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Draußen vor Hans Larsens Fenster wurden die ganze Nacht lang immer neue Pfähle in den Boden gerammt. Er glaubte, Stimmen zu hören, und musste hinaus auf den Gang – zwei Mal. Da war niemand. Als das Personal zur Arbeit erschien, war er angezogen, stand am Fenster und sah, wie langsam graues Licht in den Hafen glitt. Die Pfahlramme machte eine Pause und die Stadt hielt den Atem an. Hans Larsen schaute auf die Uhr.

Er sah sich seine Habseligkeiten an, um sich zu versichern, dass die noch immer da waren – im Hellen. Er ging mit kurzen Schritten auf den Gang hinaus und schloss hinter sich ab, jetzt ohne über das Schloss oder die Teppichbodenstille nachzudenken, die ihn zum Fahrstuhl begleitete. Unterwegs begegnete ihm ein lächelndes Zimmermädchen. Larsen erwiderte das Lächeln. Noch immer, ohne sich zu wundern. Er aß im Speisesaal Spiegelei und Speck und trank Kaffee und ein Glas Milch und staunte darüber, dass alles so schmeckte, wie es sollte. Ein Mann kam herein, sah ihn an und ging wieder hinaus. Larsen dachte nicht darüber nach. Er ging hinaus in die Rezeption, bezahlte für zwei weitere Nächte, hängte sich den Mantel über die Schultern und verließ das Hotel.

Er kannte sich in den Straßen jetzt so langsam aus, und steuerte den Hafen an. Arbeitsleute auf dem Weg zur Schicht, ein verspäteter Zeitungsbote, ein uniformierter Polizist in gedämpftem Gespräch mit zwei Junkies. Er ging vorbei an der alten Englandkaianlage und weiter zu der Mole, die wie eine vergessene Jahreszahl im Nebel zwischen dem Alten und dem Neuen lag, in einer öden Wüste aus Stahlcontainern. Hans Larsen nickte einem riesigen Tor wie einem alten Bekannten zu und kroch durch ein Loch im Stacheldrahtzaun.

Es war halb acht am Dienstagmorgen und der Inhaber von Salonens Spedisjon Ltd. saß allein in seinem grüngestrichenen Verschlag und überflog die Löschpapiere des Tages. Eine Tasse Kaffee neben ihm auf dem Tisch, eine Schale voll Würfelzucker, Zigaretten und ein Aschenbecher, der leer war, da der Finne ihn jeden Abend auskippte und es noch nicht geschafft hatte, die erste dieses Tages anzuzünden. Das tat er jetzt, erstickte ein Husten und musterte Hans Larsen über den Brillenrand.

Seine kleinen Augen weiteten sich und zogen sich wieder zusammen.

»Da ist Kaffee in der Kanne«, sagte er trocken und legte die Warenliste des ersten Anlaufs oben auf den Stapel, blies durch behaarte Nasenlöcher schweren Rauch aus, klopfte mit dem zerknüllten Zigarettenpäckchen auf seine Handfläche, bot es an. Hans Larsen schüttelte den Kopf, nahm eine henkellose Tasse aus dem Schrank über dem Telefon, füllte sie und setzte sich.

»Ja, ja«, sagte der Finne. »Du brauchst wahrscheinlich etwas zu tun?«

Larsen nickte, der Tag hatte kaum angefangen, aber mit seinen Beinen stimmte etwas nicht. Er hätte sie gern auf einen Hocker gelegt, entdeckte unter dem Schreibtisch eine Apfelsinenkiste, bugsierte sie hervor und legte die Beine auf den Deckel. Salonen streifte die Asche ab und sagte, es werde sich schon machen lassen, Larsen mit Beschäftigung zu versorgen, der Kai müsse repariert werden.

Larsen trank langsam und gewöhnte sich daran, wieder hier zu sein. »Lange Tage?«, fragte Salonen.

