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3.

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Die Nacht war lang und von dumpfen, deprimierenden Fragen begleitet. Hasard hockte auf seinem Floß und kämpfte gegen die aufsteigende Müdigkeit an, die ihn gefangenzusetzen und in einen tiefen Schlummer zu entführen drohte. Aber er durfte nicht einschlafen. Er mußte wachen, um jeden Preis, mußte von Zeit zu Zeit wieder wriggen, um die Position zu halten, und nach den Schiffen des Bundes der Korsaren Ausschau halten, die nach seiner Berechnung nun bereits überfällig waren.

Wo waren sie? Er stellte sich die Frage, versuchte sie aber trotzdem zu verdrängen. Er überlegte, ob er in Abständen Rufe ausstoßen sollte, gelangte aber zu dem Schluß, daß auch das keinen Sinn hatte. Er schrie sich die Kehle aus dem Leib, und es brachte ihm doch nichts ein. Möglicherweise konnte er nur noch heiser krächzen, wenn sie, wirklich auftauchten, und der Wikinger, Reeves, die Rote Korsarin und Oliver O’Brien bemerkten ihn nicht. Auch die Toppgasten hatten nur einen bestimmten Sichtbereich. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, es war stockfinster. Auf eine Distanz von zehn, zwölf Yards konnte man kaum noch etwas erkennen, wie Hasard feststellte, als er den Blick auf die im Wasser treibenden Schiffstrümmer richtete.

Ein paar Teile trieben immer noch an ihm vorbei – diejenigen, die es am weitesten nach Norden katapultiert hatte. Jetzt glitten sie nach Süden davon. Was es für ihn zu holen gegeben hatte, das hatte er vereinnahmt, den Rest konnte er nicht gebrauchen.

Verschiedene Erwägungen beschäftigten seinen Geist. Waren die vier Schiffe aufgehalten worden? Gab es eine Nachhut der Spanier, mit denen sie durch Zufall zusammengetroffen waren? Nein – unmöglich. Die Kampfgeräusche wären bis hierher gedrungen, er hätte sie hören müssen.

Hatten die Wikinger, Reeves, Siri-Tong und O’Brien etwa eine Kursänderung vorgenommen? Auch das konnte er sich nicht vorstellen. Es wäre gegen die Vereinbarungen gewesen. Außerdem mußten sie den Kanonendonner und das Krachen der Explosionen vernommen haben, also war es nur logisch, daß sie auf die mutmaßliche Stätte des Gefechts zusteuerten.

Nach menschlichem Ermessen mußten sie früher oder später erscheinen. Hasard fragte sich, ob er sich vielleicht im Abschätzen der Zeit irrte. Ja, das mußte es sein. Für ihn war die halbe Nacht bereits verstrichen, dabei war seit seinem Unfall und dem Ende des Gefechts nur eine Stunde verstrichen. Oder?

Es hat keinen Sinn, dachte er, so kommst du auch nicht weiter. Er betrachtete das Fäßchen Branntwein und überlegte, ob er es anzapfen und sich einen Schluck gönnen sollte. Wo der Korken saß, wußte er inzwischen. Er brauchte ihn nur ein wenig zu lockern und konnte das edle Naß mit den Händen schöpfen.

Nein, dachte er. Er wollte völlig nüchtern bleiben. Alkohol war zwar eine gute Medizin, vor allem gegen die Schmerzen, aber er wollte seine Sinneswahrnehmung nicht schwächen. Hinzu kam, daß der Branntwein garantiert einschläfernd wirkte. Er mußte hellwach bleiben, nichts durfte ihn in irgendeiner Weise beeinträchtigen.

Die Zeit verstrich unendlich langsam. Wie lange hockte er schon so da? Er konnte es nicht mehr schätzen, aber er hatte doch den Eindruck, daß es viele Stunden waren.

Wo blieben die Schiffe?

Sie kamen nicht.

Was war geschehen?

Er wußte es nicht.

Tatsächlich zogen „Eiliger Drache über den Wassern“, die „Tortuga“, die „Caribian Queen“ und die „Pommern“ in dieser Nacht an ihm vorbei. Aber sie waren lautlose Schatten, deren Konturen von der Finsternis vollständig geschluckt wurden. Hasard erspähte sie nicht – und auch seine Kameraden ahnten nicht, daß er nur wenige hundert Yards südlich von ihnen als Schiffbrüchiger auf einem Stück Bordwand trieb. Einer sah den anderen nicht, und der Viererverband segelte nördlich von ihm vorbei.

