Читать книгу Punkt - Punkt - Sommer - Strich - Roy Jacobsen - Страница 4
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ОглавлениеAm nächsten Morgen bin ich erschöpft und übermütig vor Freude, und es ist gar nicht Morgen, sondern Mittag, nach Katrines Stundenplan, und die Familie sitzt am Küchentisch, als ich mit roten Augen und im Bademantel aus dem Himmel herniedersteige.
»Wenn ihr euch scheiden laßt, Mama, dann will ich bei Papa bleiben«, sagt der Knabe. Dieses Vertrauen habe ich meiner haltlosen Einstellung Essenszeiten und Salaten gegenüber zu verdanken. Der Leser stutzt vielleicht über eine so klare Meldung von einem so jungen Mann, aber in unseren Kreisen kommt es wirklich oft vor, daß Kinder frühreife Frechheiten dieser Art servieren – aus Jux. Und Mutter lacht:
»Wir lassen uns doch nicht scheiden!«
»Nein, zum Glück nicht«, sage ich und lasse mich auf den Stuhl fallen, der, wie ich weiß, für den Rest des Sommers meiner sein wird, auf den Stuhl, der übrig bleibt, nachdem sich die anderen nicht nur ihre Lieblingsstühle ausgesucht, sondern außerdem wortlos untereinander abgemacht haben, wo Vater zu sitzen hat. Am besten setzen wir ihn neben die Tochter auf die eine Längsseite. Mutter sitzt an der Querseite – die andere stößt gegen die Fensterwand –, und auf der anderen Längsseite, Vater und Tochter gegenüber, sitzt der hochaufgeschossene Sohn.
»Na, wie war es heute nacht?« fragt Katrine und reicht mir die Teekanne, setzt sie wieder ab, ohne daß ich ein Wort zu sagen brauchte, und holt statt dessen den Kaffee, gießt Kaffee in meine Teetasse, normalerweise muß ich mir selber einschenken.
»Ganz toll«, sage ich wahrheitsgemäß. »Bloß habe ich heute morgen alles noch mal von Anfang an gelesen, und es taugt nichts.«
»Was sagst du da?«
»Nein, ich muß es wohl umschreiben.«
Das sage ich leichthin, denn ich habe wieder Lust zu schreiben, und ich weiß, es wird mich nicht mehr als drei, vier Wochen kosten, den Unfug zu verbessern, der in dieser ganzen langen Zeit krank danieder gelegen hat. Meine Leichtigkeit paßt schlecht in den gesellschaftlichen Zusammenhang, meine Frau betrachtet sich nämlich als eine Art Lektorin. Sie hat das Manuskript gelesen und es über die Maßen gelobt, und deshalb gefällt es ihr nicht, daß ich es jetzt einfach runtermache, aber da kann man nichts machen.
»Lies das noch mal«, sage ich. »Dann verstehst du, was ich meine.«
»Ich versteh auch ohne es zu lesen, was du meinst«, sagt mein Sohn, zu dem ich ein sehr vorurteilsloses Verhältnis habe, ein Verhältnis, das an Gleichgültigkeit grenzt, von meiner Seite aus, solange ich sehe, daß er frisch und gesund ist, wohlgemerkt. »Du schreibst die ödesten Bücher, die ich kenne.«
»Du hast doch gar keins gelesen.«
»Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß du dir etwas Witziges ausdenken kannst.«
Auch das ist ein Jux. Mein Sohn und ich wissen nämlich, daß für die absurden Einfälle, die ab und zu unser ordentliches Leben aufleuchten lassen, nur einer steht, und zwar Vater.
