lassen Sie ihn liegen.

Und er sieht wieder den Brief an, vergilbt und zerknittert in seiner langen Obhut, die kindliche Handschrift der Tochter, die Anklagen und Vorwürfe, jeder Satz mit einem Echo, endlich auch das, was er befürchtet hat.

»Du meine Güte«, sagt der eine Schachspieler. »Sind Sie krank, Mann?«

Larsen hat gerufen.

»Entschuldigung«, sagt er und schwenkt den Brief. »Schlechte Nachrichten.«

Er dreht sich zum Barmann um. »Haben Sie etwas Stärkeres?« »Whisky?«

»Ja, ja, Whisky. Ist hier immer so wenig los?«

»Heute ist Dienstag.«

Ihre fehlerfreien Sätze klar und deutlich, jedoch mit diesem mehrfachen Echo aus Selbstgerechtigkeit und dem Mangel an Reue, aber Larsen liebt diese Tochter, die er um keinen Preis Wiedersehen darf. Er hört ein Knurren unter dem Tisch und krault den Hund hinter den Ohren.

»Ist alles in Ordnung?«, wird wieder vom Nebentisch gefragt.

»Ja, klar doch«, sagt Hans Larsen und erhebt sich. »Ich zeig euch mal einen Kartentrick.«

»Das muss doch nicht sein.«

»Nur diesen einen Trick, ich bin doch kein Penner?«

Er hebt die Hand an den Kopf und streicht die Haare über die Narbe, mischt und verteilt die Karten auf vier Stapel, räuspert sich und hüstelt in einem verzweifelten Versuch, Erleichterung zu verspüren, weil er frei ist – die warmen Atemzüge wie beruhigendes Meerwasser um seine Knöchel.

Die Farbe der Reue

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