Endlich graute der Morgen, und der neue Tag, der 25. Juli, setzte mit blassem Lichtschimmer ein. Hasard fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Seine Augen brannten, seine Züge waren angespannt, seine Glieder bleischwer. Er hatte Hunger und Durst, und die Zunge lag ihm wie ein pelziger Klumpen trocken in der Gaumenhöhe. Er atmete tief durch und streckte sich resigniert auf seinem Behelfsfloß aus.

Jetzt hatte er die bittere Gewißheit: Die Freunde waren längst an ihm vorbeigesegelt. Keine Mastspitzen zeigten sich an der Kimm, er war allein auf weiter Flur wie ein Verdurstender in der sonnendurchglühten Wüste. Die See ringsum war wie leergefegt. Wieder war eine Hoffnung zunichte, und es gab nichts mehr, das seine Lage auch nur ein klein wenig verbesserte.

Er mußte handeln. Wieder atmete er tief durch, dann hielt er nach Haien Ausschau. Aber keine Dreiecksflosse schnitt durch das Wasser, kein grauer Rücken zeigte sich. Hasard grinste freudlos, beugte sich etwas vor und schöpfte mit beiden Händen Seewasser, das er sich ins Gesicht klatschte. Die Müdigkeit wich ein wenig, aber von langer Dauer war die Erfrischung nicht. Schon bald stellte sich wieder das drängende Verlangen ein, endlich zu schlafen.

Hasard richtete sich auf einen längeren Kampf gegen das ein, was man im allgemeinen als den „inneren Schweinehund“ bezeichnet. Er durfte jetzt nicht nachgeben, er war auf seine Aktivitäten angewiesen und von ihnen abhängig. Seine Bewegungen waren nicht hastig, aber entschlossen, und er versah sein Werk mit Ernst und Akribie.

Mit dem zweiten Riemen errichtete er in der Mitte seines Floßes einen Notmast. Ein Querholz diente ihm als Rah, und unter Verwendung des Segeltuches baute er ein Notrigg. Er setzte es und prüfte es auf seine Verwendungsfähigkeit. Nicht schlecht, dachte er grimmig, und in der Not frißt der Teufel Fliegen.

Das Floß bewegte sich. Hasard benutzte den Riemen, mit dem er gewriggt hatte, als Steuer und nahm entschlossen Kurs auf Santo Domingo, das nach seiner groben Schätzung jetzt westwärts liegen mußte.

Wieder verstrich die Zeit, und die Sonne stieg bis zu ihrem höchsten Punkt auf. Hasard saß mit angewinkelten Beinen da und hatte sich das Ende des Riemens unter die Achsel geklemmt. Er spähte zur Kimm, die sich in eine leicht flirrende Linie verwandelte, betrachtete die See und den tiefblauen Himmel und fragte sich, wie lange er dem Durstgefühl noch standhalten konnte. Das Verlangen, sich einfach hinzuwerfen und das Salzwasser zu schlürfen, wurde übermächtig. Seine Kehle brannte wie Feuer.

Wie lange konnte ein Mensch ohne Wasser auskommen? Zwei Tage? Drei? Auf keinen Fall länger. Der Kutscher hatte es ihm einmal erklärt – oder war es sogar Doc Freemont gewesen? Egal, dachte er. Wasser war lebenswichtig, wichtiger noch als Proviant. Ohne Nahrung konnte ein ausgewachsener, kräftiger Mann sogar eine Woche lang aushalten. Aber der Durst brachte ihn innerhalb weniger Tage um. Wasser enthielt wichtige Substanzen, die den Organismus wie eine Antriebskraft versorgten. Wasser war das herrlichste Getränk der Welt, und allein die Vorstellung, es aus einer sprudelnden Quelle zu trinken, war verlockend und betörend.

Er befeuchtete seine spröden Lippen ein wenig mit der Zungenspitze. Verdammt, dachte er, laß dich nicht unterkriegen. Du kannst es noch zwei Tage lang aushalten, ohne Wasser. Und du hast ja den Branntwein.

