Читать книгу Einmal Himmel und zurück - Rudi Bacher - Страница 6

Оглавление

Die Reise

Ich finde mich auf dem Rücksitz eines alten Chevrolet. Eines jener Fahrzeuge, die mich als Freund alter Autos immer faszinierten. Mein Bruder fährt den Oldtimer. Wir waren beide immer verrückt nach Autos. Über Chevys unterhielten wir uns jedoch nie, ganz abgesehen davon, dass wir je so ein Auto gefahren hätten. Auf dem Beifahrersitz ein Schulfreund meines Bruders, mit dem wir schon sehr schöne gemeinsame Ausflüge und Urlaube unternommen hatten.

Aber wo sind wir? Ich kenne die Gegend nicht, war noch nie da. Es könnte sich um eine Wüstengegend handeln, etwa so, wie ich mir von Reiseberichten her Australien, Mexiko oder den Süden Nordamerikas, etwa Texas oder Arizona vorstellen würde. Die Gegend ist einsam und trostlos – keine Ortschaft, nur vereinzelte Siedlungen, fast wie verlassene Goldgräberstädte. Selten findet man eine Kurve auf dieser einspurigen, nur in Teilstücken asphaltierten Straße. Kilometerlange Gerade, soweit das Auge reicht. Ich blicke hinter mich, die bedrohlich scheinenden Wolken kündigen ein aufziehendes Gewitter an, aber vor uns blauer Himmel. Jetzt erst bemerke ich die brütende Hitze, es muss weit über 30 Grad haben.

Stunden scheinen wir schon unterwegs zu sein, doch plötzlich wird die Straße breiter und ist nun sogar asphaltiert. Rechts und links der Fahrbahn stehen alte Flugzeuge und einige Autos. Rechts vor uns ein Gebäude, das wie eine Scheune aussieht, mit einem Aussichtsturm, daneben ein Windsack.

„Die verwenden doch glatt die Straße als Runway für Flugzeuge“, sagt mein Bruder. „Ja klar“, denke ich mir, warum sollten sie in so einer gottverlassenen Gegend auch einen eigenen Flugplatz neben der Straße bauen?“ Meine Blicke streifen die vielen bunten Pipers und Cessnas, aber ich erkenne keine Hoheitszeichen oder Flugzeugkennungen.

Da plötzlich ist mir, als erkannte ich einen alten Freund wieder, mein ehemaliger Fluglehrer. „Das kann doch nicht sein, der ist ja schon längst gestorben“, rufe ich meinem Bruder zu. „Bleib stehen, schnell!“

Egon, so hieß mein Fluglehrer, stand auf der Tragfläche einer zweisitzigen Piaggo P.29, ein italienisches Aufklärungsflugzeug aus dem 2.Weltkrieg. Er war eben dabei, die Kabinenhaube zu öffnen. Noch bevor das Auto zum Stillstand kam, riss ich die Tür auf und rannte quer über die Straße auf Egon zu.

Unser Freund Stefan fasste meinen Bruder am Arm und fragte: „Wer ist Egon? Was heißt das – er ist schon längst gestorben?“

„Über Egon kann ich Dir einiges erzählen, aber alles andere ist auch mir ein Rätsel.“, antwortete er. „Egon war Fluglehrer. Der beste, den ich kannte. Mein Bruder und ich beschlossen eines Tages, Fliegen zu lernen. Unsere erste Begegnung mit ihm war am Flugplatz, als wir uns zögernd nach einer Ausbildung zum Privatpiloten erkundigten. Er kam gerade von einem Flug zurück und sagte zu uns: ,Ihr wollt Fliegen lernen? Steigt ein, ich will Euch etwas zeigen!’ Sodann hoben wir uns in die Lüfte und er zeigte uns die Stadt über München. Was heißt über? Von allen Seiten. München war unten, oben, rechts, links, überall. Unbeschreiblich, dieses Gefühl in der Magengrube. Ich weiß noch immer nicht, warum mir damals nicht hundeübel geworden war. Es war wohl das unerklärliche Vertrauen, das dieser unbekannte Pilot ausstrahlte. Als wir wieder landeten, fragte er uns mit einem breiten Grinsen im Gesicht: ,Wollt ihr immer noch fliegen lernen?’ ,Und wie, war unsere Antwort’, begierig, diese Flugkünste selbst einmal zu Wege zu bringen. ,Dann ist es gut’ meinte er, und schrieb uns zum Kurs ein.“

