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3 Das Geheimnis

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Nach dem ersten erfolglosen Geschosshagel hatten die Kopfjäger ihre Pfeile gespart und sich ganz auf die Jagd konzentriert. Die ersten Verfolger waren kaum mehr als zwanzig Schritt hinter Bomba, als er vor ihren Augen vom Erdboden verschwand.

Jetzt standen sie verwirrt und aufgeregt vor den Felsen und schnatterten in ihrer Eingeborenensprache miteinander. Sie hatten gesehen, dass der Junge in den Spalt geglitten war, ohne auf der anderen Seite wieder zu erscheinen. Er musste also noch in der Nähe sein, denn der weitere Fluchtweg war deutlich zu überblicken.

Nascanora zwängte sich durch den Spalt und starrte zu Boden. Keine Spur lief weiter — nichts war zu sehen oder zu hören.

„Kann ihn denn der Felsen verschlungen haben?“, rief der Häuptling empört. „Da siehst du, wie mächtig der Zauber des weißen Jungen ist!“, schrie er dem Medizinman zu, der inzwischen auch keuchend herangetrabt kam. „Suche ihn doch! Finde ihn mir mit deinem Zauberspruch.“

Ruspak senkte beschämt den Blick und antwortete nicht. Die Krieger hatten inzwischen begonnen, die Felsen zu betasten und nach einer Öffnung zu suchen. Der Steinboden zwischen den Felsen war von Wind und Regen glattgewaschen und mit einer feinen Sandschicht bedeckt.

Die Krieger blickten einander verstört an und wagten es nicht, dem wutbebenden Häuptling in die Augen zu schauen. Dieser Vorgang überstieg ihr Begriffsvermögen. Sie wussten wirklich nicht, was sie davon halten sollten. Es konnten doch nur Zauberkräfte am Werke sein, wenn ein Mensch einfach verschwand, ohne irgendein Zeichen oder eine Spur zu hinterlassen!

Mit langen, stampfenden Schritten ging Nascanora auf und ab. Mitunter griff er fester um seinen Speerschaft und hob ihn ein wenig, als müsste er ihn gegen einen unsichtbaren Gegner richten. Seine ohnmächtige Wut äußerste sich in dem nervösen Beben seiner Lippen und in der düsteren Glut des Blickes. Wieder entlud sich sein Zorn über den Medizinmann.

„Wohin ist der weiße Junge geflohen?“, fragte er höhnisch. „Sage es mir, Ruspak! Verraten dir die Götter dieses Geheimnis nicht? Ist Bomba in die Erde gesunken? Oder ist er in die Luft geflogen wie ein Vogel? Wohin ist er?“

Inzwischen hatte der schlaue Ruspak schon Zeit gefunden, sich auf seine Verteidigung vorzubereiten. Als er jetzt zu sprechen anfing, klang seine Stimme nicht mehr unsicher.

„Die Götter wissen alles“, begann er mit geheimnisvoller Miene und machte eine beschwörende Geste. „Doch sie lieben es mitunter, die Augen ihrer Diener zu verwirren und mit den Schleiern der Unwissenheit zu bedecken. Daher ...“

„Schwatze nicht so viele große Worte!“, rief Nascanora unwillig dazwischen. „Sage mir, was du tun kannst.“

„Ich werde zuerst die Götter beschwichtigen“, fuhr Ruspak fort. „Vielleicht sind sie zornig“. Seine Stimme hob sich, und er ließ den Blick anklagend über die Krieger gleiten. „Vielleicht waren Nascanora und seine Krieger nachlässig und haben es versäumt, den Göttern genügend Opfergaben darzubieten? Oft genug achten die Krieger nicht auf mein Wort, auf die Mahnung des Götterdieners Ruspak. Doch Nascanora kann ruhig sein. Ich werde eine starke Medizin machen und die Götter beschwören. Wenn ihr Zorn verflogen ist, werden sie mir offenbaren, wohin der weiße Junge verschwunden ist.“

Der Häuptling hatte schon eine schroffe Antwort auf den Lippen, aber er beherrschte sich und schloss den Mund wieder. Er war ein mächtiger Häuptling und gefürchtet im ganzen Dschungelgebiet. Doch er wagte es nicht, den Diener der Götter zu sehr zu beleidigen. Seine eigenen Krieger hätten sich in diesem Falle möglicherweise gegen ihn wenden können.