Aber gerade der Branntwein war gefährlich. Er verdoppelte den Durst, schlimmer noch als das Seewasser. Er durfte das Fäßchen nicht anrühren. Er konnte einfach nur dasitzen, das Segel und die Pinne bedienen und darauf hoffen, daß er tatsächlich sein Ziel erreichte – oder irgendeine andere Insel.

Nach wie vor war die See leer und verlassen, er schien der einzige Mensch weit und breit zu sein. Keine Mastspitzen und Flögel zeigten sich, keine Bewegung war zu registrieren. Alles war tot, einsam, sich selbst überlassen.

Nur einmal hatte er sich in einer ähnlich ausweglosen Situation befunden, und gerade jetzt wurde er unangenehm daran erinnert. Seinerzeit in der Sahara, in Ägypten, bei der Erkundung des Nils, als die „Isabella VIII.“ im Kanal des Todes ihr Ende gefunden hatte – dort hatte die Verzweiflung nach ihm und seinen Kameraden gegriffen. Sie hatten die traurigste Episode ihres Lebens nicht mehr vergessen.

Es wurde Nachmittag. Nur noch träge hob er den Kopf und überlegte, ob es nicht doch besser sei, jetzt ein wenig zu ruhen. Vielleicht brauchte er später noch dringend frische Energien, beispielsweise in der Nacht, wenn die Orientierung doppelt schwer war, oder beim Nachlassen des Windes, wenn er wieder darauf angewiesen war, zu wriggen.

Plötzlich glaubte er, über der nördlichen Kimm eine Regung zu sehen. Täuschte er sich? Gaukelten sein Durst, die Schmerzen und die Müdigkeit ihm Trugbilder vor? Oder waren es wirklich Seevögel, die dort in den Himmel aufstiegen, kreisten und sich wieder fallen ließen?

Er hatte sich nicht geirrt. Es waren Möwen. Land mußte in der Nähe sein. Dieses Mal wurden seine Hoffnungen nicht enttäuscht. Nur kurze Zeit später sichtete er nördlich seiner Position etwas, das sich als der flache Strand einer Insel entpuppte. Er lachte rauh, nahm die Notbesegelung weg und wriggte darauf zu, um nicht weiter abgetrieben zu werden. Die Schmerzen tobten in seinem Brustkasten, aber er kümmerte sich nicht darum. Seine Entdeckung bedeutete Rettung, Zuversicht – und vielleicht auch Wasser, zumindest aber eine Handvoll Kokosnüsse, die er aufschlagen und verzehren konnte.

Eine palmenbestandene Insel hob sich vor ihm aus der See, ein Flecken Land wie viele dieser Art, die das Wohl oder Leid eines Schiffbrüchigen bedeuten konnten. Inseln der Karibik und der Südsee wirkten verheißungsvoll, wie ein Hort des ewigen Friedens und das Paradies schlechthin, aber sie konnten sich sehr schnell als schlangen- oder kannibalenverseuchtes Terrain herausstellen.

Oder aber man traf auf Piraten, die dort ein Lager oder gar einen Schlupfwinkel hatten. Höchst selten stieß man auf hübsche Eingeborenenmädchen oder versteckte Schätze. Sie existierten meistens nur in den haarsträubend erlogenen Geschichten, die man sich in den Hafenkneipen erzählte. Entweder waren die Mädchen häßlich, oder die Schatztruhen gähnten ihren Entdecker leer an.

Diese und ähnliche Gedanken gingen Hasard durch den Kopf, während er sich dem Eiland näherte. Sein Galgenhumor machte sich wieder bemerkbar – typisch. Er hatte nur einen Degen und ein Messer als Waffen. Falls er sich tatsächlich gegen irgendwelche Buschteufel zur Wehr setzen mußte, hatte er mit Sicherheit das Nachsehen.

Er mußte es darauf ankommen lassen, er hatte keine andere Wahl. Immerhin, seine Navigation „über den Daumen“ zeitigte ganz offensichtlich den gewünschten Erfolg. Es mußte sich um Cay St. Domingo handeln, die Insel ganz im Süden der Columbus-Bank, die wiederum der südöstlichste Teil der Großen Bahama-Bank war, einem für die Schiffahrt höchst gefährlichem Bereich der See – wegen der unzähligen Korallenriffs und der flachen Wassertiefen.

