Читать книгу Von einem, der auszog, um im Alter noch weise zu werden - Rudolf Gottschlich - Страница 6

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1. „Im Alter noch weise werden“.Wie kommt man eigentlich auf eine solche Idee?

Die Frage, warum irgendjemand irgendwann einmal auf die Idee kommen könnte, „weise“ werden zu wollen, ist sicher nicht ganz einfach zu beantworten und so möchte ich daher zunächst einmal eine kleine Anmerkung vorausschicken: Wenn man heute irgendwo – so beispielsweise auch im Titel dieses Buches – das Wörtchen „weise“ liest, dann verbindet man hiermit wahrscheinlich zunächst einmal Begriffe wie „abgehoben“, „lebensfremd“ oder auch „antiquiert“ und man sieht dabei dann quasi die in einem gutbürgerlichen Salon des vorigen Jahrhunderts auf einen Sekretär platzierte Büste des weisen Sokrates (aus Gips oder Marmor) vor sich stehen, also den Kopf eines alten, bärtigen Mannes, der stoisch und weltabgewandt vor sich hinstarrt.

Zu diesem Bild passt sehr gut, dass bereits vor weit mehr als 2000 Jahren der große Plato die folgende kleine Geschichte erzählt hat: Der – weise – Naturphilosoph Thales („Philosoph“ heißt ja wörtlich übersetzt „Freund der Weisheit“) habe bei einem Abendspaziergang in den Sternenhimmel gestarrt und sich so seinen Gedanken hingegeben. Dabei habe er dann einen Brunnen übersehen und sei in diesen hineingestolpert, woraufhin er von einer – klugen - Magd, die gerade Wasser holen wollte, ausgelacht und verspottet worden sei.

Der vermeintliche Gegensatz zwischen einer als positiv anzusehenden „Klugheit“ und einer eher skeptisch zu betrachtenden „Weisheit“ ist aber wohl weniger gut dazu geeignet, beiden Begriffen wirklich etwas näher zu kommen. Es lässt sich hier aber auch eine andere, nicht so sehr wertende Unterscheidung treffen, die ich einmal kurz an folgendem Beispiel erläutern möchte:

Jemand, der die entwicklungsgeschichtliche Evolution anhand der vorliegenden Befunde studiert und eventuell noch weitere Untersuchungen hierzu durchführt, geht an dieses Phänomen wissenschaftlich und klug heran. Derjenige, der sich dagegen mit den Fragen beschäftigt, warum es eine Evolution überhaupt gegeben hat und gibt und welche Rolle hier Zufall und Notwendigkeit gespielt haben mögen, dem könnte man wohl eher eine philosophisch-weise Herangehensweise attestieren.

Diese beiden Arten, sich mit einem Problem zu beschäftigen, sind nun aber überhaupt nicht im Sinne von „besser“ oder „schlechter“ zu bewerten, sondern beide sind nur dadurch unterschieden, dass sie eine Problematik aus verschiedenen Perspektiven angehen (und dann möglicherweise eine Lösung zu finden versuchen) und es scheint hier dann bisweilen auch so zu sein, dass jemand, der lange Zeit die Dinge aus einer der beiden Perspektiven betrachtet hat, irgendwann einmal den Wunsch verspürt, diese Perspektive zu wechseln.

Dass ältere Menschen sich tatsächlich – etwa nach dem Ende ihres Berufslebens - bisweilen Dingen widmen, die mit ihrer vorherigen Tätigkeit nur wenig oder gar nichts zu tun haben, ist sicher nichts Überraschendes. Man muss nur in die Hörsäle der Universitäten oder die Vortragsräume anderer Institutionen schauen und wird dort dann fast immer auch „ältere Semester“ antreffen, die – von den Jüngeren hierbei teilweise durchaus kritisch beäugt – als aktiv oder auch passiv Beteiligte sich ihnen bisher weitgehend fremde Wissensbereiche erschließen wollen.

