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wie entstand kultur?

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Wir, die wir uns weise Menschen nennen, entwickelten parallel zum zufällig angeregten Naturwachstum ein weiteres, ein systematisches Wachsen: Den Kosmos der Gedanken und Ideen. Er ist Produkt unseres Verstands, der seinerseits Produkt des Naturprozesses ist. Einmal angeregt, entwickelte er sich ebenfalls systematisch. Doch auch Tiere haben Verstand, je Entwicklungsstand unterschiedlich. Auch sie sammeln Erfahrung. Auch sie speichern beispielsweise Hörmuster, Geruchsmuster oder Flugbilder ihrer Beute und Feinde. Auch sie entwickeln Fluchtstrategien. Auch sie wissen um ihre Ernährungsquellen, geben dies an Nachkommen weiter. Auch sie nutzen sogar Werkzeuge. Menschen sind da nicht einzigartig. Auch ihr Verstand ist quasi Teil der natürlichen Evolution. Zuerst war wenig. Irgendwann war die Zeit reif und Natur begann. Möglicherweise mit dem ersten Aufrichten der Affenartigen, aber sicher mit dem Benutzen des ersten Steins vor nur etwa 2,5 Millionen Jahren begann unsere Entwicklungshilfe Verstand. Wir begannen jetzt, anders als alle anderen Wesen, über die Natur hinweg zu sehen. Irgendwann hatte unser Verstand zufällig eine Idee, machte den entscheidenden Sprung. Eine Idee gebar die nächste, Zusammenhänge bauten auf Einfachem auf. Denkstrukturen entstanden, immer wieder, zufällig und oft sprunghaft. Einmal gedacht, ermöglichten sie gezieltes Handeln. Kommunizierende Menschengruppen trugen die Gedankenwelt weiter. Und mit weiterentwickelten, ausgereifter werdenden Ideen wuchs und wächst auch heute unser Potential, die Qualität unseres Verstands. Die Änderungsgeschwindigkeit geistiger Kraft wächst exponentiell, ist längst größer als der Reproduktionszyklus des Menschen. Das wären heute etwa 30 Jahre. Ideenzyklen messen wir jetzt nur noch in Jahren. Doch längst haben wir unsere bleibende Gebundenheit im Naturprozess längst aus den Augen verloren.

Mit der Idee des geschnitzten Löwenmanns begann der lange Weg unserer emotionalisierenden, aufbauenden, aber auch lenkenden Erzählungen. Diese, dem Kulturfortschritt jeweils angepassten Lenkmärchen, bestimmen Einige heute immer noch. Dieser dominierende Kulturstrang wurde als erster von dreien zur Machtkultur und zum Gewinnstreben weiterentwickelt. Wir steuern unser Handeln mit den so gewachsenen Mechanismen. Und in seiner Besitzorientierung entscheidet er auch heute über unser weiteres Schicksal mit Klima und Natur. Mit dem Schnitzen begannen wir gleichzeitig einen zweiten, einen uns ebenfalls emotional motivierenden Kulturstrang. Flötentöne drückten schon früh Gefühle aus. Ton, Bild, Form und Körper als Ausdrucksmittel wurden kreativ. Fantasie suchte sich dafür immer mehr Formen, immer neu, wurde immer virtuoser. Diese Kreativen wollten anregen, begeistern, aber auch beeinflussen. Und wir beobachteten uns und unseren Entwicklungsgang rational und auf vielfältige Weise. Dieses Wissen half, uns selbst ein wenig zu verstehen. Der dritte Kulturstrang begann, als wir das Feuer nutzten. Er verstärkte unser materielles Handeln, unser Erkennen der Wirklichkeit. Als wir die Kraftmaschine erfanden, verstärkte sich unser Handlungspotential erheblich. Zuerst trieben Muskeln an, dann Wasser und Wind. Feuerkraft machte Maschinen dann zum Motor der Wirtschaft. Wir lernten auch, mit Drehen elektrische Spannung aufzubauen. Mit diesem elektrischen Strom konnten wir Kraft durch Metalldrähte an jeden Ort leiten. Kraft war jetzt überall. Und als wir dann elektrische Minischalter miteinander kombinierten, entstand ein völlig neues Universum, das des Digitalen. Dies verändert unseren Umgang, erleichtert unser Leben, ermöglichte Besitz. Wird dieser gefeierte Siegeszug über die Naturbegrenzungen zum vermeintlichen Sieg, zu unserer Zukunftshypothek?