»So war das.«

»So ist es wohl.«

»So ist es.«

Regen auf dem Blechdach, so weit oben in der Leere, dass das Lager noch größer wurde. Larsen fühlte sich unwohl, durch die ganze Atmosphäre aus Holz und Pappkästen auf kurzer Durchreise durch einen engen Verschlag mit zwei bewegungslosen Männern, jeder mit einer Tasse Kaffee und einer einzigen Zigarette.

Für einen Moment dachte er, es sei so still, dass niemand ihn sehe, nicht einmal der alte Finne, der ihm ins Gesicht starrte, mit dem vertrauten Blick voller Tannenwald und vergessener Kriege. Hans Larsen wusste nicht, warum er das dachte, er war nur ganz sicher, das schon früher gedacht zu haben, über dieses Lager und die beiden, die sich dort befanden.

»Der Laden läuft gut«, sagte Salonen. »Ja, ungefähr wie damals. Um fünf gehen wir nach Hause. Und auf die Jugend ist kein Verlass mehr, das ist der einzige Unterschied.«

Er füllte die Nasenlöcher mit noch mehr Rauch. »War es übrigens nie.«

Larsen nickte.

Er wusste, wenn er das Büro verließe und fünfzig Meter weiter zwischen Palettenreihen vier und fünf ginge, würde er eine grüne Tür finden, und dahinter einen Verschlag mit sieben Gabelstaplern und vier Sackkarren. Er würde Eisenbänder und Schlösser und Zangen und Feilen finden, um Kästen und Paletten zusammenzuhalten. Drei Hämmer, jeder mit einem abgenutzten Holzgriff, blanke Nägel mit kleinen Rostflecken in bleichen, aufgerissenen Kartons, alles, was in Salonens regelmäßigen Arbeitstagen benutzt wurde, das ordentlich wieder hingelegt wurde, wie das Inventar eines Uhrwerks, wenn es fünf schlug, genau fünf. Falls keine Überstunden gemacht wurden, was ja vorkam. Aber das Werkzeug machte um fünf dennoch eine Pause, kehrte zurück an den Ausgangspunkt im grünen Verschlag, um sich zu sammeln, ehe die nächste Schicht es wieder herausriss. Hinter dem Vorhang unter dem Sicherungskasten stand eine Obstkiste mit den Resten des hauseigenen Alkoholkonsums, Leergut, das in einen Sack gesteckt und in den Alkoholladen gebracht oder ganz einfach in den Hafen geworfen wurde. Salonen kümmerte sich nicht darum, was in den Überstunden vor sich ging, in der Dunkelheit, er habe davon gehört, sagte er, wenn jemand auf die Idee kam, dieses Thema zur Sprache zu bringen, aber so lange die Fracht zum Kai und unter Dach kam, so lange Maschinenteile, Schweizer Schokolade und Wurstgewürze geliefert wurden und Papier und Stempel erhielten und Gabelstapler und Sackkarren um fünf ihre wohlverdiente Ruhe bekamen, konnten die Leute machen, was sie wollten, und das machten sie.

»Lebt Kalle noch?«, fragte Larsen.

»Nein«, sagte der Finne.

»Frank?«

»Ja, der ist hier. Der zählt.«

Larsen sah, dass der Finne jetzt eine Art Lächeln auf den Lippen hatte.

»Kann Frank zählen?«, fragte er.

»Er kann jedenfalls nicht heben. Eine Schachtel, zum Beispiel.«

Salonen zeigte mit zwei stumpfen Fingern, wie klein ungefähr die Schachtel sein müsste, damit Frank sie hochheben könnte.

»Und du hast Vertrauen zu ihm?«

»Ja, davon gehe ich aus.«

»Du zählst nie nach?«

»Das hab ich immer gemacht.«

Larsen merkte, dass auch er sich an einem Lächeln versuchte. Es fiel ihm schwer.

