Читать книгу wie geht's weiter? - Rudi Rembold - Страница 5
was trieb die kultur an?
ОглавлениеMänner sind eher kräftiger, kennen keine monatliche Zäsur. Frauen sind sensibler, aufgrund ihrer Weiblichkeit körperbewusster. Kann man sagen: Männer spielen dauerhaft ihre Kraft aus, Frauen haben wiederkehrend Kinder? Bei der Zeugung jedenfalls hat er immer Spaß, sie je nachdem. Aber dies krempelt nur ihr Leben um. Welch eine Kraftanstrengung ist so eine Schwangerschaft, so eine Geburt! Und jedes neue Menschenkind, das da blutverschmiert das Licht der Welt erblickt, ist nur die Mutter. Alle Aufbaustoffe, alle Nahrung, wirklich alles ist von der Mutter. Sogar ihre Hormone, ihr Östrogen, ihr Testosteron bestimmen über die Neigungen ihres Kinds! Und der mikroskopisch kleine Männerbeitrag? Mütter geben ihren Söhnen größere, wohl weniger effektiv vernetzte, aber mit mehr Aggressionspotential ausgestattete Hirnmasse mit als ihren Töchtern. Dadurch sind Männer statistisch gesehen unvorsichtiger, handgreiflicher, manchmal furchtloser und nehmen ihre Umgebung bewusster wahr. Das aggressiv Männliche will seine Spermien breit ausgießen, ist nach außen gerichtet. Männer führen mit ihren Erzählungen und bestimmen das Wirtschaften. Das Weibliche ist eher ausgleichend, 12 mal im Jahr empfänglich, auf Nachwuchspflege festgelegt, nach innen gerichtet. Auch Kultur beeinflusst Gehirne, verändert evolutionäre Rollen. Ob nun hormonbedingt oder tradiert, also eingeübt, es waren eher Männer, die nach Erklärungen unserer Existenz suchten. Zuerst mussten wir uns in der Umgebung zurechtfinden, das zweckmäßige Handeln lernen. Aber bald forderte die Frage heraus, wodurch wir alle sind. In der Zeit der Sammlerinnen und Jäger waren Frauen und Männer eher aufeinander angewiesen, gleichwertig respektiert. Bei den Australiern beispielsweise waren Frauen und Männer kultisch eigenständig. Es gab durchaus Ausgleich und Respekt zwischen den Geschlechtern. Aber spätestens mit dem besitzergreifenden Ackerbau wurden die Männer dominant, kulturbildend. Überweltliche Verursacher wurden erfunden. Die Blaupause lieferte das erlebbare Vaterideal. Männer erfanden den lenkenden Manngott als Kopie ihrer selbst. Einer, der verantwortlich war, der den Weg weisen konnte. Ideale Grundlage unserer heute noch gültigen Kultur der starken Anführer und ihrer ordnenden Gewalt. Eher kultisch gepuscht, als dass es in unserer Art angelegt war. Männer wollten zusammenführen, die Gruppe ordnen, auch voranbringen. Ordnungsgeber mussten furchteinflößend mächtig sein, um effektiv zu wirken. Denn Vernünftige sahen die auch anarchisch exzessive Männergewalt und wollten ihr etwas entgegensetzen. Und da fängt die Manipulation oder Ausnutzung an: Sie regte Gefühle an, nahm deren Grundstimmung auf und nutzte sie. Es kursierten viele Überwesen, viele Geschichten. Vom drohend Dämonischen über das Samsara bis zum starken Göttlichen: eine lange Zeit der garantiert stabilen Männerordnungen. Eine Kultur durch angeregten Glauben, Placebo fürs Gefühl, vorgegaukelte Medizin mit Nebenwirkungen. Ein sehr effektives, sehr erfolgreiches Werkzeug. Glaubenserzählungen, Religionen wurden von wenigen Männern erfunden. Sie spiegelten Männerbilder, festigten ihre soziale Wertung der Geschlechter. Klug schloß dies ein, unseren naturgegebenen Instinkt zum sozialen Zusammenhalt und zur Caritas mit Überweltanreizen zu koppeln. Einmal erzählt und von Glaubenden angenommen, waren es fest gefügte, unerschütterliche Wahrheiten. Sie emotionalisierten, forderten Nachfolge ein, wurden gegen Zweifler verteidigt. Vom Gottverkünder zur Priesterhierarchie, weiter zum König von Gottes Gnaden und den Ur-Kaisern. In Jahrhunderten perfektionierten Kultvertreter und Mächtige ihre Ordnungsdiktate und sicherten damit auch ihren Besitzanspruch. Sie begründeten alles kultisch, also absolut. | 30 31 39