„Dein Bruder erwähnte, dass er gestorben sei. Wann und wo ist er abgestürzt?“, fragte Stefan, immer noch verwirrt. „Jeder von uns glaubte, dass er irgendwann seinen Tod in der Fliegerei finden würde; nein, er starb an Lungenkrebs. Das war für uns alle eine Schreckensbotschaft. Aber eigentlich erklärlich, war er doch starker Kettenraucher. Aber lass mich jetzt zu ihm.“

Wir lagen uns immer noch in den Armen, als mein Bruder zu uns kam und Egon ebenso überschwänglich begrüßte, während ich Stefan nachdenkend auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf der Frontscheibe unseres Autos gelehnt sitzen sah.

Wir begaben uns zusammen in ein kleines Fliegerrestaurant zwischen zwei Hangars und frischten unsere früheren Erlebnisse auf. So lebendig war Egon vor uns, dass keiner mehr an das Rätsel seiner leibhaftigen Gegenwart dachte, als plötzlich Egon zu mir sagte: „Ich muss wieder weiter, kommst Du mit?“

„Wohin fliegst Du denn?“, fragte ich.

„Als ob das wichtig wäre. Du weißt ja nicht einmal, wo Du im Moment bist!“

Wie die Faust aufs Auge. Das saß. Ich überlegte einen Moment. Ein Flug mit Egon wäre natürlich wieder einmal ein Erlebnis. Müsste ich Angst haben?

„Nein“, sagte Egon, kurz und bündig. Er konnte offensichtlich meine Gedanken lesen. Wieder ein kleiner Schock für mich, aber bei Egon musste ich immer auf alles gefasst sein.

„Dann komme ich mit!“ sagte ich mit einem Blick zu meinem Bruder, der mir nickend zu verstehen gab, dass er einverstanden war. Jemand musste ja schließlich bei unserem verwirrten Freund Stefan bleiben und außerdem wäre in der zweisitzigen Piaggo ohnehin kein Platz mehr gewesen.

„Dauert nur ein paar Minuten“, sagte Egon zu meinem Bruder, als er das Verdeck vorschob und verriegelte. „Keine Starterlaubnis, kein Kontakt mit der Flugsicherung?“, fragte ich Egon über unsere Funkverbindung, während er auf die Straße rollte, die hiermit zu einer Rollbahn umfunktioniert wurde.

„Ist nicht notwendig“, sagte er, „wir kommunizieren gedanklich und Kollisionen sind ohnehin ausgeschlossen. Aber frage nicht so viel, Du wirst bald mehr verstehen. Deine Augen, deine Ohren, all deine Sinne werden übergehen vor Freude und Glück. Genieße es einfach.“

In der Luft gingen meine Sinne immer schon über vor Freude und Glück. Ich selbst gab die Fliegerei auf, als ich von Egons Tod erfuhr. Aber ich genoss immer jede Minute in der Luft, auch später als einfacher Passagier. Die Erde unter mir zu wissen, alles so klein und übersichtlich, das reduzierte alle meine Sorgen auf ein Minimum. Ich winkte noch Stefan und meinem Bruder zu, als das Flugzeug abhob, und bald verlor ich sie aus den Augen.

Vor uns bedrohliche Wolken. Er wird doch nicht direkt in dieses Gewitter hineinfliegen, dachte ich bei mir. Es begann zu hageln, und Eis bildete sich auf den Tragflächen. Ich wusste, dass das gefährlich werden konnte, wenn den Steuerungselementen die Beweglichkeit genommen würde. Blitze krachten hernieder, und plötzlich traf ein Blitz das Flugzeug und eine schrille Helligkeit durchfuhr das Cockpit. Die elektronischen Geräte waren perdu, und die mechanischen kaum mehr zu steuern. Die Ruhe Egons provozierte mich. Er tat, was er immer tat. Das Unerwartete.

Dann aber passierten eigenartige Dinge mit mir. Ich schien die Gedanken Egons lesen zu können. Wir kommunizierten gedanklich!

