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Marianne sah durch das Spiegelglasfenster einen Hund, danach eine gekrümmte, heruntergekommene Gestalt, die stehen blieb und zögernd nach der Tür griff, wie in der Hoffnung, sie sei verschlossen. Dann schob er die Tür auf, kam mit einem Rücksack und zwei zerfetzten Plastiktüten herein und blieb wortlos stehen.

»Was ist los?«, rief Marianne und registrierte die verbundene Hand und die Wunde unter dem Auge. Der Mann schüttelte ungeduldig die Tüten, und ihr ging auf, dass es einer der Obdachlosen aus den Hütten im Wald oberhalb des Neubaugebietes sein musste, der ungefähr einmal pro Monat mit seinen Lumpen kam, da Ragnhild sie aus purer Wohltätigkeit gratis wusch.

Er sah mit teilnahmslosem Blick zu, während sie mit einem Besenstiel in den stinkenden Fetzen wühlte, Kieselsteine, leere Flaschen, Holzstücke herausholte. Sie fand auch einen Fünfziger, steckte ihn in seine Brusttasche und stopfte die Kleider in die älteste Maschine.

»Möchten Sie warten?«, fragte sie und entdeckte in diesem Moment einen Schlafsacküberzug, der zwischen die Trockner gefallen war.

Er sagte Ja.

»Dann setzen Sie sich dahin«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl neben der Tür.

Trond Pedersen stand mit blauem Filzstift auf einem blassen, verwaschenen Namensschildchen, mehrmals übereinander geschrieben, dazu eine Adresse, aber keine Telefonnummer.

»Wohnen Sie in der Hütte oben am Hang?«, fragte sie im Plauderton den Alten, der sich jetzt gesetzt und zu einer Illustrierten gegriffen hatte.

»Ja.«

»Dann gehen Sie an Nummer 8 vorbei, könnten Sie das hier für mich abgeben?«

Sie reichte ihm den Überzug, bereute das aber, als die groben Hände sich um den ffischgewaschenen Stoff schlossen, Trond Pedersens Schlafsacküberzug in den Klauen dieses Monstrums, das nun da saß und ihn befühlte, als sei er hier zum Opfer eines günstigen Angebotes geworden.

»Das gehört mir nicht.«

»Ich weiß, dass Ihnen das nicht gehört. Aber könnten Sie es für mich abgeben?«

Er sah sich den Überzug noch genauer an.

»Das gehört mir nicht.«

Er öffnete die Illustrierte und konzentrierte sich auf eine Königsfamilie, während Marianne sich in die Lippe biss und ins Hinterzimmer ging und den Überzug ins Licht hielt, um nach Spuren zu suchen, sie schnupperte daran und steckte ihn zusammen mit Schminke und Notizbuch in die Tasche – hier gab es weder plus noch minus. Sie zog ihn wieder hervor und legte ihn hinten auf den Stuhl, wo sie ihn vielleicht vergessen könnte.

Sie faltete Wäsche zusammen und stapelte sie aufeinander, schrieb drei Rechnungen, addierte die Einnahmen des Tages und trank einen Schluck kalten Kaffee, ehe sie wieder hinausging und die Uhr an der Maschine überprüfte, die sich mit den Lumpen des Obdachlosen abmühte.

»Ist das Ihr Hund?«, fragte sie und nickte aus dem Fenster zu dem Schäferhund hinüber, der dort saß und sie anstarrte.

»Nein.«

»Ich hatte auch mal so einen Hund.«

»Er ist mir gefolgt.«

»Ich hatte auch einmal ein Pferd.«

»Mm.«

»Trinken Sie Brennspiritus?«

»Ja.«

»Da wird irgendein Dreckszeug beigefügt, wissen Sie das, davon können Sie sterben?«

Er schien ihr zuzustimmen. Die Wunde unter dem Auge sah aus wie ein Schmuckstück oder ein natürliches Organ. Aber noch etwas anderes machte Marianne nervös und könnte auch diesen hier in einen schlechten Tag verwandeln – wie er ihrem Blick auswich? Sie beugte die Finger hin und her und die Gelenke knackten.

»Tun Sie das nicht«, sagte er und schaute weiter in seine Zeitschrift.

»Was denn?«

»Das klingt scheußlich.«

Sie sah ihre Hände an und atmete auf, damit hatte sie aufgehört, wie sie mit Nägelkauen aufgehört hatte. Sie setzte sich neben ihn und zog eine Packung Zigaretten hervor, bot ihm eine an und öffnete die Tür. Sie hatte auch mit Rauchen aufgehört, hatte aber wieder angefangen, weil es zu nichts führte, und Trond Pedersen, das war ja nun ein überaus häufiger Name, sogar hier.