Männer führten mit der Königsidee, Priestermänner sicherten die Götterwahrheit und rechtfertigten damit ihre Ordnungen. Das gilt quer durch alle fantastischen Überwelten der Menschheit. Eine Männerkultur unzähliger Kriege, unzähliger Toter, aber auch der Genügsamkeit und des analytischen, also nachweisenden Wissens. In dieser Männerwelt galten Frauen wenig. Frauen durften nur führen bei Männermangel, um dynastische Macht zu sichern. Waren die Männer neidisch, da nur Frauen mit ihrer Schwangerschaft Zukunft ermöglichen? Tatsächlich aber benachteiligt Sex nur Frauen. Religionsordnungen gängelten Frauen zusätzlich, sie wurden schärfer bestraft, enger begrenzt. Weibliche Selbstbestimmung etwa, ob in der Gesellschaft, sexuell oder über ihren Fötus, wurde verhindert. Frau wurde oft mit dem Tode bestraft. Man(n) durfte steinigen oder auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Sollte beispielsweise das Zölibat, das Eheverbot für Priestermänner, etwa Sex verhindern oder doch nur Männermacht sichern? Das Starke neigt natürlicherweise dazu, Schwaches zu unterdrücken. Auch weil dies ohne Risiko ist. Religiöses hat diese Asymmetrie eher verstärkt. Warum nur ließen und lassen sich immer noch Frauen auf religiös begründete Männermacht ein?
Es ist mehr als auffällig, dass Macht und dirigierende Ordnungssysteme besonders durch Kulte mit zentralen Göttersystemen begründet wurden. Die Autoren dieser Kulte waren führende Männerköpfe ihrer Gesellschaften. Ihre Fabeln waren sicherer Zugang zu Führung, Einfluss und Vorteil. Ambivalent oder wechselhaft aber war die Aufteilung von geistlicher und weltlicher Macht. Es ging um nicht weniger als um die Monopole über Gewalt, Ordnung, Wissen und Wirtschaft. Zuerst kontrollierten die Priesterfürsten alles. Später kontrollierten und stützten sich Vertreter von Kult und Macht gegenseitig. Die Priester beanspruchten mit ihrer Wahrheit das Wissensmonopol. Das Gewaltmonopol mussten sie an die weltliche Macht und ihre Soldaten weitergeben. Die schlauen Priestereliten aber fingen die machthungrigen Elitefamilien mit dem Göttlichen auch wieder ein. Das Wirtschaftsmonopol aber, den Zugriff auf alle Ressourcen, beanspruchten beide Führungsparteien. Die Priesterschaft nutzte verführenden Glauben weidlich aus und machte das beherrschte Volk zur kultisch homogenen Ethnie, zur Glaubensgemeinde. Sie musste glauben und befolgen, was ihre Führer zu glauben vorgaben. Sie glaubten es ja oft selbst, autosuggestiv. Jesusanhänger, Moslems, Buddhisten und andere, sie alle mussten einem neuen Glauben folgen, wenn ein Stammesfürst, König, Kaiser oder später sogar der Rat einer mittelalterlichen Stadt eine neue Religion annahmen. Und immer gaben Eltern ihren Glauben weiter. Sich religiös nennende Dynastien waren meist lange an der Macht. Ein wichtiger Grund war dabei, dass Machtwissen und Ausbildung dynastisch weitergegeben wurden. Nur den Elitenachwuchs zu fördern, grenzte alle anderen aus. Auch die Partnerauswahl in engen, dem verfügbaren Wissen nahen Sippen ließ die geistigen Möglichkeiten gezielt wachsen. Eine kluge Auswahl der wichtigen Gene. Dies hat sich bis heute kaum geändert. Und Hirnforscher bestätigen dies, wenn sie feststellen, dass Intelligenz auch erblich ist. Könnte hier nicht der Schlüssel liegen zur Nähe von Ethnie und deren Kulturlevel? | 15 36 37 14
Eine weitere Konsequenz der Männermacht war ihr offensiv präsentierter Besitz an allen Ressourcen. Sie nutzten Arbeitskraft und Naturschätze. Mit welcher Pracht glänzten Klerus und Herrscher! Sie lebten im Luxus, nutzten Künstler für Paläste, Kathedralen und Tempel, knechteten die Untertanen für ihren Überfluss. Vorteil und Besitz ersehnten bald alle, kämpften dafür. Diese emotionale Verführung gab den Startschuss für den späteren run ums Geld. Heute gipfelt dies in einer teilweise aggressiven, besitzgesteuerten Wirtschaftsgesellschaft. Besitz ist unser entscheidend Ordnendes. Aber auch unsere immer noch funktionierenden Lenkstrukturen basieren darauf, dirigiert von egoistischen, machtbesessenen Männern. Dies funktioniert allerdings nur mit willfährig nutzbaren. Offensichtlich zu allen Zeiten verfügbare Männer, die Machtwillen umsetzen, sogar brutale Gewalt ausüben. Und weiterhin sind das Schmiermittel, das gefügig macht, Besitzversprechen, große Geldmengen.