C. P. Snow hat vor etwa 60 Jahren die Wissenschaften in zwei unterschiedliche „Kulturen“ einzuteilen versucht, in die naturwissenschaftliche auf der einen und in die geisteswissenschaftliche auf der anderen Seite. Diese Einteilung ist zwar inzwischen als zu vereinfachend kritisiert worden, wenn man aber dennoch einmal bei dieser etwas holzschnittartigen Unterteilung bleiben will, dann fällt in diesem Zusammenhang auf, dass ältere Menschen, die in einem naturwissenschaftlichen oder technischen Beruf arbeiten oder gearbeitet haben, sich nun im höheren Alter mehr für die im weitesten Sinne geisteswissenschaftlichen Fächer interessieren als dies umgekehrt der Fall ist. Die Gründe hierfür werden Soziologen und Pädagogen sicherlich inzwischen eingehend untersucht haben. Mir stellt sich aber in diesem Zusammenhang vor allem die Frage: Liegt es vielleicht nicht auch daran, dass es manchen älter werdenden Menschen mehr und mehr erstrebenswert erscheint, etwas „weiser zu werden“ (um es hier noch einmal so auszudrücken) und dass dabei von ihnen die geisteswissenschaftlichen Themenbereiche wie etwa Geschichte, Gesellschaftswissenschaften oder Philosophie viel eher mit diesem Begriff in Zusammenhang gebracht werden als naturwissenschaftliche oder technische Themen wie etwa Analytische Chemie, Molekularbiologie oder gar Maschinenbau? Außerdem scheint es mir auch so zu sein, dass zumindest einige Naturwissenschaftler schon während ihrer Berufstätigkeit in ihrer Freizeit bereits ein gewisses Interesse an geisteswissenschaftlichen Themen wie Geschichte, Politik, Literatur etc. zeigen, während es wohl eher seltener vorkommt, dass beispielsweise ein berufstätiger Philologe sich als Freizeithobby mit neueren Entwicklungen in der Atomphysik oder der theoretischen Chemie beschäftigt. Bevor man nun aber hieraus ableitet, dass den Naturwissenschaftlern in dieser Hinsicht vielleicht doch eine etwas größere geistige Beweglichkeit zuzusprechen sei als den Geisteswissenschaftlern, sollte man dann aber doch zunächst einmal einen hier bestehenden, gravierenden Unterschied berücksichtigen: Ein Chemiker, der beispielsweise eine kunsthistorische Vorlesung besucht, wird in der Regel (die natürlich wie immer von Ausnahmen bestätigt wird) dem Vortrag ohne allzu große Schwierigkeiten folgen können, während der schon oben genannte Philologe den Inhalt einer Physikoder Chemievorlesung kaum verstehen wird, da ihm die diesen Wissenschaften zugrunde liegenden speziellen Formelsprachen fremd sind. Die Notwendigkeit, sich mit diesen zunächst einmal einigermaßen vertraut machen zu müssen, stellt hier also sicherlich eine für viele abschreckend wirkende Hürde dar und dürfte so ein prinzipiell vorhandenes Interesse an diesen Wissenschaften deutlich dämpfen.

So weit einige allgemeinere Gedanken zum Bestreben von uns älteren Zeitgenossen, den engeren eigenen geistigen Horizont zu erweitern und somit also vielleicht der „Weisheit ein Stückchen näherzukommen“. Meine eigene Geschichte, die ich hierzu auf den folgenden Seiten erzählen möchte, könnte nun - so hoffe ich - ein kleiner Beitrag dazu sein, dass so mancher Leser das Phänomen „Altersstudium“ etwas besser versteht - oder dass er diesem Verständnis zumindest ein wenig näherkommt.

Nun aber zu meinem besonderen „Fall“: Wie bin ich denn eigentlich persönlich, der ich als ein gestandener Forschungschemiker meinen Beruf jahrzehntelang mit großer Freude und Begeisterung ausgeübt habe, auf die Idee gekommen, nach meiner Pensionierung schließlich doch noch mit einem Philosophiestudium zu beginnen? Das einzige, was mir inzwischen noch helfen kann, diese Frage zu beantworten, ist mein leider inzwischen doch recht lückenhaft gewordenes Gedächtnis. Immerhin kann ich vermuten, dass meine ehemalige Schule (ein zur damaligen Zeit noch recht häufig anzutreffendes „Altsprachliches Gymnasium mit neusprachlichem Zweig“) und einige ihrer Lehrer einen ersten Beitrag hierzu geleistet haben könnten – einen Beitrag, der dann allerdings im Laufe der dann folgenden Jahrzehnte zumindest vorübergehend wieder in Vergessenheit geriet. Wenn damals in den 1950er Jahren von den Gymnasiasten zu einem bestimmten Zeitpunkt die Entscheidung zu treffen war, ob sie künftig als Schwerpunkt die alten Sprachen (Lateinisch, Griechisch) oder die neuen Sprachen (Englisch und Französisch) weiterlernen wollten, war eine Wahl der alten Sprachen durchaus nichts Exotisches oder Ungewöhnliches. So entschied sich beispielsweise in unserer Klasse – natürlich war hier der Einfluss der Eltern nicht zu unterschätzen - etwa die Hälfte der Schüler für die alten und die andere Hälfte für die neuen Sprachen. Ich gehörte zur ersten Hälfte und habe diese Entscheidung bis heute niemals bereut. Im Griechischunterricht hat mich damals dann ein junger, dem Referendariat gerade entwachsener Studienassessor sehr beeindruckt und geprägt: Ein schlanker, feingliedriger, ruhiger, nachdenklicher, fast „ätherisch“ wirkender Lehrer, dem seine Begeisterung für das antike Griechenland und alles Griechische nur zu deutlich anzumerken war. Höhepunkt dieser also mit dem Griechischunterricht einhergehenden Erziehung zum Griechenland-Liebhaber bestand dann später in einer Klassenfahrt dorthin (die damals durchaus eines langen Berichtes in der örtlichen Zeitung für wert befunden wurde). Diese Fahrt führte uns von Athen über Sparta bis hin nach Delphi, also zu allen altgriechischen „Highlights“ und die Begeisterung unserer Lehrer hierfür sprang dabei häufig auch auf uns Schüler über und hat sich zumindest bei mir bis heute noch ein wenig erhalten.