»Hänseln die Kinder Sie?«, fragte sie und dachte, es sei gut, dass sie ihn gesehen hatte, es gab doch Gerüchte, eine Bande von Trinkern oben im Wald und eine ganze Wohnsiedlung voller Kinder.

»Nein«, sagte er.

»Wie heißen Sie?«

»Ich werde der Magnat genannt.«

»Ganz schön großartiger Name.«

»Ich bin neu hier.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Wollt ich nur gesagt haben.«

»Die haben doch mal eure Hütte abgefackelt?«

»Davon habe ich gehört.«

»Aber Sie wollen trotzdem da wohnen?«

»Ja, es ist scheußlich.«

Sie schnippte Asche in eine Seifenschale und hielt sie ihm hin, seine Finger zitterten.

Marianne erhob sich und klopfte auf die Maschine, um die letzten Seifenreste zu lösen, zog sich ins Hinterzimmer zurück und spülte sich den Mund aus, ging wieder hinaus und erzählte, wie lange sie schon dort wohnte, zusammen mit ihrer Tochter, die sie bald aus dem Kindergarten holen müsste. Sie erzählte von den beiden Freundinnen, Greta und Nina, die sich unbedingt gleich anziehen und Zwillinge sein wollten, während sie noch immer nicht begriff, was sie hier machte, als sei sie der defensive Teil in einem Verhör ohne Fragen.

»Wie kommen Sie nach Hause?«, fragte sie.

»Ich gehe.«

»Ich kann Sie mitnehmen, dann können Sie für mich etwas abgeben?«

Er gab keine Antwort.

Marianne erinnert sich daran, wie Trond Pedersen ihr zum ersten Mal aufgefallen war – er kam ihr in viel zu hohem Tempo auf dem Motorrad entgegen: schwarzer Lederanzug, Handschuhe, hohe mit Nieten besetzte Stiefel und das Gesicht versteckt hinter einem Visier, das in einen japanischen Krieg gehört hätte. Sie heulte, er riss den Helm ab und zeigte sein jungenhaftes Grinsen – zum ersten Mal.

Und das zweite Mal: Sie hatte die Brieftasche in der Wäscherei vergessen und stand wie eine Schwarzfahrerin an der Sperre der U-Bahn-Station, die Schamröte auf ihren Wangen, als er sie von der anderen Seite der Halle her erblickte, er kam mit diesem Grinsen auf sie zu, ließ einige Münzen in den Automaten fallen und sagte:

»Willkommen.«

Zwei Begegnungen, die nichts bedeuteten, weder für sich noch zusammen, aber die wieder in ihren Gedanken auftauchten, und sie setzte sich in den Kopf, dass auch das etwas mit dem Alten zu tun habe, wollte ihn sogar fragen, wurde aber durch das Klingeln der Waschmaschine daran gehindert. Der Magnat erhob sich majestätisch.

»Die müssen noch getrocknet werden«, sagte sie und stopfte die Lumpen in einen Trockner und machte sich ans Aufräumen. Die klägliche Garderobe war ungefähr fertig, als Ragnhild zur Tür hereinkam, Ragnhild mit den schwarzgesprayten Haaren und dem konstanten Lächeln auf den viel zu roten Lippen. Marianne umarmte sie rasch, riss sich den Kittel herunter, packte den Sack und die Tüten des Magnaten, ging hinaus und stopfte alles in den Kofferraum des Volvo.

Er sah ihr aus großen Augen zu.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte sie durch das Fenster. »Also, kommen Sie.«

Er seufzte in tiefer Verwirrung und stieg widerwillig ein. Sie schaltete, fuhr durch die kurvenreichen Straßen zum Block Nr. 8 hoch und legte ihm den Schlafsacküberzug auf den Schoß.

»Liefern Sie das für mich ab.«

Sie erklärte, wo und wem. Der Magnat blickte sie fragend an. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, entlarvt, von jemandem, den sie erkennen müsste – kannte sie ihn? Sie fragte:

»Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Nein«, sagte er und starrte trotzig aus dem Fenster.

Sie stieg aus und öffnete ihm die Tür, reichte ihm die Kleider in einem Versuch, ihn sich genauer anzusehen. Er schlug die Augen nieder.

»Danke.«

Marianne sah, wie er den Hang hoch schwankte und hinter dem obersten Block verschwand. Sie sah das Auto an, dann Block Nr. 8, und ging zum Eingang, die Treppen hoch, und drückte auf den Klingelknopf unter dem Schild mit Namen Pedersen. Eine Frau von Mitte vierzig öffnete, sie trug einen verwaschenen Morgenrock mit bleichen Maiglöckchen, als wollte sie unbedingt älter wirken, als sie war. Marianne hielt ihr den Schlafsacküberzug hin.