Als Wache ließ er einige der Männer bei den Felsen zurück und ging dann mit den anderen zu der Lichtung zurück, um die unterbrochenen Vorbereitungen der Mahlzeit fortzusetzen.

Wer nicht wie die Kopfjäger an eine Zauberei glauben wollte, musste sich immerhin auch fragen, auf welche Weise Bomba so unerwartet den Blicken seiner Verfolger entschwunden war. Die Erklärung war einfach genug und doch ziemlich überraschend:

Einige Monate zuvor kam Bomba durch dieses Dschungelgebiet, und ihm fielen die beiden Felsen auf, die wie zwei Wächter inmitten einer Lichtung aufragten. Als er sich zwischen den Felsen zu Boden setzte, um sich auszuruhen, stieß er zufällig mit seinem Bogen scharf auf die Bodenplatte. Es gab einen hohlen Ton!

Jetzt erwachte Bombas Neugier. Er zog seine Machete aus dem Gürtel und ließ die Klinge in den winzigen Spalt gleiten, den er in der Felsplatte bemerkt hatte. Mit Erstaunen stellte er fest, dass die Platte beweglich war und sich ziemlich leicht anheben ließ. Darunter gähnte ein fast sechs Fuß tiefes Loch.

Bomba untersuchte die Höhle und stellte fest, dass sie sich weit in den Dschungel hinein erstreckte. Schließlich stieß er gegen eine Wand und schloss daraus, dass die Höhle keine weiteren Ausgänge besaß.

Als er seinerzeit zum Ausgang zurückkehrte und die Steinplatte prüfend betrachtete, kam er zu der Überzeugung, dass es sich um keine Laune der Natur, sondern um das Werk geschickter Menschenhände handeln musste. Vielleicht war hier in weit zurückliegender Zeit eine Kultstätte gewesen, an der die Priester den Göttern ihre Opfer dargebracht hatten. Die Höhle mochte vielleicht dazu gedient haben, die Gebeine der unglücklichen Menschenopfer aufzunehmen.

Dieser grauenhafte Gedanke hatte Bombas Freude über die Entdeckung nicht getrübt. Ihm genügte es, dass er einen Zufluchtsort gefunden hatte, der allen anderen Menschen im Dschungel unbekannt war. Da dieses Gebiet des Dschungels bei den Eingeborenen als verhext galt, pflegten sie auch im Allgemeinen einen Bogen darum zu machen. Bomba schob also ein kleines Stück Holz unter die eine Seite der Platte, so dass er sie im Notfall leicht anheben konnte. Jetzt war die Öffnung kaum zu bemerken und eine Entdeckung nicht zu befürchten.

Bomba war seinerzeit dann weitergezogen und hatte das Erlebnis bald vergessen. Jetzt trat die Entdeckung blitzschnell in seine Erinnerung, als er in der gleichen Gegend von den Kopfjägern verfolgt wurde. Das war des Rätsels Lösung. Und nun wieder in die Gegenwart zurück!

*

Die Gedanken jagten einander in Bombas Gehirn, als er dahinhastete und die drohenden Rufe seiner Verfolger hinter sich hörte.

Angenommen, das Loch war nicht mehr offen! Angenommen, die Pranken eines Raubtieres hatten die Platte wieder in die richtige Lage gerückt?

Auf keinen Fall würde ihm genug Zeit bleiben, um die Platte erst aus ihrem Rahmen zu heben, sagte er sich. Doch dann sah er im Näherkommen, dass die Platte griffbereit dalag. Er hob sie, schwang sich blitzschnell in die Höhle und ließ den Steindeckel über sich zufallen. Das alles war das Werk zweier Sekunden. Mit pochendem Herzen kauerte Bomba unter der Felsplatte, als die Schritte seiner Verfolger über ihm dahinstampften.

Würden die scharfen Augen der Kopfjäger die fast unsichtbaren Randlinien entdecken? Das wäre am hellen Tage durchaus möglich gewesen, doch jetzt begünstigte die hereinbrechende Abenddämmerung die Verhüllung seines Fluchtweges.