Die Zahl der Seevögel nahm zu, sie kreisten in Schwärmen über ihm. Ihr Kreischen und Zetern war fast Musik in seinen Ohren. Die Totenstille der See hatte ihn bedrückt, das Plätschern des Wassers am Floß war monoton. Endlich gab es eine Abwechslung – und er sah jetzt auch an der helleren Verfärbung des Wassers, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war: Er hatte die Columbus-Bank vor sich.

Wriggend steuerte Hasard die Insel an und lavierte zwischen Korallenbänken und Riffs in eine Lagune an der Südostseite. Das Bild, das sich seinen Augen bot, war von faszinierender Schönheit und Harmonie. Ein weißer Sandstrand, von flachen Büschen gesäumt, schmiegte sich an die Brandung, majestätisch erhoben sich die Palmen wie die Zacken einer prächtigen Krone über allem.

Hasard steuerte in die Brandung. Sie hob seinen Untersatz leicht hoch und ließ ihn wieder sinken, und mit zunehmender Geschwindigkeit schoß er auf das Ufer zu. Er landete, sprang ins flache Wasser, knickte mit dem einen Fuß fast um, fing sich wieder und zog sein Floß auf den feinen weißen Sand.

Die empört krakeelenden Möwen umschwärmten ihn. Sie fühlten sich in ihrer Ruhe gestört. Wie lange war es her, daß ein Mensch seinen Fuß auf diese Insel gesetzt hatte?

Die Frage blieb unbeantwortet. Hasard blieb stehen, blickte zu den Vögeln auf und sagte heiser: „He, dann kann ich mich ja zumindest von Möweneiern ernähren, oder?“ Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder.

Er schüttelte den Kopf, dann sah er sich nach allen Seiten um. An den Palmen hingen Kokosnüsse, und auch am Boden lagen welche. Er brauchte sich nur noch zu bücken, um den größten Durst und den schlimmsten Hunger zu stillen.

Aber auch das Zertrümmern einer Kokosnuß war nicht so einfach, wie ein Unerfahrener sich das vorstellt. Das ideale Werkzeug wäre eine Axt gewesen, ein Beil oder ein schwerer Schiffshauer. Der Degen war nicht geeignet. Zu leicht konnte die Klinge zerbrechen. Hasard ließ sich auf die Knie sinken, zückte das Messer und nahm sich eine der im Sand liegenden Nüsse vor.

Er klemmte sie sich zwischen den Oberschenkel, damit sie beim Zustechen nicht wegrollen konnte, mußte aber darauf achten, daß die Messerklinge nicht abrutschte und ihn verletzte. Probeweise setzte er die Spitze an, ritzte die brettharte Schale an, hob das Messer wieder und ließ es mit Wucht niedersausen.

Die Klinge schob sich etwa bis zur Hälfte hinein und blieb stecken. Hasard hieb mit der Faust auf das Heft, konnte auf diese Weise aber nichts ausrichten. Deshalb nahm er die Nuß in beide Hände, drehte sie und rammte das Heft des Messers gegen einen Stein. Durch den entstehenden Druck drang die Klinge ganz ein, und ein feines Knacken ertönte.

Hasard drehte die Nuß wieder so, daß er den Griff des Messers in die Hand nehmen konnte. Vorsichtig bewegte er es hin und her. Durch den Schlitz in der Schale trat die weiße Milch hervor. Er mußte jetzt darauf achten, daß sie nicht ganz auslief.

Er lockerte das Messer ein wenig, hob die Nuß hoch und ließ sich die kühle Milch in den Mund rinnen. Sie belebte und erfrischte ihn sofort. Nachdem er es ausgetrunken hatte, spaltete er die Nuß, schälte sie und zerlegte sie mit dem Messer in Stücke.

Er setzte sich in den Sand und begann zu essen. Selbst das Schlucken bereitete ihm Schmerzen, aber er achtete nicht darauf. Das Fleisch der Kokosnuß war kühl und saftig, es knackte unter seinen Zähnen. Für einen Mann in seiner Lage konnte es nichts Köstlicheres geben.

Sein Blick wanderte über den Strand. Außer den kreischenden und protestierenden Vögeln zeigte sich kein Lebewesen. Keine Spuren deuteten darauf hin, daß die Insel bewohnt war. Die Lagune dehnte sich wie ein idyllischer See vor ihm aus, ein Ort der Ruhe und der Unveränderlichkeit.