Der Finne hielt ihm die Tasse hin. Der Frischeingestellte füllte sie. Es roch nach Tabak, Maschinenöl und Lösungsmitteln, der süßliche Geruch von Margarine auf imprägnierten Brotbrettchen und Tischkanten, die niemals gewaschen wurden, nur abgewischt, mit einem Lappen, der unter dem Hahn über dem Waschbecken ausgewrungen wurde, dem Kaltwasserhahn. Sogar die Tasse, die Larsen in den Händen hielt, war dieselbe, vielleicht nicht dieselbe, aber sie hätte es sein können, daran konnte es keinen Zweifel geben.

»Ich zeig dir das Loch«, sagte der Finne und erhob sich.

Packte das Schlüsselbund aus dem Eckschrank und gab Larsen ein Zeichen, das Brecheisen mitzunehmen, das notwendig war, um die ramponierten Tore zu öffnen. Sie schoben jeder eine Wand auf rostigen Rollen zur Seite und Larsen merkte, dass es seinen Beinen wieder besser ging, als sich der Nebel, zusammen mit den Resten des Stadtlärms, der durch Wellenschwappen und Möwengeschrei auf der anderen Hafenseite gefiltert wurde, in die Halle wälzte. Ein Auto kam gefahren und verschwand hinter dem Lager. Sie hörten kreischende Bremsen und eine schlagende Tür.

»Die Jungs«, sagte der Finne und watschelte weiter.

Es war kalt. Larsen schob die Hände in die Tasche. »Du hast zugenommen«, sagte er zu dem Rücken vor sich.

»Kann sein«, sagte der Finne. »Es ist wohl acht Jahre her?«

»Es sind etwas mehr als zehn.«

»Ja, du kannst dir das wohl merken.«

Salonen drehte sich um und musterte ihn. »Das ist früh?«, fiel ihm dann ein.

»Ja. Zwei Jahre.«

»Deine Tochter weiß, dass du raus bist?«

»Ja.«

»Aber du hast über Karen gehört?«

»Das hab ich gestern erfahren.«

Der Finne sah ihn an.

»Du hast erst gestern erfahren, dass deine Frau vor ... neun Jahren gestorben ist?«

Larsen nickte.

Der Finne schloss die Augen, öffnete sie wieder und zeigte auf ein Loch und zwei verfaulte Bretter und tiefer darunter die bleifarbene Wasseroberfläche mit den schwimmenden Holzstücken, zerbrochenen Paletten, leeren Flaschen, Papier- und Stofffetzen. Sie lauschten einem feuchten, gurgelnden Echo zwischen muschelbewachsenen Kreosotstämmen und mit Algen überwucherten Felsbrocken, und Larsen dachte an Schwimmbäder mit zu kaltem Wasser.

»Du brauchst wohl auch eine Wohnung?«, fragte Salonen.

»Ja«, sagte Larsen.

»Du haust also nicht wieder ab?«

»Vermutlich nicht.«

»Ich habe gern zuverlässige Leute«, sagte der Finne. »Und du kommst und gehst, wie du willst.«

»So ist es«, sagte Larsen und hätte wohl auch eine vage Handbewegung gemacht, wenn er die Hände nicht in der Tasche gehabt hätte.

»Und wie willst du das Geld haben?«

»Auf die Hand.«

»Kein Konto und Steuern und der ganze Kram?«

»Nein. Und am liebsten jeden Abend.«

»Wir sagen jede Woche«, sagte der Finne. »Donnerstag um fünf.«

Er schob mit dem Fuß Späne in das Loch, zog ein Messer hervor, ging mit einem Stöhnen in die Knie und bohrte das Messer in das faulige Holz. »Die kannst du auch auswechseln. Alle fünf, bis zu der Übergangsstelle da.«

»Ja«, sagte Larsen.

Noch ein Wagen kam durch das Tor und verschwand hinter dem Lagerhaus.