Er fragte mich, wovor ich mich denn fürchte? Was für eine Frage? Wenn das nicht zum Fürchten war, was dann? Aber auf einmal lichteten sich die Wolken, und der blaue Himmel trat hervor.

Nicht nur das. Das Flugzeug schien sich aufzulösen, ich selber löste mich auf. Mein Körper löste sich wie in Luft auf, so wie das Flugzeug. Ich hatte plötzlich das Gefühl, nur noch geistig zu existieren. Alle Materie war nur noch geistig. Als könnte ich den Moment greifen. Ich, nein, mein Geist flog wie ein Vogel. Sagte ich mein Geist? Nun, wie sollte man es sonst nennen, wenn man mit einem Mal nicht mehr im Korsett eines Körpers steckt?

Ich war entsetzt und überwältigt. Alle Sinne in mir waren so gegenwärtig und hundertprozentig, wie ich es noch nie erlebte. Ich hörte Musik, so wie ich diesen Film untermalen würde. Aber es war kein Film. Ich roch die Düfte der Blumen auf den grünen Wiesen und Wäldern weit unter mir. Wälder und Wiesen? Wir starteten doch gerade in der Wüste? Egal, meine Augen konnten sogar das Entfernteste am Horizont noch glasklar ausmachen, und ich konnte alles hören, worauf ich mich gerade konzentrierte. Das muss das Leben in Fülle sein, dachte ich bei mir, so, wie es Jesus versprochen hatte; aber Egon meint, dass ich davon noch weit entfernt wäre.

Egon? Ich hatte ihn inzwischen ganz vergessen, aber er kommunizierte noch mit mir, gedanklich – oder sollte ich auch hier sagen – geistig? Unter mir sehe ich die herrliche Landschaft von Feldern, Flüssen, Seen und Bergen, sogar Autostraßen und Züge, die sich wie bei Modelleisenbahnen in die Landschaft einbetten. Wenn ich mich auf die Eisenbahn unter mir konzentriere, kann ich sogar die Menschen in den Waggons sehen, sie hören. Alle meine Sinne sind so wach, dass ich sogar ihre Gedanken lesen kann. Ich möchte mit ihnen reden, aber sie hören mich nicht.

„Erkläre mir bitte“, wandte ich mich an Egon.

Aber er unterbrach mich: „Liebe Bekannte aus deinem Leben werden dir das Notwendige erklären“.

„Liebe Bekannte aus meinem Leben?“

„Ja, sagen wir so: Menschen, die dir hierher vorausgegangen sind. Du wirst ihnen bald begegnen. Lass einfach das Privileg, hier zu sein, auf dich wirken.“

„Wir sind angekommen“, riss mich der Gedanke Egons aus meinem tranceähnlichen Zustand. Keine Landepiste, keine Flugzeuge, aber es musste wohl ein Flugplatz sein, sonst hätten wir ja nicht landen können. Das ist allerdings die kleinste der Fragen, die mich jetzt beschäftigte.

„Wo sind wir?“, fragte ich wissbegierig.

„Das wirst du später einmal genau beantwortet bekommen. Nenne es einfach eine Art Vorstufe“, ließ mich Egon wissen.

„Vorstufe zu was?“, fragte ich zurück.

„Vorstufe zum vollendeten Leben, immerwährender Suche oder ewiger Verdammnis. Wofür immer du dich entscheidest. Dein Leben hat dich vorgeprägt. Alles, was du getan oder nicht getan hast, war wichtig. Mitbestimmend, für welche Richtung deiner Wege du dich jetzt entscheidest. Was immer du im Leben versäumt hast, kannst du hier nachholen, korrigieren oder vollenden. Du bist aber nur Gast, Dein Leben ist noch nicht zu Ende gelebt. Ich weiß, du möchtest hierbleiben, aber ich muss dich wieder zurückbringen“.

„Wann soll das sein?“, wundere ich mich.

„Wenn du so weit bist. Vergiss die Zeit, Zeit ist Beschränkung. Und so etwas wie Schranken gibt es hier nicht, außer die, die du selbst setzt.

„Dann haben also all jene Recht, die sagen, dass Himmel und Hölle nur ein geistiger Zustand ist?“, frage ich.