Nationalismus, Territorialanspruch und Gehorsam bleiben virulent, treiben um. Spiegelt das unsere Basisgefühle wieder? Schlauerweise haben dies frühe Lenker beantwortet und das Gottesvolk und sein gelobtes Land in ihre Narrative, also lenkenden Erzählungen, aufgenommen. Sie wurden verbreitet, fortgeschrieben und später auch anders erzählt. All das ist zu einem Teil unserer Lebensart geworden. Noch heute wirken die alten Göttermänner, wird ihnen und den Märchen über sie geglaubt. Aus diesen Quellen sprudelte aber auch Fremdenhass, ja unsere ganze Machtkultur ist wohl aus diesen Grundbedürfnissen geboren. Nation first? Heute noch flüchten viele, immer wenn sich Unsicherheit breit macht, wenn die Welt in Bewegung kommt, in rückwärts gewandte Denkmuster. In ein Abgeschlossenes, eine versichernde Erinnerung, die es tatsächlich nie gab und mit der wir heute scheitern. Da wird beschworene Nähe zum Nationalismus, zur Abwehr des Bedrohlichen, des Fremden und Unbekannten. In unserer späten, vollgefüllten und sich gefährlich erwärmenden Welt sind Nationalisten und Wirklichkeitsleugner eine Hypothek, ein Überlebensnachteil. Lenken diese alten, machtstabilisierenden Glaubensmärchen noch? Lenkt nicht jetzt die auf Kapital gestützte Macht mit neuen Wahrheitsnarrativen ihre Nachläufer? Lenken uns nicht schon wieder taktierende Cliquen, jetzt mit anderen Verschwörungen und Phantasmen, also Fantasiebildern? Bewegen wir uns auf eine, jetzt postkulturelle, politisch gepushte Verschwörungsrenaissance zu und leugnen immer noch die fatale Wirklichkeit?
Die Menschheit bekämpfte und vermischte sich von Anfang an. Schon der frühe homo sapiens (moderner Mensch) paarte sich mit dem homo neanderthalensis (ein Frühmensch). Weltweit ausbreitend entwickelten wir uns ethnisch ganz unterschiedlich. Gemäßigtes Klima war die entscheidende Voraussetzung für rasche Entwicklung. Diese erfolgreichen, aktiven, fortschrittlichen Völker vermehrten sich und erschlossen sich immer wieder neues Land. Mit ihrem kulturellen Vorteil verdrängten sie die langsamer Entwickelnden. Sie setzten mit ihrem Könnenspotential schlicht ihr Selbstverständnis durch. In geschichtlicher Zeit beherrschten die Han ganz China, Hindus eroberten Indien, nach einer buddhistischen Zwischenphase kamen die Muslime. Sie waren es auch, die Nordafrika bis Spanien beherrschten und in Europa bis Wien kamen. Die Portugiesen segelten um Afrika herum bis Indien und nach Ostasien. Sie ließen afrikanische Sklaven in den Eroberungen schuften. Mit der Entdeckung der beiden Amerikas ab 1497 zeigte sich den Europäern ein neuer Horizont. Sie eroberten sich mit Wissen, Können, Durchsetzungswillen und Waffen vom Atlantik aus die Welt. Die Spanier beuteten die Mitte und den Süden der Amerikas aus, gierig besonders nach Gold. Die Engländer besetzten und besiedelten den Norden der Amerikas. Wieder wurden Afrikaner versklavt, die indigenen Amerikaner geschunden und fast ausgerottet. Spät okkupierten Engländer auch noch Australien, Neuseeland und Ozeanien und ließen dort Inder schuften. Mit seinem Wirklichkeitswissen emanzipiert und mit seinen Waffen erobernd setzte Europa Standards. Stichworte sind Weltvermessung und Weltzeit oder: Warum beginnt das Weltjahr mit der Sonnenwiederkehr in den Norden? Auch europäische Russen dominierten, vereinnahmten den ganzen Nordosten Eurasiens.