»Die Ärsche lernen die Uhr einfach nicht«, sagte Salonen und erhob sich mit demselben Stöhnen, wie um es sich wieder in den Leib zu stopfen.

Larsen dachte an die Steuermannsschule und die Jahre auf See, Gewerkschaftsarbeit, Zoff, schwarze Listen. Er dachte an die Baubranche an Land und danach den Hafen und Salonen, weil er doch nicht ohne die Schiffe sein konnte, jedenfalls nicht, ohne sie zu sehen.

»Ich bin nicht der ganz große Seemann geworden«, sagte er.

»Nein, du bist eingefahren«, sagte der Finne. Und Larsen lachte, als sei ihm eine gute Erinnerung gekommen, die ihn nicht loslassen wollte, sondern zu einer weiteren führte, die ebenfalls gut war. Aber dann fiel ihm das Gesicht seines Vaters ein – ein Mann, der mit dem Vorschlaghammer auf dem Spantenboden von Akers Mek stand und stocktaub war, der zu Abend aß und schlief und sich nur aus dem Schlaf riss, wenn Larsen junior zusammengestaucht werden musste.

Larsen war einer von denen, die fast ohne Vorwarnung erwachsen geworden waren, er war zur See gefahren und hatte einige Jahre auf Linienfahrt verbracht. Aber das Gefühl, eingesperrt zu sein, wurde auf dem weiten Meer nicht anders, und auch nicht das Gefühl, dass ihm etwas Wesentliches fehlte, sowie der wachsende Verdacht, dass er es niemals finden würde.

Er dachte an den Tag, an dem in ihm die Gerechtigkeit endgültig gestorben war: Er saß im Kran, während streikende Schauerleute zum Reederbüro marschierten, mit meterlangen Roheisenstücken in den Fäusten. Im Hafenbecken davor drehte die Englandfähre. Die Englandfähre drehte immer an derselben Stelle. Larsen sah sie seit sechs Jahren jeden Tag. Er sah nicht die Bande von Streikbrechern, die zwanzig Meter unter ihm am Hafenrand krankenhausreif geschlagen wurden. Er bewunderte die Englandfähre. Die ihre krumme Wendung machte, um den Bug nach Süden zu richten, und die ihm auf komplizierte Weise erzählte, dass er sich nicht für Löhne und Urlaubsregelungen engagierte, weil er glaubte, recht zu haben, sondern, weil er wusste, dass er unrecht hatte. Das erzählte ihm die Englandfähre, als sie drehte und als er saß.

Danach hatte er einige Jahre in der Pornobranche gearbeitet, Import und Verkauf, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Er hatte Würstchen in einem Kiosk an einem Badestrand verkauft, er hatte auf einem Trainingsgelände Pferde im Kreis geführt; er war einer von denen gewesen, die mit einem Kasten Bier in der Sonne sitzen und nicht auf die Beine kommen, Tag um Tag. Nur Letzteres hatte etwas mit ihm gemacht. Hans Larsen war zu der Auffassung gelangt, dass Alkohol schädlich ist.

Das große Blechschild tauchte im Morgennebel auf, darüber ein Streifen blauen Himmels – »Salonen Spedisjon Ltd.« – mit Möwendreck und Taubenkacke und Rostflecken, die aussahen wie ferne Kontinente auf einer verbrannten Karte. Larsen merkte, wie gut es tat, wieder hier zu sein, dass es seinen Beinen besser ging, dass sie gern standen, deshalb wippte er jetzt auf den Ballen auf und ab und hörte erst auf, als es ihm des Guten zu viel wurde.

»Probier den mal an«, sagte Salonen, als sie wieder ins Haus kamen, und warf ihm einen Overall zu.

Der roch nach Propangas und altem Schweiß. In der rechten Tasche fand er eine Pfeife mit Zahnspuren im Mundstück, Kalles Pfeife. Larsen ließ sie durch die Luke im Boden fallen, sie hörten ein Plopp. Der Finne sah ihn an. Larsen gefiel dieser Blick nicht, er war hier, um herauszufinden, ob von ihm noch etwas übrig sei. Jetzt schloss er, dass er an den richtigen Ort gelangt sei.