„Um Himmels Willen, nein, das wäre ein häretischer Gedanke. Mit der Hölle magst du in diesem Fall Recht haben, sehr Recht sogar. Aber es gibt nichts Reelleres, nichts Wirklicheres, nichts Wahrhaftigeres als den Himmel. Jeder Gedanke, jede Tat, jede Entscheidung, die du triffst – und derer gibt es viele täglich – ruft eine Veränderung in dir hervor. Und diese Veränderungen harmonieren mit deinem Inneren, deiner Umgebung, mit Gott. Oder aber sie verursachen Unruhe, Streitigkeit, stören den Frieden mit dir selbst, deinen Mitmenschen und helfen so der gegenteiligen Sache. So kannst du dich für die Wahrheit oder für den Trug entscheiden. Viele religiöse Lehrer wollen dir weismachen, dass, je mehr Gebote du hältst und je weniger Verfehlungen du dir aufladest, desto näher du dem Himmel bist. Das stimmt so nicht ganz. Auch Petrus, Paulus und alle Heiligen standen schon immer im Konflikt mit Gesetzen. Gesetze, Regeln, Gebote sind zwar notwendige Richtlinien, entscheiden musst du aber in jeder Situation selbst, der Sache und der Situation entsprechend. Und das kann manchmal auch gegen das Gesetz oder gegen die Tradition sein. Und man darf sich jederzeit ändern, jeden Tag neu beginnen. Jeder Heilige hat eine Vergangenheit und jeder Sünder eine Zukunft. Hier oben aber fällt jede Korrektur wesentlich schwerer und ist mit großen Mühen verbunden, weil man immer über seinen eigenen Schatten springen muss. Das ist es, was ihr „Hölle“ nennt“.

„Was muss ich machen, wonach kann ich mich richten, um den richtigen Weg zu gehen?“

„Der heilige Augustinus wurde von seinen Freunden gefragt, als er sie verließ: Was sollen wir jetzt machen?

Er gab ihnen zur Antwort: Liebet einander und macht was ihr wollt.“

„Aber wie weiß ich, was die Liebe will?“

„Jesus ist Liebe. Erinnere dich an die vielen Situationen Jesu im Neuen Testament. Er verstößt gegen viele jüdische Gesetze, vor allem gegen den Sabbat. Nicht aus Protest oder Trotz, sondern weil die Situation es erfordert. Er war nie darauf aus, Gesetze zu brechen.“

„Dann wäre es ja am einfachsten, sein eigenes Tun und Denken dem anzupassen. In fast jeder Situation könnte man sich die Frage stellen: Was würde Jesus jetzt machen?“

„Genau. Nichts anderes will uns die Bibel sagen, aber darüber später mehr.“

„Was ist mit den Juden, den Hindus, den Moslems, all den Andersgläubigen oder sogar den Atheisten? Ist diese Welt für sie verschlossen?“

„Nein, ganz und gar nicht, ihnen gebührt sogar großer Respekt. Du bist als Christ erzogen und vom Glauben geprägt. Aber stell dir vor, du hättest keinen Jesus als Vorbild. Wo wäre dann dein Glaube? Andere Religionen haben andere Vorbilder und andere Leitgedanken. Keiner der Religionsführer anderer Religionen aber wird Böses wollen. Man kann den Weg Jesu auch gehen, ohne ihn zu kennen. So wie du einen Weg gehen kannst, den vor dir schon ein Unbekannter gegangen ist. Es ist aber sehr viel schwieriger, bei Abzweigungen den richtigen Weg zu finden – im Nebel, in der Dunkelheit, in den Herausforderungen des Lebens – wenn Du nicht jemanden hast, der dich führt. Da ist es schon sehr viel einfacher, einem Plan zu folgen und dieser Plan heißt – im Falle der Christen – Jesus. Nicht umsonst sagt Er von Sich: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“

„Kann man sich denn dann nicht auch dafür entscheiden, keinen Weg zu gehen, um nicht den falschen zu wählen?“, frage ich.