Mit der Kultur insgesamt kam etwas in Gang, das unsere Evolution beschleunigte und uns weitertrieb. Wir sollten diesen Treibsatz verstehen, insbesondere die Kultur der Anleitung, die Kultur der Macht und die Kultur des Besitzes. Wir tun gut daran dies zu bedenken, wenn wir unsere Schädigungen an Klima und Natur korrigieren wollen. Wohl wurden sich die Einen immer mehr bewusst, beobachteten, erkannten und wiesen nach. Dies entwickelte uns rational. Doch von Anfang an nutzten Andere selektiv Wahrgenommenes für ihre Ziele. Es waren fantastische, träumend verwobene oder bewusst verbogene Erzählungen, die auf unser Gefühl zielten. Schon der Löwenmann zeigt, nicht nur Fantasieren und Schnitzen wollte gelernt sein. Genauso wichtig war es zu erkennen, dass wir einerseits tatsächlich Ordnung brauchen und andererseits lenkbar sind. Ordnung kann idealerweise rational, übereinstimmend und gleichberechtigt entwickelt werden. Ordnung kann aber auch, wie der Löwenmann zeigt, durch emotionale Verstärker, durch Angstmacher erzwungen werden. Denn gezielt ausgeformte Fantasie kann unseren Gefühlen als neue Wahrheit aufgedrängt werden, sie kann lenken, uns aber auch zur gefügigen Masse machen. Einfach etwas zu behaupten, für Ziele zu lügen und zu betrügen, wirkt. Ein Fantasieraum als freie Spielwiese für Verführer, als unser großer Antreiber! Die Geschichten erzählenden Lenker aber, ganz nebenbei bemerkt, definierten für sich Sonderregeln. Sie folgten eigenem Machtinteresse. Mit diesem Vorteil gewann auch das Männliche, das Starke, das Aggressive, die Gewalt. Ein Prozess kam in Gang, machte uns erfolgreich: Wir vermehrten uns. Hören wir ähnliche fakes nicht noch heute, nennen sie jetzt alternative Fakten? Steht also über allem die Frage: Heiligt der Zweck die Mittel?

Die Abhängigkeit vom Gefühl war sicher auch schon in unserer Natur angelegt. Menschen mussten, um zu überleben, ihre Gruppe voranbringen, sie zusammenführen. Dieses Warum und das Woher unserer Existenz, das später beispielsweise zur Gott-Idee führte, beschäftigte viele. Zuerst waren es Landschaften in denen man sich zurechtfinden musste. Überhöhende, die Gefühle aktivierende Geschichten rankten sich also um Landmarken. Dann wurden Sonne, Mond und Sterne zu den großen Machern des Jahreszyklus. Wobei Sonne und Mond ja tatsächlich als bewegte Massen unseren Jahresrhythmus prägen. Später, als Menschen pflanzten und seßhaft wurden, wohnte der Anführer, der Priesterfürst und später der Stadtkönig nahe bei den alles bestimmenden Göttern. Es waren die frühen Stadtvölker von Sumer bis zu den Hethitern. Im Zikkurat, dem Himmelshügel, wusste sich die Stadt in göttlichem Schutz. Wurde der aber entehrt oder zerstört, war die Stadt von allen Göttern verlassen. Die Ordnung war nachhaltig gestört. Genauer: die privilegierte Führung war gefährdet. Spätere machtsichernde Ordnungen sind auf den frühen Tontafeln des Codex Ur-Nammu und der Gesetzstele eines Königs Hammurapi überliefert. Der Götterberg der Ägypter dagegen, die Pyramiden der Pharaos, waren Demonstrationen von ewiger Macht, Egoismus über den Tod hinaus. Später wollte ein Pharao Echnaton nicht nur Anführer, er wollte Gott sein. Die Macht selbst nannte sich Gott, beanspruchte Wahrheit und Besitz gleichzeitig. Sie nutzte die bange Frage nach unserem Existenzgrund aus. | 11 12

Wir verfolgen diesen vorderasiatischen Kulturstrang exemplarisch, da er zum Exportschlager für die halbe Welt wurde. Wohl wissend, dass dabei auch viel Blut floss. Wir wissen aber auch, dass Menschen in allen Erdteilen ganz unabhängig voneinander für die Fragen, die der Evolutionszufall aufwarf, naturgemäß ganz unterschiedliche Antworten, ganz unterschiedliche Geschichten fanden. Der wesentliche Grund für unsere Welt der Gegensätze.