»Material kriegst du im Holzlager auf dem Kai«, sagte der Finne. »Die Jungs fahren es für dich ...«

Hans Larsen hatte angefangen. Er vollendete einen Tag, ging zurück zum Hotel und schlief, ohne Stimmen zu hören. Er tauchte am nächsten Morgen im Hafen auf und vollendete noch einen Tag. Er kaufte einen neuen Overall und aß unter freiem Himmel im Hafen, allein oder zusammen mit Frank, der eine nach der anderen rauchte und lautlos über etwas lachte, das Larsen gesagt hatte, während er kalten Kaffee aus einer Glasflasche trank.

Larsen lauschte passiv den Gesprächen des Alltags und ignorierte das einladende Witzeln der Jungs. Er brachte die neuen Bretter an und schmierte sie mit altem Maschinenöl ein. Er nagelte einige misshandelte Paletten zusammen, setzte zwei neue Türen ein, strich sie grün und versuchte, mit dem Lagerhaus zu verschwimmen. Wenn die Güter angeliefert wurden, lenkte er den kleinen Kran – wenn Frank das nicht machte. Wenn die Waren in Eisenbahnwaggons kamen, rollte er sie auf einem Gabelstapler ins Lagerhaus und notierte Reihe und Höhe auf dem Zettel, für den er verantwortlich war, Hans Larsens Arbeitsleistung, schwarz auf weiß.

Salonen besorgte ihm eine Wohnung.

Hans Larsen kaufte zwei Heizkörper und einen Fernseher, stellte den Fernseher in die Ecke des kleinen Wohnzimmers, schaltete ihn aber nicht ein. Er gab Geld aus für eine Kaffeemaschine und einen Esstisch mit Platz für reichlich viele und kaufte eine Yuccapalme, weil die nicht viel Wasser brauchte. Dann informierte er sich über die Auswahl an Kühlschränken, er nahm einen gebrauchten. Er versuchte, die Garderobe eher in Übereinstimmung mit der Sorte Mann zu bringen, die er gern wäre, er stellte fest, dass er einen etwas höheren Standard als Frank erreichte, ohne dass ihm das besondere Freude gemacht hätte.

Daraus hätte kein Dasein werden müssen, ein halbes hätte gereicht, aber dann regte er sich plötzlich über etwas auf, das ihn nichts anging, er hatte über etwas eine Meinung, er fing an, teilzunehmen und zu diskutieren und düstere Gedanken darüber zu denken, was er nach fünf Uhr machen sollte.

Er fing an, durch die Straßen zu gehen, arbeitete mit dem immer besseren Gefühl in den Beinen, sah sich das Neue genauer an, immer nur ein Stück weiter, es war zu ertragen. Dann ging er auch los, um sich das Alte wieder anzusehen, folgte einem Schäferhund auf einen Hofplatz und über ein Abbruchgrundstück, zwischen Haufen aus Mauerschutt und in ein Treppenhaus, die ächzenden Stufen hoch, bis er vor einer Tür stand mit Bleiglas und zwei krummen Messingschrauben, wo einst das Namensschild gehangen hatte. Er schob sie auf und betrat die Reste einer Wohnung.

Aus dem zerschlagenen Küchenfenster konnte er auf die Maschinen hinunterblicken, die zwischen den Ruinen den Grund umpflügten. Er erkannte die Farbe der Wände. Eine kleine Unebenheit in der Türklinke. Eine dünne Schicht Kalkstaub lag auf den Böden, aber das Parkett war dasselbe. Eine Lampe mit rosa Schirm und schmutzigweißer Spitzenkante, ein Armsessel ohne Armlehnen, vier Marmeladengläser ... Hans Larsen lehnte den Rücken an die Wand und ließ sich langsam in den Staub sinken.