Auch der herrschenden Kult-Wahrheit wurde widersprochen. Koppernigk stellte sich 1514 mit seinem Forschen über die planetare Wirklichkeit als erster dem entgegen. Er bewies, dass die Erde nur Planet ist in einem gigantischen Sonnensystem. Erde, Zentrum des Gestirnhimmels, das wir ja so offensichtlich sehen können? Diese kultische Wahrheit war erschüttert und damit auch das durch Religionsprediger geprägte soziale Gefüge. Er zeigte damit überdeutlich, dass nachprüfbares Wissen nur dogmenfrei entstehen kann. Der Portugiese Magellan wollte unseren kugeligen Planeten praktisch beweisen. Ansporn war, erobernd den Gewürzhandel zu beherrschen, auch finanziert von einem gewissen Kaufmann Fugger. Seine überlebende Schiffsmannschaft umrundete dann 1520 tatsächlich unsere Erdkugel. 1517 stellte auch Luther das Absolute der Kultmächtigen in Frage. Luther wollte Religion erklären und zum Wissensstoff für jedermann machen. Er wollte mit seiner individuellen Gnade hoffende Beteiligung wecken. Das machte ihn zum wirklich entscheidenden Veränderer: Die Gefühlslenkung wurde privat! Sagte nicht schon Marx dazu: Opium des Volkes? | 45
Immer mehr haben geforscht, widersprochen, fingen an selbst zu denken. Ein Humus, auf dem die europäische Aufklärung und schlussendlich die Individualität und das Wirklichkeitswissen der Moderne gedieh. Denn immer mehr suchten und fanden jetzt nachprüfbare Antworten zur Natur, zu den physikalischen Zusammenhängen und zu unserem Werdegang. Neugier und Wissensdurst förderten die Selbstständigkeit, halfen bewusst zu handeln: unser nächster erfolgreicher Entwicklungstreiber.
Das Schweizer Rütli, die Stürmer der Pariser Bastille und die bill of rights der Nordamerikaner waren der Anfang der Individualisierung oder der Selbstbestimmung des Einzelnen. Der Ruf Freiheit und Gleichheit erschallte. Die Bürger seien frei von Macht und Gewalt der Fürsten und Priester. Es sollte eine innere Gewaltfreiheit sein, eine Freizügigkeit im Herrschaftsgebiet. Frei handeln können wollten die Männer, Frauen blieben dem Familienverband untergeordnet. Denn alles blieb im Rahmen des sozial Üblichen, blieb auch religionsgeprägt. Für nichteuropäische Ethnien, so es sie bei diesen Freien gab, galt die Freiheit nicht. Für die tatsächlich freien Männer aber gehörte ganz wesentlich das wirtschaftliche Handeln, die Vorteilssuche, die Nutzung der Naturressourcen, der individuelle Besitz. Europa brachte seinen demokratisch gedämpften Kapitalismus in die Welt. Später wollte das kommunistische Diktat, inspiriert durch Marx und Engels, die wirtschaftliche Gleichheit Aller, wollte radikal umsteuern. Doch dessen aufgezwungenes Gleichheitskonzept scheiterte in Europa blutig an unserer Vorteil suchenden Art. Südostasien bis nach China dagegen war schon lange ein eigenständiger Kulturraum. Besonders China ordnete sich vorrangig durch Können und Selbstdisziplin. Spät, schon durch die Engländer geschwächt, überrannte die kommunistische Idee China und gipfelte in der Kulturrevolution.
Die kapitalistische Idee wurde weltweit durchgesetzt, ist heute anerkannt, uns alle anführend und allgegenwärtig. Eine Kultur der weißen Männer mit einem Tick paulinischem Hoffnungskult. Erst waren es Europäer aus dem Süden die eroberten, später aus Europas Mitte. Deren Besitzwille hatte in der Welt endgültig gesiegt. Alles Schwächere, wie beispielsweise Frauen, Farbige, andere Nationen oder auch konkurrierende Kulturen galten da lange Zeit nichts, ja wurden unterdrückt. Es ist aber auch eine Kultur mit anderen Schwerpunkten. Eine Kultur der geistig und sozial freien Menschen, des Wirklichkeitswissens und der Caritas oder der Fürsorge. Beim sportlichen Staffellauf könnte man sagen, der östliche Mittelmeerraum und Teile Asiens hielten den Stab zuerst. Europa übernahm ihn und beschleunigte. Als Kultur der frei Wirtschaftenden, der Vorteilssuchenden, haben die europäischen Emigranten in Nordamerika dies dann weltdominant perfektioniert. Noch halten die USA den Stab kraftvoll. China lauert schon, will den Stab übernehmen. Es ist ein Wettlauf mit maximaler Klimaschädigung und Naturverbrauch. Bleibt dazu noch Zeit?