Überliefert ist da die Geschichte vom Gilgamesch. Zugleich verführender Held und halbgöttlicher Stadtkönig, ein Sinnbild der Macht. Die Erzählung ist didaktisch, also belehrend, spannend, dramaturgisch wie ein Bühnenstück. Sie ist aber auch lenkend: so etwa mit der Idee von der großen Flut oder dem Arche-Noah-Prinzip. Diese Idee, wahrscheinlich aus gemachten Erfahrungen überhöht, wird als Zuckerbrot und Peitsche zum Prototyp oder Vorbild überweltlicher (Ver)führung. Denn Regelbrecher werden von einer Flut weggespült und Regelbefolger in einer Arche gerettet. Ein Engel nämlich flüstert den Guten den Rettungsweg zu. Engel als dramaturgische Regieassistenten, mal Boten, mal Handlanger einer Allmacht. Fantasie, je nach Bedarf mit männlicher oder weiblicher Anmutung, mit oder ohne Flügel. Später werden sie zu volksnahen, barocken, nackten Knäblein für gewisse Neigungen.

Semitische Stämme mäanderten schon seit 7.000 Jahren lange durch Mesopotamien, damals ein fruchtbares und attraktives Entwicklungsumfeld. Sie sogen dortige Kultur auf, transformierten sie, brachten sie auf den neuesten Stand, perfektionierten die lenkenden Erzählungen. Ihr schon viel raffinierteres Lenkmodell Gott schuf in 6 Tagen Himmel, Erde, Flora, Fauna und die Menschen. Am Tag 7 schlief er sich aus (1 Mose 1). Das sah Charles Darwin dann später ganz anders. Jüdische Fantasie nutzte auch die große Flut des Gilgamesch und baute sie zur Sündenflut aus, mitsamt der rettenden Arche. Fast sprichwörtlich wurden gar die von besagtem Gott in Stein gemeißelten 10 Gebote: Hammurapis nachempfundene Gesetzstele. Eine erfundene, veritable Ordnung, als göttliche Wahrheit verpackt. Die Juden erfanden auch das Gottesvolk, kultisch begründete Herrschaft. Hinzu kam die Idee vom gelobten Land. Grundbesitz fürs Volk Israel, göttlich absolut versprochen. Mit dem Recht, anderen Land wegzunehmen. All das machte sie zu entscheidenden Stichwortgebern, ihre Lenkgeschichten bekamen zentrale kulturelle Bedeutung bis ins Heute. Doch ihr elitäres Gottesvolk wurde zur ethniebegrenzenden Metapher, zu ihrem Verfallsdatum. Als dann ihr Königtum verfiel, ersehnten sie sich einen kommenden Messias, einen Gesalbten, einen ewigen jüdischen König. Aber diese Hoffnung zerstob. Eine kleine Gruppe, durch ihre Ordnungsidee gewachsen und zusammengehalten, zerstreute sich in die Welt.

Schon vor 2.500 Jahren aber dachten erste Philosophen konsequent und rational. Diese Griechen entzauberten erstmals die Mythen, Kulte und Religionen als fake. Sie stellten klar, dass die Idee Gott nur einer Erzählung diente, die unsere Fragen nach der Ursache, nach dem Ursprung personifizierte, zu etwas Menschlichem, zu etwas Vorstellbarem machte. Parallel zur Verführung durch solche Glaubensfantasien versuchten sich immer wieder philosophische Denkschulen. Sie regen zur rationalen Sinnsuche und Ordnungsfindung an. Sie erkannten, dass demokratia, also die sich selbst bestimmenden Menschen, von erfundenen Götterordnungen befreien müssen. Selbstbewusst leben heißt, für sich zu entscheiden. Noch aber war unser Wissen lückenhaft.