Zudem meine ich mich daran erinnern zu können (will aber nicht ganz ausschließen, dass ich mir das später einmal dazufantasiert habe), dass wir im fortgeschrittenen Griechischunterricht auch den einen oder anderen Platonischen Dialog zumindest auszugsweise gelesen und besprochen haben. Hierbei hat mich, so meine ich, die von Plato geschilderte Vorgehensweise des Sokrates (die sogenannte „Hebammenmethode“) schon damals sehr beeindruckt. Deren Prinzip lässt sich beispielhaft - hier allerdings doch sehr stark verallgemeinernd und vereinfachend dargestellt - etwa in folgendem fiktiven Dialog wiedergeben: Der selbstbewusste junge Mann (der „Jüngling“) trägt dem geduldig zuhörenden Sokrates eine These vor, von der er – nicht aber Sokrates - voll und ganz überzeugt ist. Sokrates erwidert nun nicht etwa sogleich mit einem schlagenden Gegenargument, sondern er antwortet vielmehr in etwa so: „Freilich hast du da eine zweifellos gute und wertvolle These vorgebracht. Hast du dabei aber bedacht, dass…“ (und es folgt ein Aspekt, den der Jüngling offenbar nicht berücksichtigt hatte). Dieser gibt nun zu, dass seine ursprüngliche These, wohl so nicht ganz zu halten sei, dass sie aber, wenn man diesem Einwand Rechnung trage und sie ein wenig variiere, doch immer noch valide sei. Daraufhin lobt Sokrates einmal mehr die vom Jüngling gefundene Lösung, gibt aber wiederum ganz freundlich zu bedenken, dass… usw. usw. Schließlich sieht sein Gesprächspartner ein, dass seine These insgesamt wohl doch nicht zu halten sei. Sokrates aber ist weit davon entfernt, dies nun als eigenen Triumph auszukosten, er betont vielmehr, man habe ja zwar bei dieser Diskussion anscheinend nichts Positives erreicht, aber eines müsse man trotzdem als durchaus positiv bewerten: Man habe gelernt, die richtigen Fragen zu stellen.

So viel also zu meinen doch sehr übersichtlichen Berührungspunkten mit der Philosophie während der Schulzeit. Nicht viel anders verhielt es sich dann allerdings in dieser Hinsicht auch während meines anschließenden Chemiestudiums. Hier war ich zunächst ganz damit beschäftigt, meinen als „Altsprachler“ doch eher rudimentären naturwissenschaftlichen Kenntnisstand (so hatte ich auf dem Gymnasium nur ein einziges ganzes Jahr Chemieunterricht gehabt!) aufzustocken, um ihn zumindest annähernd auf das Niveau der mir hierin weit überlegenen „Naturwissenschaftler“ (das heißt der Absolventen eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums) zu bringen. Für andere Aktivtäten blieb da natürlich wenig Zeit. Allerdings gab es hier kleine Ausnahmen. Zwei alte Schulfreunde studierten mit mir zusammen an derselben Universität, allerdings zwei völlig andere Fächer: Jura und Romanistik. Trotz meines Lernstresses folgte ich dann doch deren Einladung, mit ihnen zusammen hin und wieder einige Vorlesungen aus ihrem Fachgebiet anzuhören. Ich erinnere mich noch recht gut daran, dass mir die Vorlesung in Strafrecht, die ich daraufhin ein paarmal besuchte, wegen der stringenten Logik, die den dort vorgetragenen Gedanken zugrunde lag, sehr imponierte.