Und nun machen wir uns an unser erstes Sommerfrühstück, und da klar ist, daß Vater arbeiten muß, weshalb er von der Aufgabe befreit ist, die heranwachsende Generation zu unterhalten, bitten sie um die Erlaubnis, verduften zu dürfen, die sie erhalten, mit weniger Hin und Her als sonst. Aber als sie das Haus verlassen haben, stellt sich heraus, daß Katrine folgendes auf dem Herzen hat:
»Hast du angerufen?«
»Angerufen? Wen?«
»Den Makler. Du wolltest dich doch nach dem Mord erkundigen?«
»Nein, das habe ich vergessen. Kannst du das nicht machen?«
»Nee ...«
»Dann vergessen wir die ganze Geschichte einfach, ja?«
»Man kann nicht auf Kommando vergessen, John. Außerdem finde ich das spannend.«
»Dann ruf selber an, ich habe im Grunde etwas anderes zu tun.«
»Na, so wichtig ist das ja auch wieder nicht.«
Das ist auch ein Aspekt unserer Arbeitsteilung; was ich gerne mache, wird nicht ohne weiteres zu meiner Aufgabe, während das, was sie mag, sofort zu ihrer wird. Das, was wir beide nicht mögen, wird dagegen – nicht ganz und gar zu meiner Aufgabe (so despotisch ist sie nicht) sondern – von Katrine verteilt, was nicht unbedingt bedeutet, daß sie sich selber verschont. Ganz im Gegenteil, sie verschont sich nicht, und dadurch bleibt ihr das Recht, die Leitung zu behalten. Aber jetzt hat sie soviel persönliches Engagement gezeigt, daß diese Ordnung ihren wegweisenden Effekt verliert. Ich kann mit gutem Gewissen aufstehen, abräumen und die vier Teller, die vier Messer und die vier Gläser spülen, kann den Tisch abwischen und mit meiner Tasse und der Kaffeekanne hinauf in mein Nest im ersten Stock gehen, um einen Tag voller berauschender und konzentrierter Einsamkeit an der Schreibmaschine zu beginnen. Aber so kommt es dann doch nicht. Katrine stört mich schon nach einer halben Stunde.
»Da geht niemand ans Telefon«, sagt sie mit besorgt gerunzelter Stirn, mit der Falte, die sonst für die literarischen Aktivitäten des Hauses reserviert ist.
»Na und?« erwidere ich gereizt.
»Nein, das hat vielleicht nichts zu bedeuten, aber es ist doch eine Maklerfirma mit vielen Angestellten.«
»Vielleicht machen sie Urlaub.«
Ich habe mich wieder meinem Blatt Papier zugewandt. Dort lese ich: »Als er ihr die Hände um den Hals legt, um den Samt in der Schönheit dieses lebenden Wesens in sich aufzunehmen ...« und denke, daß das doch wirklich nur Gefasel ist, und wenn ich auf mehr Stellen von dieser Art stoße, dann habe ich es, mit Verlaub, nicht mit einem Roman, sondern nur mit einem Abschluß zu tun, den ich heute nacht auf Grund der Annahme verfaßt habe, das Vorausgegangene sei etwas ganz anderes als das, als was es sich nun mit immer größerer und peinlicherer Deutlichkeit entpuppt.