»Ist Ihr Sohn zu Hause?«

Die Frau rief irgendetwas in die Wohnung.

»Du hast das hier vergessen«, sagte sie, als er kam, und reichte ihm den Überzug. Er lächelte überrascht und machte der Frau ein Zeichen, in die Wohnung zu gehen.

»Spitze. Den wollte ich ja vergessen. Schau her, mein Name, clever, was?«

»Sehr.«

»Jetzt weißt du immerhin, wie ich heiße.«

»Hättest du das nicht einfach sagen können?«

»Dann wärst du jetzt nicht hier.«

Er hielt ihr die Hand hin, sie nahm sie und er ließ nicht los.

»Marianne.«

Ihr gelang sogar ein Knicks.

»Ich wusste, dass du den Wink verstehen würdest.«

Sie verdrehte die Augen.

»Herrgott. Bis dann.«

Ihr Blick fiel auf die beiden Hände. Sie riss sich los und sagte:

»Ich möchte dir etwas zeigen.«

»Okay?«

»Ja, jetzt sofort.«

Sie lief die Treppen hinunter und hinaus auf die Straße, setzte sich hinters Lenkrad und sah im Spiegel, wie er auf das Motorrad sprang – ohne Helm – und ihr durch die Wohnsiedlung folgte, zum Kindergarten, wo er neben sie glitt.

»Wohin fahren wir?«

»Warte nur ab.«

Sie ging hinein und holte Greta, setzte sie auf den Kindersitz und fuhr hinunter auf die Schnellstraße, noch immer mit dem Motorrad im Rückspiegel. Seine flatternden Haare wie eine weiche Fahne hinter dem vielen rasenden Metall. Er war vor ihr, rechts, hinter ihr, links, ein schwarzer Schutzengel, der spielerisch seinen Weg durch den Stoßverkehr fand, aus der Stadt hinaus und im Tal immer höher. Während Greta summend hinten saß und ihre Puppen umarmte – ihr gefielen diese Ausflüge, die bedeuteten, dass Mama gut gelaunt war und dass es vielleicht etwas Unerwartetes zu essen geben würde.

Marianne fuhr die letzten Meter bis nach oben, stieg aus, machte Greta vom Sitz los und ging mit ihr an der Hand zu den Haselsträuchern auf der kleinen Anhöhe, die auf den Hof blickte.

»Da hab ich einmal gewohnt«, sagte sie, als er sich neben sie fallen ließ, atemlos und mit rotem Gesicht.

»Und was machen wir hier?«

»Das weiß ich noch nicht.« Marianne sagte: »Wir hatten Pferde. Mein Vater hat sie trainiert, auf der Bahn dort hinter der Scheune, Traber, ich war die Einzige, die darauf reiten durfte.«

»Warum?«

»Ich war ein Kind.«

»Hä?«

»Traber, die ziehen einen Sulky.«

»Ach so.«

An den Bäumen zeigte sich der nahende Herbst. Er erhob sich und ging um die Anhöhe, kam zurück und setzte sich neben Greta, die Grashalme aus dem Boden zog und ein Bett für ihre Puppen Allis und Ellis machte.

»Und wie heißt du?«, fragte er.

»Nina.«

»Red keinen Unsinn, Greta.«

»Greta.«

»Hallo, Greta.«

»Selber hallo.«

Er reichte ihr die Hand, sie ignorierte sie mit einem schelmischen Lächeln, baute ein Nest und legte die Puppen nebeneinander.

»Kriegen die keine Decke?«

»Doch, sicher.«

»Wer wohnt jetzt da?«, fragte er Marianne.

»Keine Ahnung. Siehst du die Eberesche da unten?«

Sie ging hinter ihm in die Hocke, verflocht die Finger mit seinen langen Haaren. »Da hatten wir eine Hütte. Am Bach daneben haben wir Forellen gefischt oder Elritzen ... Die Scheune war das größte Haus der Welt, wir konnten nicht von der einen Seite zur anderen schauen.«

»Wir?«

»Ja ... naja, vor allem ich. Hier waren eigentlich nie andere Kinder, aber ich hatte ja Fantasie.«

Er sagte nichts.

»Bei Gewitter haben wir uns zwischen den Felsbrocken am Bach versteckt. Von da aus sehen die beiden Birken aus wie ein Tor.«

»Du sagst noch immer wir?«

Sie nickte.