Bomba hörte über sich das aufgeregte Rufen und Schnattern der Wilden und dann Nascanoras zornige Unterhaltung mit dem Medizinmann. Es gab einen frohen Ruck in seinem Innern, als er hörte, dass die Kopfjäger für diesen Tag die Jagd nach ihm abbrechen wollten. Doch dann sank die rasch emporgeloderte Hoffnung wieder, als er hörte, dass der Häuptling Posten bei den Felsen zurücklassen wollte. Im anderen Falle wäre es leicht für ihn gewesen, im Schutze der Dunkelheit sein Versteck zu verlassen und sich davonzustehlen.

Er war also für den Augenblick gerettet. Doch war es wirklich eine Rettung? Hatte er vielleicht nicht nur eine Todesart gegen eine andere eingetauscht? In der Höhle war nicht genug Atemluft, um eine mehrstündige Belagerung auszuhalten. Von oben war das Loch hermetisch abgeschlossen, und der Erstickungstod war ihm sicher, wenn er keinen Ausweg finden konnte.

Ehe er sich in der Dunkelheit auf die Suche nach einem Fluchtweg machte, betastete er seine verwundete Schulter. Der Schmerz war ziemlich stark, aber seine tastenden Fingerspitzen überzeugten ihn davon, dass er nur eine Fleischwunde davongetragen hatte. Er legte kühle Erde vom Höhlenboden darauf und verspürte fast augenblicklich eine Linderung des Schmerzes.

Auf Händen und Knien tastete sich Bomba vorwärts und untersuchte jeden Zoll der Wände. Durch einen engen Spalt zwängte er sich in einen etwas größeren, sehr niedrigen Raum, der kreisrund war. Er tastete vorsichtig den Boden ab und atmete dann erleichtert auf.

Während der letzten Minuten hatte ihn die Besorgnis beunruhigt, dass inzwischen vielleicht eine Anakonda oder Pythonschlange diese Höhle als Nest auserkoren hätte. Jetzt war er jedoch sicher, das einzige Lebewesen in der Höhle zu sein. Er begann die Wände der kreisrunden Höhle zu betasten und klopfte sie mit den Fäusten ab, uni möglicherweise eine hohle Stelle zu finden.

Aber der erste Rundgang war hoffnungslos. Er hatte zwar nur Erdwände vor sich, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich wie ein Maulwurf ins Freie arbeiten könnte. Über ihm waren Felsen, und seine ganze Arbeit mochte sinnlos sein, wenn er sie an der falschen Stelle leistete. Und dann? Wenn die Atemluft in der niederen Enge der Höhle erschöpft war, musste er ersticken. Diese bittere Erkenntnis drängte sich ihm immer wieder auf.

Er steckte in einer Falle. Aber das Schlimmste daran war, dass er jetzt auch keine Möglichkeit hatte, seine Freunde zu warnen. Während er sinnend in der Dunkelheit kauerte, sah er in Gedanken die Kopfjäger an das Dorf der ahnungslosen Araos heranschleichen. Er glaubte ihr Triumphgeheul zu hören, als sie zum nächtlichen Angriff aufsprangen, und er presste unwillkürlich seine Hände zu Fäusten. Er wusste, dass die Kopfjäger kein Erbarmen kannten. Sie würden die Hütten niederbrennen, die Männer töten und die Frauen und Kinder als Sklaven in die Gefangenschaft schleppen.

Alle diese Bilder standen mit schrecklicher Deutlichkeit vor ihm. In der Dunkelheit der Höhle arbeitete seine Einbildungskraft noch stärker als sonst. Er war unfähig, die furchtbaren Bilder zu vertreiben, die immer und immer wieder in seiner Einbildung erschienen.

Endlich raffte er sich aus dem trägen Sinnieren auf. Er wollte den Kampf nicht aufgeben — er durfte es einfach nicht tun. Noch lebte er, noch konnte er für seine Befreiung arbeiten. Wenn auch die Chance sehr gering war, so wollte er doch versuchen, irgendwo die Wände seiner Todeszelle zu durchbrechen.

Es schien so, als wären für dieses Vorhaben alle Teile der Wand gleich gut oder gleich schlecht geeignet. Ohne lange zu überlegen, griff Bomba daher nach seiner Machete und begann mit verzweifelter Energie zu graben.

Bomba im Tal der Schädel

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