»Die können doch nicht jetzt schon Urlaub machen!«
»Und was soll ich dagegen tun?! Jetzt reg dich ab, Katrine, und laß mich in Ruhe!«
Ich mache mich abermals über mein Machwerk her, mit Todesverachtung, lese eine pathetische Formulierung nach der anderen, schreibe sie um und habe eine mittelmäßige Einleitung, als Katrine eine Stunde später abermals in den Hoheitsbereich der Kunst einbricht, diesmal mit folgender Mitteilung:
»Er wollte es mir nicht sagen.«
»Wer – wollte dir was nicht sagen?«
»Der Makler. Er wollte mir nichts über den Mord erzählen. Er hat gesagt, er wolle mir keine Angst einjagen. Und als ich gesagt habe, daß er mir auf diese Weise viel mehr Angst macht, hat er nur gelacht. Aber das war kein beruhigendes Lachen, es hörte sich eher so an, als ob er wüßte, daß es vielleicht wieder passieren könnte ...«
»Katrine!!!«
»Ja?«
»Wüßte, daß es vielleicht wieder...? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn!«
»Doch, natürlich, er will uns austricksen, verstehst du das nicht?«
»Jetzt reißt du dich zusammen, meine Liebe. Ich arbeite. Kannst du nicht mal in den Ort gehen, einkaufen, baden, ein Buch lesen – wir haben doch Ferien, Katrine!«
Sie bleibt noch stehen, schaut aus dem Fenster und murmelt:
»Ja, das kann ich wohl.«
Und ich stürze mich auf Seite vier, besessen von einem immer stärker werdenden Gefühl, daß ich, wenn es nicht bald besser wird, die nächsten drei Monate damit verbringen werde, einen Roman einem Abschluß von sechs maschinengeschriebenen A 4-Seiten, Zeilenabstand 2, anzupassen. Nun, viele Jahre in der Branche haben mir beigebracht, daß solche Gedanken beiseitegeschoben werden müssen, sie werden erst behandelt, wenn kein Weg mehr daran vorbei führt. Aber ich komme heute nicht weit, ich komme weder weiter noch höher, denn jetzt steht plötzlich unten im Garten ein Mann und blickt zu meinem Fenster herauf. Ein Mann von Mitte 30, in Jeans und Flanellhemd und abgenutzten Turnschuhen, ein kräftig gebauter Mann mit strohblonden halblangen Haaren und einem weißen Lächeln in einem braunen Gesicht. Er signalisiert mit der Hand, ich solle das Fenster öffnen. Also öffne ich das Fenster, das hätte ich schon längst tun sollen, – öffne das Fenster und lasse den Sommer herein – und beuge mich über die Schreibmaschine. Der Fremde sagt, noch immer lächelnd:
»Wir sind Nachbarn, ich dachte, ich sag einfach mal guten Tag, oder störe ich?«
»Nicht, wenn du mir von dem Mord erzählen kannst.«
»Was?«
»Hier soll einmal ein Mord geschehen sein, weißt du etwas darüber?«
»Nein ... wir kommen seit fünfzehn Jahren her, aber ein Mord ...«
»Komm auf die andere Seite, dann trinken wir einen Kaffee.«
Ich verlasse das Kunstwerk und gehe in die Küche hinunter. Mein Nachbar und ich machen uns miteinander bekannt.
»Du bist Schriftsteller, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ja, ich habe ein Foto von dir in der Zeitung gesehen. Und jetzt schreibst du wohl einen Kriminalroman, oder?«
»Nein, ich kann Kriminalromane nicht ausstehen. Ich sitze an einer Art Liebesgeschichte, die im Moment stekkengeblieben ist. Setz dich, dann hole ich dir eine Tasse.«
»Und was ist das für ein Gerede über einen Mord?«
»Das hat uns der Makler erzählt. Aber als wir heute angerufen haben, wollte er plötzlich nicht mehr verraten. Wem gehört dieses Haus eigentlich?«
»Ursprünglich hat es einer alten Kapitänsfamilie gehört, Schou-Nilsens, aber aufgrund von Erbschaftsstreitigkeiten hat die Familie beschlossen, es von einem Anwalt verwalten zu lassen, ich glaube, zusammen mit Aktien und anderem, was sie nicht aufteilen konnten. Ich kenne sie nicht, aber solange wir herkommen, wird dieses Haus schon vermietet.«
»Und der Makler hat die Mordgeschichte erfunden, um das Haus attraktiv zu machen?«
»Vielleicht«, lacht mein neuer Nachbar. »Hier sind im Laufe der Jahre viele komische Vögel gewesen, Künstler, exzentrische Typen.«
»Ach ja? Und was machst du so?«
»Ich habe eine kleine Firma, die Spielgeräte herstellt, Schaukeln und Rutschbahnen und so, für Kindergärten in der Umgebung. Ich nehme im Sommerhalbjahr meinen Computer mit hierher, zeichne und konstruiere und mache meine Arbeit, und die Familie hat dann auch Ferien. Hast du Kinder?«
»Ja, einen Jungen von zwölf und ein Mädchen von fünfzehn.«
»Schön, schick sie rüber, ich habe drei ungefähr im selben Alter. Ihr braucht bloß durch das Loch in der Hecke zu kriechen, dann geht der Weg nach unten, wir wohnen im ersten roten Haus am Strand.«
»Schön. Aber über diese Mordgeschichte weißt du also nichts?«
»Nein, aber die kann auch schon hundert Jahre her sein. Möchtest du, daß hier ein Mord begangen worden ist?«
»Nein, nein, um Himmels willen.«
Aus irgendeinem Grunde hat mein sonst so friedliches, literarisches Inneres im Laufe dieser nichtssagenden Unterhaltung eine ziemliche Erregung entwickelt. Und nachdem der Typ weg ist, nachdem wir uns noch einmal versprochen haben, Kinder auszutauschen, und uns auch angelächelt haben, greife ich zum Telefon und habe gleich den Makler an der Strippe.