Vor 2.000 Jahren wurde Jerusalem zerstört, die dortige Theokratie oder Priesterherrschaft beendet und die Juden zerstreut. In diesen Wirren klammerten sich einige an ihre alte Messiasidee, an die Hoffnung auf einen neuen König. Und sie wollten eine neue Ordnung. Dies provozierte. Ein Sektenanführer wurde hingerichtet. Die Sekte floh daraufhin in eine Phantasiewelt. Zu ihrem genialen Vordenker, machte sich der griechische Intellektuelle Paulus. Er erweiterte die jüdische Gottidee, also den bereits erfundenen Schöpfergott um einen neuen, einen menschlichen: Er mischte den alten Gott mit einem Menschen. Er inspirierte Autoren, aus dem Schicksal des getöteten Sektenführers Jesus eine neue Heilsgeschichte zu entwickeln. Der plot begann so: Einer der gern genutzten Engel verkündet einer Maria, dass sie Gnade bei Gott gefunden habe. Diese hätt’ sich dreingeschickt (welch eine Männerfantasie). Die Geburt wurde zum gefühlvollen opening! Dann ein kurzes Wanderpredigerleben und einen Gewalttod als Start für eine neue Gottheit. Diesen musste ein weiterer Engel verkünden: der Sektenführer wäre von den Toten auferstanden. Drei von Paulus Ideen waren für den Religionserfolg entscheidend. Das friedfertige wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar. Der emotionalisierende Gewalttod, archaischen Blutopfern nachempfunden. Und die Pfingstaufforderung an jeden, die Welt zu missionieren. Ein neues, auf Expansion ausgelegtes Führungsmodell, ethniefrei, weltoffen, emphatisch. | 23 29

Auch hier wird klar, was Entwicklung ausmacht: Klug die Strömungen und Notwendigkeiten fortgeschrittenen Bedarfs aufnehmen, zusammenführen, selbst wenn die Mittel zweifelhaft sind, und nicht im Überholten stecken bleiben. Damit gewannen die Jesusanhänger den Kulturwettstreit. Die Judenlehre dagegen, spiritus rector oder geistige Anstifterin unserer heute noch anführenden Kultur, hatte dauerhaft verloren. Als kleine Religionsethnie verstand sie es dennoch dauerhaft, mit den jeweiligen Entwicklungsführern mitzuwachsen. Dabei zu sein, aber in anderem Glauben zusammenzuhalten, wurde zur bleibenden Bürde. Es bedeutete, immer wieder dumpfem Abwehrwahn durch Andersgläubige ausgesetzt zu sein.

Mit seinem modernen Ansatz zielte Paulus auf die angesagte römische Weltmacht. Nach aufopfernd durchlittenen 300 Jahren wurde die zwar leidvolle, aber eigentlich friedfertig motivierende Idee zur verpflichtenden Staatsreligion im römisch-kaiserlichen Konstantinopel. Religion und Überwelt wurden wieder Machtbegründung. Die römische Macht eroberte Germanien, Missionare bekehrten Irland und Spanien, auch den Osten bis Afghanistan, ja sogar bis Indien. Nachdem ganz Europa glaubte, aber auch unter christlichen Herrschern ächzte, lockte Übersee. Es war ein unerbittlicher Religionskampf, emotionalisiert mit dem Tod ihrer Menschengott-Idee. Man glaubte durch das Schwert. Durch ein Schwert, das mit glaubender Kraft verblendet zuschlug. Andererseits war die Jesusgeschichte stark genug, bei den Zwangsbekehrten dennoch Hoffnung zu stiften. Europas Führer von Gottes Gnaden beherrschten bald die halbe Welt, nahmen deren Ressourcen. Sind das sich erwärmende Klima und die verkümmernde Natur etwa religionskulturelle Spätfolgen?

Letzter Religionsdesigner dieser Götterfamilie mit Einfluss war der Karawanenhändler Mohammed vor rund 1.400 Jahren. Ein Egomane, ein streng ordnender Dominanter. Wieder musste ein Märchenengel ran, ihm Gottes Willen einzuflüstern. Damit verkaufte er seinen Ordnungswillen, sein Ordnungsgedicht Koran. Tatsächlich stammten Teile seines Engelsgeflüsters aus einem qeryān, einer liturgischen Anleitung der paulinischen Lehre. Er taufte klugerweise den Judengott JHWH in Allah um. Mohammed wollte restriktiv ordnen, wollte Anführer sein. Er regelte streng, detailliert, männerdominant, frauenfeindlich, führungsfixiert, abgrenzend: und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt. Aber auch: ein Knabe hat soviel Anteil wie zwei Mädchen. Seine negativ zwängende Kampflehre, sein Ordnungsdiktat, verlor im geschichtlichen Führungskampf. Die paulinische Hoffnungsidee dagegen entwickelte sich in letzter Konsequenz zum heutigen Weltstandard. | 24 25 28