„Das käme dem Gleichnis vom anvertrauten Geld nahe und ist nicht im Sinne Gottes (Matthäus 25). Du erinnerst dich: der dritte der Auserwählten des Reichen vergrub seinen Anteil, um ja keinen Fehler zu machen. Wer keine Sache wagt, kann auch kaum Verfehlungen begehen. Fehler zu machen, ist nicht das Problem. Ich sagte bereits, man kann jederzeit umkehren. Es kommt vielmehr darauf an, wie du mit diesen Verfehlungen umgehst, sobald du sie als Verfehlung erkennst. Diese Entscheidung prägt viel mehr als die Verfehlung selbst. So kehrst du dich innerlich immer mehr der Wahrhaftigkeit, dem Himmel zu; oder aber du gleitest ab in die Unwirklichkeit, bis nichts mehr so ist, wie du es haben möchtest, weil die Grenzen, die du setzt, dich einengen.

Freude ist des Himmels wichtigstes Anliegen, während das, was ihr Hölle nennt, nur noch ewige Einsamkeit bietet, weil du keine Freunde mehr hast, denn selbst die letzten Freunde, die dir geblieben sind, verurteilst du. Himmel und Hölle sind derselbe Platz. Es mag dir paradox erscheinen. Bist du in dem, was Himmel ist, dann bist du unangreifbar, unverletzbar, frei. Bist du in dem, was Hölle ist, dann bist du Gefangener deiner selbst, deiner von dir gestalteten Umwelt, kannst jedoch hier – abgeschieden von deiner früheren Welt – niemandem mehr Schaden zufügen. Das ist umso bedauerlicher, weil für diese Machtmenschen gerade die Unterdrückung des Anderen, die Besserwisserei, das ,über allen Anderen stehen‘, die Triebfeder ihres Tuns und Denkens auf Erden war.

Ich muss aber jetzt weiter, und lasse dich für eine Weile hier. Bald wirst du jemanden treffen, der dich sehr gerne mag. Er wird dir weiterhelfen. Er weiß schon, wo du in deiner Entwicklung stehst und welche Informationen er dir zumuten kann.

Eines muss ich dir noch sagen: diese Vorstufe – wenn wir es so nennen wollen – erlaubt dir, dich auf der Erde zu bewegen, so, wie du sie kennst. Es sind dir aber auch Seitenblicke erlaubt, in zeitlicher und geographischer Hinsicht. Die Menschen, die du kennst, werden dir so begegnen, wie du sie in Erinnerung hast. Es können dir aber auch Menschen begegnen, die du nicht kanntest und du wirst dich manchmal fragen, ob diese Person nun im Zustand vor dessen Tod oder sich wie du bereits in dieser “Vorstufe“ befindet. Diese “Vorstufe“ ist demnach immer noch voller Beschränkungen – zumindest für dich als Besucher.

Wir sehen uns wieder, wenn ich dich zurückbringe. Bis dann.“

Fort war er. Einfach weg. Dabei hätte ich noch so viele Fragen. Ich spürte, dass Egon noch immer da war, aber der Kontakt war weg. Das funktioniert wohl nur, wenn beide Teile wollen. So machte ich mich auf den Weg. Ich genoss. Alles. Es ist unbeschreiblich, fast hätte ich gesagt, zu Lebzeiten hatte ich keine so schöne Minute. Aber was heißt zu Lebzeiten? Das hier ist das Leben. Zumindest war alles, was ich bisher als Leben bezeichnet hatte, ein schwacher Abglanz dessen, was mir hier gegönnt ist. Wenn das noch nicht das vollendete Leben ist, was mehr kann es noch geben?

Manchmal auf der Erde hatte ich den Wunsch, die Zeit anzuhalten. Wenn ich auf einem hohen Berg stand, nach all der Mühe des Aufstiegs, zufrieden mit mir selbst, und in die weite Landschaft blickte, die frische Luft atmete, mich der Stille der Natur erfreute, wenn das Glücksgefühl mich überwältigte, dann dachte ich oft bei mir „Heute abends wirst du wieder im Tal sein, mit all den Sorgen des Alltags. Man sollte diesen Moment archivieren und bei Bedarf abrufen können“. Leider konnte man das nicht. Hier scheint es problemlos zu funktionieren. Nicht nur das, die Eindrücke sind noch viel intensiver, viel tiefer, viel echter.