»Meine Frau hat Sie vorhin angerufen.«
»Ja.«
»Und Sie wollten ihr nichts über die Morde erzählen, die Sie uns versprochen haben.«
»He, das war nur einer. Nein, ich hatte Angst, sie zu erschrecken, sie wirkte eigentlich ein bißchen ... tja ...«
»Dann erzählen Sie’s mir.«
»Na gut ...«
Mir ging auf, daß ich etwas tat, was ich gar nicht wollte. Schon längst, ehe die Geschichte kam, wußte ich, daß ich sie nicht hören wollte, die Geschichte, die hier folgt, über die Familie Schou-Nilsen, einen pensionierten Kapitän, seine Frau und deren Schwester, die hier in den Jahren nach dem Krieg wohnten, eine anständige Familie mit Geld und hohem Ansehen. Dann verschwand plötzlich die Schwester der Frau. Der Kapitän erzählte Nachbarn und Bekannten, sie sei in ihren Geburtsort in Westnorwegen zurückgezogen. In den folgenden Jahren geschah jedoch etwas mit den beiden Übriggebliebenen: Sie gingen Nachbarn und Bekannten aus dem Weg, sie alterten merklich, und 1966 zog die Frau in ein Pflegeheim in Oslo, während der Mann hier wohnen blieb. Er, der früher ein hochgewachsener Kapitän gewesen war, extravertiert und aktiv im Dorfleben, war nun verwandelt in einen seltsamen und eigenbrötlerischen Einsiedler. Er besuchte seine Frau auch nie und ging nicht einmal zu ihrer Beerdigung, als sie ein Jahr später starb. Er ließ sich vom Kaufmann bringen, was er an Lebensmitteln und Brennholz brauchte, ließ es vor seiner Haustür abladen und hielt sich ansonsten im Haus auf. Dann bekam der Kaufmann keine Anrufe mehr, zehn Tage lang nicht; er benachrichtigte die Polizei, und die fand den Kapitän an einem Deckenbalken im Wohnzimmer ... Als mir der Makler das erzählte, blickte ich zu den Deckenbalken hoch, suchte mir den aus, den ich für den richtigen hielt, und fragte:
»Und dann fanden sie einen Brief, in dem er den Mord an seiner Schwägerin zugab? Sie haben im Keller gegraben und die Leiche gefunden?«
»Nicht im Keller, sondern im Garten, unten in dem spitzen Winkel zwischen der Hecke und dem letzten Apfelbaum. Sie war auch nicht auf eine Weise getötet worden, die ... na ja, die zu diesen Leuten paßte ... sie war zersägt worden, quer durch den Magen.«
»Du meine Güte. Wann ist das passiert?«
»Der Mord? 1964, wenn ich mich nicht irre. Der Kapitän hat sich ... 1967, glaube ich, aufgehängt.«
»Also haben wir es vielleicht mit einem Eifersuchtsdrama zu tun?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nicht, daß bei den Ermittlungen irgend etwas herausgekommen ist. Es kann sich auch um Geld gedreht haben, aber sie hätten wirklich anderes gehabt, um das sie sich hätten streiten können. Geerbt haben die drei Neffen des Kapitäns und ihre Familien, und denen gehört das Grundstück noch heute.«
»Und Sie verwalten es seither?«
»Ja.«
»Heißen diese Neffen auch Schou-Nilsen?«
»Nein, Rosenquist, alle drei wohnen in Kristiansand.«