Er öffnete noch eine Kokosnuß und verzehrte sie, dann kehrte er zu seinem Floß zurück und begann, seine „Habseligkeiten“ zu bergen. Das Fäßchen, die Leinen, das Segeltuch, die Riemen und die Planke – er schleppte sie nach und nach höher hinauf zum Palmengürtel und richtete sich einen Lagerplatz ein. Er kehrte noch einmal auf den Strand zurück, zog das Floß weiter auf den Sand, sicherte es durch ein paar Steine, die er gefunden hatte, gegen ein mögliches Abtreiben und sammelte schließlich drei, vier große Muschelschalen ein. Er nahm sie mit, schritt mit etwas schleppendem Gang zwischen den Palmenstämmen hindurch und blieb an seinem Unterschlupf stehen.

Sein Blick fiel auf das Faß.

„So“, sagte er, und seine Stimme schien ihm jetzt bereits ein bißchen vertrauter zu klingen. „Und jetzt zu uns, mein Freund. Wir sollten uns eingehender miteinander unterhalten, zur Feier des Tages sozusagen.“

Fast schien es ihm, als nicke das Faß ihm aufmunternd zu. Verlier bloß nicht den Verstand, dachte er, dreh nicht durch. Was sollen die Arwenacks mit einem übergeschnappten Kapitän anfangen?

Er hatte Männer kennengelernt, die durch ähnliche Erlebnisse den schmalen Grat zwischen dem Normalsein und der geistigen Umnachtung überschritten hatten. Aber man mußte Wochen und Monate in völliger Einsamkeit zubringen, um verrückt zu werden. Oder aber eine Verletzung am Kopf, die das Hirn in Mitleidenschaft zog, führte dazu.

Er konnte von Glück sagen, daß die Besanrute der „Isabella“ nicht seinen Kopf getroffen hatte. Hätte sie ihn nur an der Schläfe erwischt, hätte er auf der Stelle tot sein können. Oder aber er wäre bewußtlos ins Wasser gestürzt und ertrunken, wie es ja auch um ein Haar passiert wäre. Weiter: Haie hätten auftauchen können, und es hatte auch die Gefahr bestanden, daß ihn eins der herumfliegenden Trümmerteile am Kopf traf.

„Somit hast du mächtig Schwein gehabt, mein Lieber“, sagte er zu sich selbst. „Und du solltest deswegen froh und dankbar sein.“

Er war es, aber gleichzeitig sorgte er sich um das Schicksal seiner Kameraden. Wie war es den Männern der „Isabella“ ergangen? Aus dem Verlauf des Passiergefechts war zu schließen, daß es auch auf der „Isabella“ Verletzte gegeben hatte. Oder gar Tote? Er schloß unwillkürlich die Augen. Er mochte nicht daran denken. Die Vorstellung allein war zu furchtbar.

Wie sah inzwischen die Situation auf der Schlangen-Insel aus? Hatten die Spanier sie erreicht? Was unternahmen Karl von Hutten, Pater David, Ramsgate, Arkana und die anderen Verteidiger, um die drohende Invasion abzuwenden?

Nein, dachte er, der Verband kann noch nicht eingetroffen sein. Er stellte eine kurze Überschlagsrechnung auf und gelangte zu dem Schluß, daß die Spanier bei gleichbleibenden Wind- und Wetterverhältnissen noch etwa zwanzig Stunden brauchten, um ihr Ziel zu erreichen. Das bedeutete, daß sie erst gegen Mittag des 26. Juli angreifen würden.

Hasard plazierte das Fäßchen auf einem Sandbuckel – so, daß er den Korken aus dem Spundloch ziehen und den Branntwein in eine der leeren Muscheln laufen lassen konnte.

Old O’Flynn ist auf der Hut, dachte er, er wird das Nahen des Verbandes rechtzeitig genug melden. Dann tritt der exakt festgelegte Plan in Aktion: Alle Nichtkämpfer räumen die Insel und segeln nach Coral Island. Die Verteidiger beziehen Gefechtsposten und igeln sich ein. Jeder Landungsversuch des Gegners wird mit Kanonen, Brandpfeilen und Pulverflaschen beantwortet.