Unter anderen steuerte auch Asien Übermänner bei, etwa einen Schöpfer Brahma oder einen begierdelosen Prinzen Gautama. Letzterer wurde ähnlich dem paulinischen Jesus in eine Überwelt transferiert. In eine ideelle Männerüberwelt, die im auseinander triftenden Energie-Masse-Geschehen des Alls nicht existiert. Oder wäre eine Naturmutter Demeter als zeitgemäßer Sarkasmus besser?

und getrennt voneinander lebend. Hoffnungserzählungen hat daher jede Ethnie eigenständig entwickelt, jede naturgemäß andere. Eine Erzählung folgte der anderen, eine Religionssekte folgte der anderen, auch das ein Entwicklungsprozess. Mit wachsender Bevölkerung, vermehrten Kontakten und neuen Bedürfnissen entstanden daraus verschiedene Leitordnungen, die sich bereichsweise zu Kulturen konzentrierten. Unser ganzer Kulturreigen basiert auf Ordnungen von Erzählern. Immer noch prallen diese Kulturen in unserer global gewordenen Welt unversöhnlich aufeinander, denn sie basieren auf konträren Ideen, auf unverhandelbarer Fiktion, nicht auf Wirklichkeitswissen. Selbst heutige Religionslehrer verweigern sich Wirklichkeitswissen. Oder tun sie das nur um das unbestreitbar Soziale dieser Überweltordnungen zu erhalten? Noch haben wir nicht begriffen, dass unsere vielen unterschiedlichen Ordnungen und ethischen Grundsätze nur genau einer Naturwirklichkeit gegenüber stehen. Kann das eine globale, jetzt aber nur noch auf nachprüfbarem Wissen aufbauende Gesamtordnung der Milliarden leisten?

Angst vor der fatal unabänderlichen Wirklichkeit ist der Preis dafür, dass wir denken lernten. Lange galt die Angst unserer Lebenswirklichkeit, dann der Wirklichkeit der Welt und heute der Wirklichkeit eines nie erfassbaren Universums. Clevere nutzten diese Angst aus, erfanden Dämone, Götter, Gott, Allah, das Nirvana, mäanderten weiter und formulieren heute noch Mythen, von der Nation oder von dunklen Verschwörungen. Überaus erfolgreich entwickelten sie das Fantasma menschlicher Einzigartigkeit. Ein schützender Fantasieraum, bevölkert mit uns nachempfundenen Handlungsfiguren. Beinahe anfassbar, reduziert aufs menschlich Eingeübte, ließen diese uns hoffen, aber auch fürchten. Also glaubten wir. Alles Glauben spielt sich nur in Kopf und Gefühl ab, hat keine Realität, überdeckt die fatale Wirklichkeit. Es ist Selbstspiegelung, individuelle Pseudosinngebung, Selbstkonditionierung. Klug gelenkt kann es aber auch den Gemeinsinn stärken, kann sozial zusammenführen. Er gibt gerade dadurch Überlebenskraft. Die erfundenen Figuren, viele maßgebende waren männlich, und ihre mitwachsenden Geschichten wirkten, garantierten Einfluss über andere. Die oft poetischen Werke, gesammelte Lebensweisheit, stärkten uns, ließen uns wachsen und immer folgenschwerer handeln. Mit deren erfundenen Protagonisten wurde gehofft, ihnen gerne auch eigene Handlungsfehler zugeschoben. Es ist fast wie kassenfüllendes Kinomärchen oder streaming. Wir wissen, dass es einem raffinierten plot folgt. Als gut Erzähltes scheint uns trotzdem real. Genau genommen waren es Lügen die straften und töteten aber genauso Empathie förderten, sozial zusammenführten. Und frühere Menschen glaubten einer show wohl mehr als wir Aufgeklärten. Noch immer stellen Gaubensfixierte falsch adressierende Fragen. Etwa so lächerlich: Warum lässt Allah zu, dass sich Frauen von Mohammeds Schleier befreien? Oder so tragisch: warum ließ Gott die shoah zu, das deutsche Verbrechen?