Wir sehen, was wir sehen wollen. Unsere Brille ist unmerklich und ganz unterschiedlich getrübt von Gefühltem, Gewünschtem oder Eingeübtem. Doch was wir dann sehen, fordert oft Erklärung: Ich lebe, ich überlebe nur in der Gruppe und ich existiere nur ein kurzes Leben. Schon früh suchten und brauchten wir für all die unbeantworteten Fragen Erklärung, emotionale Hilfe und wohl auch Lenkung. Zuerst suchten wir Deutung durch die Natur. Dann schnitzten wir Löwenmänner fürs Gefühl, dachten uns immer ausdrucksstärkere Kultfiguren aus. Glaube als Sichtweise, Lenkungshebel und Wahrheit zugleich. Die kultische Dichtung war zweifelsohne unser stärkster booster. Es wurde ein langer Weg, bis wir unsere Bilder dann tatsächlich mit der Wirklichkeit verglichen. Denn erst vor kaum 500 Jahren begannen wir zu sehen, dass die Kultdichtung, in der wir uns als Weltmacher spiegelten, wohl nicht die Wirklichkeit abbildet. Wir erkannten, dass alles Übernatürliche, wie Gott, Schöpfung, Nirwana, QAnon oder was sonst noch kreiert wurde und noch immer wird, ausschließlich unsere Fantasie ist, Idee. Unser Zaubermittel um unsere tatsächliche Existenz, begrenzt durch Befruchtung und Tod, emotional abzufedern und zu verlängern. Das weitete den Blick und forderte heraus, all dies fallen zu lassen. Wir blieben halbherzig, hatten dazu nie die entscheidende Kraft. Manche, besonders Schwache, blieben gern bei ihrer eingetrübten Sicht. Sie hielten sich streng an ihre kultische Dichtung, schöpften daraus sogar Kraft. Sie tun es immer noch. Es entspricht aber auch unserer Neigung konditioniert zu denken, dem Bekannten den Vorzug zu geben. Die Bewussten aber zogen Überkommenes in Zweifel, schärften ihren Blick auf die Wirklichkeit. Sie entwickelten das Naturwissen fort, prüften permanent ihre Sichtweise. Es brachte Freiheit, Vorteil und Besitz, die neue Naturkenntnis auszunutzen und wurde zum neuen Sinngeber. Doch wir sahen nicht weit genug. Das veraltete Religiöse aber versandete. Hoffnung und Gefühl, Treiber früherer Lenkdichtung, suchten jetzt das Soziale. Wir versuchten uns in philosophischer Sinndeutung oder in Psychotherapie und Esoterik. Immer mehr Freiheit, Vorteil, Besitz und Komfort aber verbrauchen Weltressourcen, verarmen die Natur und überfordern unsere Lebenswelt thermisch. Wir hätten’s schärfer sehen müssen, denn unsere Erde ist eine Kugel, ergo endlich.
Überall und wie immer völlig überraschend verfolgt uns alljährlich das jingle bell. Ein Geklingel für ein rührendes Religionsfest. Ein Megaphon heutiger Prägung. Es zelebriert eine innige Geburt zum Jahresbeginn. Der europäische Norden hat's exportiert. Als verschneite Winterwaldidylle roter Zipfelmützenträger hat dies weltweit eingeschlagen. Der Jahresumsatz des Handels in den Winterstädten von Hammerfest bis Beijing und Anchorage wird mit diesem Kaufendspurt entscheidend aufpoliert. Aber auch der sommerliche Süden von Kapstadt bis Sydney und Buenos Aires beteiligt sich an dieser konsumierenden Schlittenromantik. Verdanken wir das der erfolgreichen Welteroberung im Zeichen eines Todeskreuzes? Ist das der schäbige Rest falscher Hoffnungen, Rundumvermarktung, im Ergebnis Erderwärmung?