»Und mehr wissen Sie wirklich nicht?«
»Nein, ist das nicht genug?«
»Doch, vielleicht.«
Ich bedankte mich für die Auskünfte, hörte ihn lachen und mir noch dazu einen »schönen Sommer« wünschen und legte auf. Und was machte ich dann wohl? Jawohl, der Mann, der keine Mordgeschichte hören wollte, aus Angst, darin verwickelt zu werden, geht aus dem Haus, in den Garten, hinter den letzten Apfelbaum (nicht mehr als zwanzig Meter vom Loch in der Hecke entfernt, das mein lieber Nachbar und Konstrukteur von Spielgeräten erst kürzlich beschrieben hat), und dort sehe ich – nichts. Nicht der geringste Hinweis auf einen Menschen in zwei Teilen, ein Grab, ein Drama, ein Rätsel. Ich sehe etwas zu hohes Gras über einer ebenen Fläche, einige Butterblumen, und über mir singt eine ausgelassene Lerche. Das ist alles. Ich sehe Vergessen. Aber in meinem Kopf gibt es kein Vergessen, dort regiert eine alte Geschichte in neuer Umgebung, angetrieben von Neugier, Resignation und Gedanken, die, das weiß ich, alle weitere Arbeit an einem elenden Roman mit genialem Abschluß stören werden.
Irritiert gehe ich zum Haus zurück, setze mich in die Küche und denke – mehr gibt meine Phantasie nicht her –, daß Kapitän Schou-Nilsen ein Verhältnis mit seiner Schwägerin gehabt haben muß, daß seine Frau davon Wind bekam und ihre Schwester umbrachte. Der Mann half ihr dann, sich der Leiche zu entledigen. Die Reue, oder vielleicht ganz einfach die Tragödie, hatten seine Frau dann gebrochen. Danach kam es auch bei ihm zum Zusammenbruch, wie eine schlimme Geschichte ja eigentlich alle ungestraften Täter zusammenbrechen lassen sollte. So weit reicht meine Phantasie. Die Frage, warum die Leiche dann zersägt wurde, stelle ich mir nicht, doch, ich stelle sie mir wohl. Aber die Antwort, die ich zustande bringe, ist keine bessere als die Theorie, daß es im Boden so viele Wurzeln gegeben haben muß, daß die Betreffende eben zersägt werden mußte, und das reicht ja nicht, nicht einmal für einen, der keine Kriminalromane mag. Und warum reicht sie nicht? Weil sie sie an einer Stelle mit weniger Wurzeln hätten vergraben können, das Grundstück mißt nämlich mehr als vier Dekar und wird auf allen Seiten von einer dichten Hecke vor neugierigen Blicken geschützt. Meine nächste Hypothese ist, daß der Mörder einen ungewöhnlich bestialischen Charakter gehabt haben muß, er muß es genossen haben, sein Opfer zu zersägen. Aber auch dieser Gedanke kann mich nicht weiter beruhigen; was ich über die Familie Schou-Nilsen weiß, und das ist nicht viel, sagt mir nämlich, daß der Mord nicht den Höhepunkt eines zynischen Planes bildete, sondern in Affekt und Verzweiflung ausgeführt wurde, zur Not in krankhafter Eifersucht und/oder blinder Wut, aber nichts davon läßt auf ein Bedürfnis bei Täter oder Täterin schließen, das Opfer zu zersägen.