Er wusste ja, er hätte nicht herkommen dürfen.

Er öffnete die Augen wieder und stellte fest, dass jemand ihn ansah, eine Gestalt hinten in der Wohnung, die im Staub saß, wie er selbst, ein Spiegelbild, in Lumpen gekleidet, mit einer blanken Wunde unter dem einen Auge und einem Verband um die linke Hand.

Larsen erhob sich und ging durch zwei Türen.

»Was machst du hier?«, fragte er.

Der Mann blickte zur Seite.

»Was machst du hier?«, wiederholte Larsen.

Nicht ein Kleidungsstück war unversehrt. Der Mann war ungepflegt und abstoßend, roch nach süßem Dreck, seine Zähne waren schwarz, auf dem Boden stand ein Rucksack. Larsen bückte sich, öffnete ihn und fand zwei Marmeladengläser, ein Radio ohne Knöpfe und eine defekte Mischbatterie. Er fragte: »Wie kannst du so leben?«

Die Augen des Mannes leuchteten in der Dunkelheit weiß. Er mochte in Larsens Alter sein, oder jünger. Er konnte auch älter sein.

»Das ist leicht«, sagte er. »Du hinterlässt keine Spuren.«

»Spuren?«

»Ja, ich mache ja nichts, ich arbeite nicht, ich kenne niemanden, ich lösche mich ganz aus ...«

Larsens Blick blieb an einem kleinen Deckel an der Wand neben der Tür hängen. Er erhob sich, ging hin und drehte ihn halbwegs um, schob zwei Finger hinter die Kabelreste und fischte eine kleine Glaskugel hervor, wischte den Staub davon, drehte sich um und hielt sie mit zwei Fingern hoch.

»Weißt du, was das hier ist?«

»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte der Alte. »Ich nehme nur das, was sonst niemand haben will ...«

»Das sind Spuren«, sagte Larsen. »Das wurde vor einer Ewigkeit versteckt, und der, der es versteckt hat, erinnert sich noch immer daran. So ist es mit allem. Es kommt zurück.«

Der Alte lachte unsicher.

»Du hast hier gewohnt?«, fragte er.

»Darin sind kleine Luftblasen«, sagte Larsen. »Die haben damals miese Klicker produziert.«

»Das ist deine Wohnung?«

»Entweder das«, sagte Larsen. »Oder ich bluffe.«

»Ich habe nichts weggenommen«, jammerte der Alte. Larsen ging in die Knie und hielt die Glaskugel zwischen den Fingern, so dass sie einander durch das unregelmäßige Glas ansehen konnten.

»Du bist doch nicht unsichtbar.«

»Dann lass mich doch gehen.«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich halte dich fest.«

»Warum?«, fragte der Alte durch eine berstende Speichelblase.

»Das weiß ich nicht«, sagte Larsen. »Ich tu es einfach.«

»Was tust du?«

»Ich halte dich fest.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest, lass mich in Ruhe.«

»Dann beantworte mir diese eine Frage, verdammt noch mal«, sagte Larsen. »Halt ich dich fest oder tu ich das nicht?«

Der Mann warf den Kopf hin und her. Larsen wartete.

»Ja«, kam es resigniert. »Du hältst mich fest.«

»Genau«, sagte Larsen. »Und jetzt lasse ich dich los.«

Er richtete sich auf, steckte die Glaskugel in die Tasche und stellte sich ans Fenster, schaute hinaus auf den Bagger und den Schäferhund, der mit nach vorn gekippten Ohren daneben saß und die gewaltigen vor Mauerschutt und Bretterstücken nur so strotzenden Eisenklauen anstarrte. Ich kann sein, wer ich will, dachte Hans Larsen. Ich kann absolut jeder sein. Aber hierher hätte ich niemals kommen dürfen.

Die Farbe der Reue

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