So hatte der Rat es beschlossen, und nach diesem Schema würden die Freunde auch verfahren. Er nahm sich vor, einfach nur daran zu denken, daß alles funktionierte und die Insel sich in eine uneinnehmbare Festung verwandelte. Einen ersten und auch einen zweiten Angriff konnten Arkana, Karl von Hutten und die anderen abwehren, und in der Zwischenzeit würden auch die Schiffe des Bundes wieder eintreffen und in die Schlacht eingreifen.

Er lockerte den Korken, und der Branntwein plätscherte in die Muschelschale. Er stöpselte das Spundloch wieder zu, hob die Muschel an die Lippen und kostete von dem scharfen Getränk. Es brannte wie Feuer in der Kehle und im Magen, regte seine Lebensgeister aber zusätzlich an.

Ein edler Tropfen, dachte er anerkennend, wer hätte das gedacht!

Nun, die Spanier waren keine Kostverächter. Vielleicht hatte das Fäßchen zum privaten Eigentum des Kapitäns einer der beiden gesunkenen Galeonen gehört. Es war ein Wunder, daß es bei der Explosion nicht auseinandergeflogen war. Hasard überlegte, ob die Überlebenden der beiden Schiffe unbeschadet Kuba erreicht hatten.

Sicherlich, dachte er, aber sie verspüren vorerst nicht mehr das geringste Verlangen, in den Kampf einzugreifen. Auch mangels Gelegenheit – der Verbandsführer kehrte jetzt nicht mehr um, um seine Mannschaften zu verstärken und sich aus den Häfen an der Nordküste von Kuba neue Schiffe zu besorgen.

Er unterbrach den Kriegsmarsch auf die Schlangen-Insel nicht mehr, er hatte bereits zuviel Zeit verloren, dieser Don Garcia Cubera, der nach allem, was Hasard über ihn vernommen hatte, ein aufrichtiger und geradlinig denkender Mensch zu sein schien.

Don Juan de Alcazar hatte ihm bei ihrer kurzen Begegnung alles berichtet: Was sich seit dem Auslaufen des Verbandes aus dem Hafen von Havanna zugetragen hatte und wie seine kleine Crew und er in das Geschehen eingegriffen hatten, indem sie sich nachts anschlichen und Ruderanlagen zerschossen.

Cubera war auf diese Weise aufgehalten worden, aber auch die Anwesenheit von Don Antonio de Quintanilla an Bord des Flaggschiffes „San José“ war ein negativer Faktor für die Spanier. Der Gouverneur behinderte und boykottierte das Unternehmen, denn er hatte inzwischen mehr Angst als Vaterlandsliebe und zweifelte an dem Gelingen.

Hasard grinste unwillkürlich und genehmigte sich noch einen Schluck Branntwein. Er verspürte große Lust, diesem Don Antonio früher oder später zu begegnen und ihn für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Er war einer der durchtriebensten und korruptesten Halunken, von denen er je vernommen hatte.

Er schreckte nicht einmal davor zurück, seine Amtskollegen zu beseitigen, wenn sie ihm im Wege standen, wie der Fall des Don Ruiz de Retortilla bewies. Er verdiente eine Abreibung und nachhaltige Bestrafung, denn unter anderem hatte er versucht, Don Juan zu töten. Zuletzt hatte er ihn des Mordes an der Señora Samanta de Azorin bezichtigt, und Don Juan hatte fliehen und sich verstecken müssen.

Cubera hingegen schien ein ganz anderer Typ Mensch zu sein. Er versah seine Aufgabe korrekt und mit dem erforderlichen Ehrgeiz. Hasard konnte ihn deswegen nicht hassen. Der Mann tat seine Pflicht, bediente sich aber keiner hinterhältigen Tricks. Don Juan hatte versucht, ihn durch seine Angriffe zu entmutigen und den Verband zur Umkehr zu zwingen, aber er hatte sein Ziel nicht erreicht. Cubera segelte weiter – und lieber starb er, als daß er jetzt noch von seinem Unternehmen abließ.

All das ging Hasard durch den Kopf, während er dahockte und zur Tatenlosigkeit verdammt war. Die Dinge nahmen ihren Lauf – und er konnte sie nicht mehr beeinflussen.

Seewölfe Paket 21

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