Alles zielte auf die Königsidee. Solitär wie der Löwenmann, stark wie Gilgamesch, herrlich wie der semitische Gott, aufopfernd wie der paulinische Menschensohn Jesus oder unerbittlich wie Mohammeds Allah. Die jüdische Idee vom Gottkönig und seinem Gottesvolk gipfelte in kultisch begründeter Herrschaft. Kombiniert mit dem gelobten Land wurde dies zur Landnahme durch starke Völker. Ordnungsgewalt über Volk und Land. Da lebten gerade mal höchstens 500 Millionen Menschen auf der Erde. Es wurde eine lange Phase der Ordnungsfindung mit einer variantenreichen Vielfalt an Kulterzählungen rund um die Welt. Kulte und ihre Fantasien waren teamwork der Männer. Sie kopierten, was zuvor schon erfolgreich war und dichteten daran weiter. Dies brauchte Zeit. Anfangs waren es Jahrtausende, auch noch bei den Juden. Die Jesusidee entwarf ein Paulus und seine Schreiber innerhalb weniger Jahrzehnte. Der kopierende Machtmensch Mohammed schaffte es im Alleingang. All die vielen Glaubenslehren unserer Welt sind Fantasiekaskaden. Die sumerisch-semitisch-paulinische Geschichtengattung, von weißen Männern erdacht, war die erfolgreichste. Die sich so ordnenden und zusammengehaltenen Völker entwickelten sich vorrangig. Waren deren Götterlehre, ihr Glaubenskampf und Wahrheits-Krieg, unser erfolgreichster Entwicklungsanreiz? Wieviele haben glaubend gehofft, wieviele haben einander glaubend geholfen, wieviele damit elitär gelebt, wieviele verblendet gekämpft, wieviele mussten dafür sterben? Warum folgten wir diesen nur zwischen zwei Buchdeckeln existierenden Überwelten, folgten den damit begründeten Ordnungen? | 48

Wir begannen als homo fabula, als immer auf Fabeln und Erzählungen Angewiesene, und konnten so unser Heute gewinnen. Wir fabulieren heute immer noch: Vom Anführer, vom Nationalen, vom erstrebenswerten Besitz, vom sich erfolgreich durchsetzenden Wirtschaften und seinem Antrieb zu Innovationen, von der alles könnenden Technik und deren vielfältigen Überwachungs- und Steuerungsmöglichkeiten. Nur wenige widersprechen den neuen Erzählungen von einer grenzenlosen technologischen Zukunft. Der Teil der Wissenschaft, der allein die Technik als Allheilmittel favorisiert, vernachlässigt seinen eigenen Anspruch auf neutrales Infrage stellen, auf Messen und Nachweisen. Er sieht seine eigenen Schädigungen nicht. Zu stark ist unser geldgetriebener Rausch, unsere heute alle und alles beherrschende Geldkultur. Diese Erzählung vom immerwährenden Wohlstand und von dessen Machbarkeit verdeckt die Tatsache, dass unsere exzessive und überbordende Weltnutzung ihr Ende findet. Sicher können uns Gefühle helfen, die Folgen unserer Aufheizung und Naturzerstörung eine zeitlang leichter zu ertragen. Aber die jetzt notwendigen Handlungskorrekturen, nachhaltig und vielleicht auch einschneidend, brauchen unsere ganze rationale Vernunft. Wir müssen endlich zum homo sapiens, zu wirklich denkenden Menschen werden. Nicht mehr die Krönung einer nachweislich erfundenen Schöpfung, sondern ein fehlerbehaftetes Ergebnis des Entwicklungszufalls. Können wir endlich dem double Gefühl und Verstand alles Religiöse nehmen und uns wieder den Naturgesetzen unterordnen? Wieder eine Art unter vielen zu sein? sondern eine sich wieder in den Naturprozess gleichwertig einordnende Art unter vielen. Eine Art, die sich der Wirklichkeit stellt und dieses Wissen qualifiziert nutzt. Wenn, ja wenn wir unsere Lebenswelt erhalten wollen.

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