Nachdem ich diese naheliegenden Gedanken gedacht habe, und Katrine sich immer noch mit dem beschäftigt, womit sie sich nun eben beschäftigt, während die Kinder desgleichen tun, und nachdem ich auch beschlossen habe, daß mein elender Roman mich noch immer weniger interessiert als diese blöde Mordgeschichte von vor fünfundzwanzig Jahren, schlendere ich in den Werkzeugschuppen, suche den Rasenmäher und mache mich ans Rasenmähen, bei einem Rasen, der gut und gern ein Achtel des Grundstücks bedeckt, das heißt, mehr als einen halben Dekar, und das ist eine enorme Arbeit. Ich bewahre mir den Flecken über der zweigeteilten Leiche bis ganz zum Schluß auf, und ich mähe ihn sehr sorgfältig, ich rasiere ihn bis zur Kopfhaut, bis zu einer kränklich grünen Moosschicht, mache ein paar tastende Schritte, stehe, wo ich glaube, daß die Leiche gelegen haben muß, wippe auf den Fußballen auf und ab, wie, um die Konturen von irgend etwas zu spüren. Ich spüre durchaus keine Konturen von irgend etwas, das ist ja auch kein Wunder, und stapfe vergrätzt zum Haus zurück.
Dort dusche ich, und als ich aus dem Badezimmer komme, ist zum Glück Katrine wieder da. Ich stehe im Flur und höre, wie unten die Tür geöffnet wird, ich höre Schritte in der Küche, höre Schranktüren, die geöffnet und geschlossen werden; ich höre eine Reihenfolge von Geräuschen, die ich normalerweise nicht mit Katrines Eintritt in die Küche nach einer Einkaufsrunde verbinde, normalerweise wird nämlich zuerst das, was dort hineingehört, im Kühlschrank untergebracht, danach das, was in die anderen Schränke soll. Jetzt ist die Reihenfolge umgekehrt; das denke ich, als ich die knarrende Treppe hinuntergehe und die Küche betrete.
»Hallo«, sagt Katrine. »Wie geht’s?«
»Doch, doch, es geht schon irgendwie.«
»Was machst du denn für ein Gesicht!«
Also sagt sie das, wovon ich weiß, daß sie es sagen wird, nämlich, wie ich aussehe, und ich weiß auch, wie Katrine mein Äußeres liest:
»Du hast angerufen?«
»Ja«, seufze ich, erleichtert, trotz allem. »Und er hat mir eine nicht gerade nette Geschichte erzählt.«
Ich seufze wieder und setze mich und weiß im selben Moment, daß mein Geseufze ganz und gar fehl am Platz ist. Es verrät nämlich nicht nur etwas über die Geschichte, sondern auch, daß ich persönlich diese unheimliche Angelegenheit wichtiger finde, als es für den Familienfrieden gut ist. Meine Deutung der Dinge ist für Katrine nämlich viel wichtiger als ihr Eigenwert, falls sie überhaupt einen haben. Deshalb lasse ich meine Stimme lässiger klingen, als ich nun vom Mord erzähle, ja, ich erzähle die Geschichte so, wie ich eine Geschichte von einem ganz anderen Ort, einem ganz anderen Haus erzählen würde, und ich finde eigentlich, daß ich meine Sache gut mache. Katrine findet das nicht:
»Das ist doch kein Grund zum Lächeln.«
»Herrgott, das ist doch fünfundzwanzig Jahre her, Katrine.«
»Das spielt keine Rolle – einen Menschen zu zersägen!«
»Ja, das hat er gesagt.«
»Das hättest du mir nicht zu erzählen brauchen!«
»Wie meinst du das denn nun? Gestern hast du noch herumgenervt, wir sollten uns alles erzählen!«
»Es heißt ja wohl nicht ›alles erzählen‹, wenn du dasitzt und darüber lachst, daß ein Mensch zersägt worden ist.«
Ich verdrehe die Augen.