»Wie lange hast du hier gewohnt?«

»Ungefähr ein Jahr.«

Ihre Finger wollten seine Haare nicht loslassen. Greta hob den Kopf und lächelte. Sie war heller als die Mutter, hatte weichere Linien um den Mund, wirkte aber sonst wie ihr aus dem Gesicht geschnitten, vor allem, was das Lächeln anging, und Marianne dachte, jetzt wird er fragen, woher sie die blonden Haare hat, aber die Stille um sie herum wuchs nur noch. Und endlich konnte sie seine Haare loslassen.

»Das ist nicht so schlimm«, sagte er.

»Was ist nicht so schlimm?«

Er breitete die Arme aus, wie um die gesamte Umgebung zu umfangen, und beugte sich zu ihr hin.

»Erzähl, was du machst?«, sagte sie und legte die Arme um ihn.

»Ich arbeite nicht. Ich gehe nicht zur Schule. Ich mache, was ich will. Schraube am Motorrad herum.«

»Du wartest doch auf etwas?«

»Das tu ich wohl.«

»Was denn?«

»Hab eigentlich noch nicht einmal mit Warten angefangen.«

»Ach so.«

»Und worauf wartest du

Sie setzte sich neben ihn und beugte sich vor, so dass die Haare ihr über die Wangen fielen. Er legte sich zurück, stützte sich auf die Ellbogen und schloss die Augen. Sie sah, dass er ein Lächeln plante, beugte sich vor und küsste ihn rasch auf den Mund und sagte:

»Ich hab einmal etwas Schreckliches getan«.

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Du kennst mich nicht.«

»Ich kenne dich.«

Das tust du verdammt nochmal nicht, dachte sie plötzlich, als ein Traktor zwischen den Häusern unten auf dem Hof hervorkam und zwei blutige Spuren in den schlammgrünen Feldern hinterließ. Die Stille wurde lauter, ihr schauderte.

»Bewegen wir uns mal?«, fragte er.

»Wir können zum Bach gehen«, sagte sie, stand auf und nahm seine Hand.

»Du magst mich also?«, fragte er.

»Ich mag niemanden.«

Er lachte.

Außerhalb von Gretas Blickfeld zog sie ihn zwischen zwei Felsbrocken, hob ihren Pullover hoch und presste seine Finger auf ihre Haut.

»Das ist schlimm«, sagte sie mit geschlossenen Augen.

»Warum tust du es dann?«

»Irgendwann wird es wohl gut.«

»Du bist komisch.«

»Ich bin herrlich.«

»Ja. Und ich muss dich haben.«

»Nicht jetzt.«

Er holte Luft. »Wie hast du das gemeint, dass du etwas Schreckliches getan hast?«

»Dass ich gestern ...«

Sie öffnete die Augen. »... oder heute ... wieder angefangen habe, daran zu denken.«

»Meinetwegen?«

»Vielleicht. Kennst du die Obdachlosen in der Hütte oberhalb der Siedlung?«

»Ob ich die kenne?«

»Einen, der Magnat genannt wird?«

»Ein harmloser Trottel, was ist mit dem?«

»Ich weiß nicht.«

Er sah sie an. Marianne blickte in eine andere Richtung. Sie sagte: »Etwas ist es jedenfalls, ich weiß nicht, vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.«

»Belästigt er dich?«

»Er sieht mich an. Wenn er glaubt, dass ich das nicht merke.«

»Na gut, ich sehe dich auch an, die ganze Zeit.«

Ein zottiger Schäferhund trottete zwischen den Gebäuden auf dem Hof herum, hob die Schnauze in den kühlen Luftzug, machte den Rücken krumm und steuerte das Tor an, und das Unheimliche verschwand, das Unheimliche in den Augen des Magnaten.

Sie stand auf und ging zurück zu Greta, legte ihr die Hände um den Kopf und drehte ihn in die richtige Richtung:

»Siehst du den Hund?«

»Nein«, sagte Greta mit ihrem schelmischen Lächeln. »Kommt der Mann mit uns nach Hause?«

»Ein andermal vielleicht.«

»Der ist lieb.«

»Ja«, sagte Marianne und überlegte, wie dieser Ausflug in dem schwarzen Buch aussehen würde, ob er dort überhaupt landen würde, als könnten ihre Schreibereien nur Dinge enthalten, die vorüber und begriffen waren, während das hier noch nicht einmal angefangen hatte.

»Wollen wir uns die Häuser nicht genauer ansehen?«, fragte er hinter ihr.

»Das nun wirklich nicht.«

Die Farbe der Reue

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