Mein „romanistischer Freund“ sah damals ein, dass es wohl wenig Sinn machte, mich etwa in eine Vorlesung über französische Grammatik mitzunehmen und so wählte er für mich ein Fach aus, das für ihn auch ein Pflichtfach war: Philosophie. Ich weiß heute nicht mehr, wer damals der vortragende Dozent war und um welches Thema es bei dieser Philosophievorlesung ging, was ich aber bis heute behalten habe, ist, dass ich so gut wie nichts von dem dort Vorgetragenen verstanden habe. Damals habe ich, so meine ich, manchmal daran gedacht, meinen Freund – sozusagen als „Revanche“ - in eine Vorlesung über physikalische Chemie mitzunehmen.

Aus heutiger Sicht, nachdem ich während meines späteren Zweitstudiums viele Jahre lang philosophische Vorlesungen gehört habe und ihnen eigentlich von Anfang immer doch einigermaßen gut folgen konnte, kann ich mir mein damaliges Unverständnis nicht mehr so recht erklären: Lag es an dem sehr speziellen Thema dieser Vorlesung? Oder an einem sehr speziellen Professor? Oder vielleicht doch nur an mir?

Nach meinem Studium, das ich, wie es bei einem Chemiker ja fast die Regel ist, mit Diplom und Promotion abschloss, folgten dann Jahrzehnte, in denen mich mein Beruf als Forscher im medizinisch-chemischen Bereich völlig ausfüllte. Und dann kamen darüber hinaus auch noch überaus wichtige private Ereignisse hinzu wie etwa Familiengründung oder Hausbau. So ist es also sicher leicht zu verstehen, dass ich damals gar nicht dazu kam, an das Thema „Philosophie“ überhaupt auch nur zu denken. Das änderte sich dann aber, nachdem ich in den Ruhestand getreten war.

Bevor ich nun aber im nächsten Kapitel über diese Veränderung berichte und damit also „medias in res“ gehe, möchte ich an dieser Stelle doch noch ein paar kurze Erklärungen darüber vorausschicken, auf welche Art und Weise ich meine Erlebnisse und Erfahrungen als Senior-Philosophiestudent im Folgenden darstellen bzw. nicht darstellen möchte:

Zum einen werde ich die Personen und Orte, über die ich berichten werde, nicht mit ihrem tatsächlichen Namen benennen, denn dies würde in meinen Augen dem Erzählten zu sehr den Charakter des Singulären und nicht so sehr den des Exemplarischen (also des sich in ähnlicher Weise immer wieder Ereignenden) verleihen und das möchte ich eigentlich eher vermeiden. Ich werde daher all diese Namen etwas – wenn auch nicht allzu sehr – verändern. Auf diese Weise soll also der geneigte Leser den Eindruck erhalten, dass das, was ich beispielsweise bei einem „Prof. Köster“ tatsächlich erlebt habe, ein beliebiger anderer so oder so ähnlich auch bei einem „Prof. Kötter“ hätte erleben können….

Zum anderen möchte ich bei meinem Bericht nicht chronologisch vorgehen und also all das, was mir unter den von mir besuchten Vorlesungen und Seminaren erwähnenswert erscheint, in der tatsächlich erlebten zeitlichen Reihenfolge erzählen. Vielmehr möchte ich es so handhaben, dass ich die über die gesamte Studienzeit hin verstreut angebotenen einzelnen Themen zu einzelnen Blöcken zusammenfasse, die ihrerseits dann allerdings wiederum einer ganz bestimmten „persönlichen Chronologie“ folgen. Diese beginnt mit der Philosophie des griechischen Altertums (Sokrates und Plato) und führt schließlich zur Sprachphilosophie, einem Gebiet, aus dem ich dann später einmal das Thema meiner Magisterarbeit wählte.

Zu guter Letzt möchte ich dann aber auch noch eines ganz deutlich sagen: Ich habe zwar als Senior ein Philosophiestudium erfolgreich abgeschlossen – wenn auch auf dem eher bescheideneren Level des Magisters – dennoch möchte ich dieses Büchlein vor allem den an der Philosophie interessierten „Laien“ widmen und nicht so sehr den studierten und examinierten Kollegen - es sei denn, diese sehen einmal von einem fast zu erwartenden, gelegentlichen, missbilligenden Kopfschütteln ab und begreifen dieses Buch allein als ein Mittel, den Blick eines aus der „zweiten Kultur“ (C. P. Snow) stammenden Konvertiten auf ihr so faszinierendes Fach besser zu verstehen.

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