»Ja, soll ich vielleicht weinen? Ich habe das doch nicht getan!«
»Das hat ja auch niemand behauptet! Was ist eigentlich in dich gefahren?«
Ja, wenn ich das wüßte. Denn jetzt sage ich tatsächlich: »Ach, vergessen wir das Ganze und essen wir ein bißchen, ich habe einen Bärenhunger.«
»Essen?«
»Ich habe den ganzen Nachmittag lang Rasen gemäht, ich habe Hunger, es ist mir schnurz, ob hier irgendwer umgebracht worden ist, es ist mir auch schnurz, ob sie in zwei oder in zehn Teile zersägt worden sind ...«
Worauf Katrine die Küche verläßt, mit einer offenen Schranktür, und das ist so ungewöhnlich, daß ich um den Tisch herumgehen und für sie die Tür schließen muß, ehe ich sie wieder öffnen und Brot und Brotschneidebrett herausnehmen kann. Ich öffne auch den Kühlschrank, der zum falschen Zeitpunkt geöffnet und geschlossen wurde, suche nach Aufschnitt und setze mich zum Essen hin. Mit gutem Appetit und in aller Gemütsruhe verleibe ich mir sechs Scheiben Graubrot mit Käse und Wurst ein und trinke auch eine Flasche Bier – mit derselben Gemütsruhe. Gleichzeitig durchdenke ich die zersägte Leiche und alle Varianten des Themas, die mein Gehirn nur hergibt. Ich weiß nicht, ob mein Kohldampf nun von dem makabren Mord oder meinem Krafteinsatz hinter dem Rasenmäher herrührt, so wenig, wie ich an körperliche Arbeit gewöhnt bin – normalerweise besteht die bei mir nämlich nur aus einem täglichen Spaziergang zum Kiosk, wo ich mir eine Zeitung und eine Tüte Gummibärchen kaufe (die ich in aller Heimlichkeit in meinem Arbeitszimmer verzehre). Nach vollendeter Mahlzeit bin ich noch genauso gut in Stimmung. Ich räume Essen und Reste weg, wische den Tisch ab, pfeife und reiße noch ein Bier aus dem Kühlschrank an mich, als Katrine wieder hereinkommt.
»Wo haben sie sie noch begraben?«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Nein, aber ich muß. Ich kann nicht den Sommer hier verbringen, ohne ...«
»Der Wahrheit ins Auge zu blicken?«
»Nenn es, wie du willst. Ich muß jedenfalls fertig damit werden.«
»Okay.«
Wir gehen hinaus, Katrine und ich, in die hinterste Ecke des Gartens, hinter den letzten Apfelbaum, wo ich ihr die bestrasierte Stelle des ganzen Grundstücks zeige und sage:
»Da!«
Wir stehen nebeneinander und betrachten eine Weile dieses anonyme Stück Erde, lassen es auf uns einwirken, sehen uns an, schütteln den Kopf, und Katrine sagt:
»Warum in aller Welt mußten sie sie bloß zersägen?«
»Sie hätten Rücksicht auf die Feriengefühle eines Ehepaars mittleren Alters fünfundzwanzig Jahre später nehmen sollen, meinst du?«
»Daß du so morbide sein kannst!«
Darüber lache ich nur, trinke einen Schluck aus der Bierflasche und biete sie ihr ebenfalls an, lasse sie mein Angebot ablehnen und höre sie dieselben phantasielosen Möglichkeiten murmeln, die mein eigenes Gehirn gerade durchgegangen ist und verworfen hat, daß es da unten vielleicht so viele Wurzeln gibt, daß nicht genug Platz für eine ganze Leiche war, nur für zwei Hälften, daß auch sie diese Hypothese verwirft, wie auch ich, da schließlich vier Dekar zur Verfügung stehen, lasse sie sich also durch die bereits behandelten Varianten einer zersägten Leiche hindurcharbeiten. Dann verlassen wir den kränklich grünen und wohlfrisierten Flecken unten im Garten hinter einem Apfelbaum in Drøbak und begeben uns zur Küche zurück, wo Katrine eine ebenso überwältigende Mahlzeit zu sich nimmt wie ich.