Das erinnert mich an die Geschichte von Henoch aus der Bibel. Henoch war ein direkter Nachfahre von Seth, Abel, Adam. Aber von Letzterem stammen wir ja alle ab, und etwas von Kain und Abel schlummert in jedem von uns.

Henoch war kein Gottesfanatiker. Henoch war ein Pragmatiker. Seine oberste Devise war: „Wenn sich nach meinem Tod herausstellt, dass es keinen Gott gibt, hat es mir nicht geschadet, trotzdem daran geglaubt zu haben. Wenn es aber einen Gott gibt, dann habe ich den richtigen Weg gewählt, wenn ich an ihn glaube. Also ist es besser, an Gott zu glauben als nicht an ihn zu glauben.“

Henoch war ein friedfertiger Mann, er konnte mit Jedem und Jeder konnte mit ihm. Eines Tages entschloss sich Gott, Henoch die Schöpfung zu erklären, damit er den Menschen, die sich mehr und mehr von Gott abwandten, davon erzähle. Und Henoch reiste hin und her in der Schöpfungsgeschichte, von Anbeginn der Welt bis in die Gegenwart, und er war davon fasziniert.

Vor genau dieser Offenbarung stehe ich jetzt und komme mir vor wie Henoch. So etwas wie Zeit scheint es hier nicht zu geben. Ich kann nicht nur den Moment einfrieren und die Zeit anhalten, ja ich kann sie auch beschleunigen, im Zeitraffer vor- oder zurücklaufen lassen oder mich gänzlich in eine andere Epoche hineinversetzen. Ich reite auf einem Pferd neben Alexander dem Großen; lebe in den Steinhäusern der Inkas auf Machu Picchu; schaue zurück in die Welt der Dinosaurier; lausche den Beatles im Plattenstudio, gerade als sie den Erfolgssong ´Yesterday´ aufnehmen oder finde mich auf der Aussichtsterrasse des World Trade Centers, gerade als sich das Flugzeug der Terroristen im Anflug befindet. Ich stehe auf dem Appellplatz von Auschwitz; neben Adolf Hitler am Balkon des Heldenplatzes in Wien; ich wohne der Kreuzigung Christi am Golgatha bei oder bin Zeuge bei der Planung der Pyramiden des Pharaos. Ich kann mich auf der Zeitachse hinauf und hinunter bewegen. Ein Traum für jeden Historiker. Mit einem Mal sind alle Rätsel der Geschichte gelöst. Dabei aber beschleicht mich kein Gefühl der Trauer, auch keine Spur von Furcht, denn keiner der Umstehenden kann mich sehen, wenn mir nicht danach ist, und ich kann mich jederzeit wieder ausblenden.

Noch etwas fällt mir auf. Es gibt keinen Wettbewerb. Was uns auf Erden antreibt, ist der Wettbewerb. Sei es im Sport, in der Politik, in der Wirtschaft. Überall ist Wettbewerb. Jeder gegen Jeden. Wettbewerb ist der Antrieb, etwas Neues zu schaffen. Das ist an sich nichts Schlechtes, aber hier oben scheint es nichts Neues mehr zu benötigen, alle Entdeckungen und Erfindungen der Gegenwart und der Zukunft sind bereits da. Jeder scheint mit denselben Kenntnissen und Möglichkeiten ausgestattet zu sein. Ich werfe keinen Ball von A nach B, sondern ich „denke“ den Ball nach B. Stellen Sie sich vor, ein Stürmer steht mit dem Ball vor dem Tormann: Der Stürmer „denkt“ sich den Ball ins Tor, der Tormann „denkt“ sich den Ball in seine Hand. Das funktioniert nicht.

Du errätst jeden Schachzug des Gegners, weil Du selbst diesen Zug wählen würdest. Der Slalomfahrer ist gleichzeitig mit seinem Konkurrenten im Ziel und im Kegeln fallen jedes Mal alle Neune, bei allen Mitspielern.

Ich bin überfordert. Andererseits, es gibt so viel zu erkunden, dass mir die Sache mit dem Wettbewerb im Augenblick ziemlich egal ist. Darüber aber später mehr.

Einmal Himmel und zurück

Подняться наверх