Читать книгу Von einem, der auszog, um im Alter noch weise zu werden - Rudolf Gottschlich - Страница 7
Оглавление2. Aller Anfang ist schwer
Nach meiner Pensionierung tat ich zunächst etwas, was wohl die meisten Ruheständler zunächst einmal tun: Ausspannen, die viele freie Zeit genießen, zurückgestellte Aktivitäten wie Arbeiten in der Wohnung oder im Garten nachholen, Dinge ordnen, die zu ordnen man in der Vergangenheit keine Zeit gehabt hatte, ins Kino oder Theater gehen usw. Einige meiner Freunde und Kollegen, die etwa zur selben Zeit wie ich in den Ruhestand gingen oder gegangen waren, beließen es dann auch bei diesen Aktivitäten für den Rest ihres Lebens. Andere wollten die vermutlich längere Lebensspanne, die noch vor ihnen lag, doch lieber mit etwas in ihren Augen Sinnvollerem füllen. Die Kollegen aus dem medizinisch-chemischen Bereich knüpften dabei manchmal an ihre zuvor ausgeübte Tätigkeit an: So schlossen sie mit ihrem vorherigen Arbeitgeber zeitlich begrenzte Verträge beispielsweise als Berater ab oder gründeten kleinere Startups, in denen sie ihre Kenntnisse in neue, praktikable Ideen umzusetzen versuchen wollten.
Obwohl ich in meinen Beruf über die Jahrzehnte hinweg durchaus glücklich und zufrieden gewesen war, wollte ich nun aber im „Lebensherbst“ doch etwas ganz anderes machen. Ich wollte – wie ich es im vorherigen Abschnitt als eine generellere Tendenz beschrieben habe – von den Naturwissenschaften weg zu etwas ganz Neuem.
Die Philosophie war da von vornherein eine der attraktivsten Optionen. Da ich nun aber nach den zuvor geschilderten Erfahrungen mit dieser Disziplin in meiner Studentenzeit nicht wusste, ob ich in den entsprechenden Vorlesungen und Seminaren überhaupt irgendetwas verstehen würde und weil ich dazu dann auch unsicher war, ob mir ein solches Studium schließlich und endlich auch wirklich gefallen würde, definierte ich für mich zwei Hürden, die es zu überwinden galt, bevor ich eine definitive Entscheidung für die Philosophie treffen wollte:
Zum einen wollte ich mir ein anerkannt schwieriges philosophisches Werk besorgen, es dann durchlesen und dabei prüfen, ob ich dessen Inhalt zumindest halbwegs verstehen könne. Falls diese Prüfung positiv ausgefallen wäre, wollte ich zum anderen daraufhin dann auf jeden Fall auch ein „Schnuppersemester“ als Gasthörer in der philosophischen Fakultät absolvieren. Dabei wollte ich dann festzustellen versuchen, ob die entsprechenden Vorlesungen und Seminare mir auch tatsächlich gefielen.
Das „anerkannt schwierige philosophische Werk“, für das ich mich nach einigem Suchen entschied, war Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und so arbeitete ich in den folgenden Wochen und Monaten dieses zentrale Werk der Philosophie Seite für Seite bis zum „bitteren Ende“ durch. Das Ergebnis dieser Lektüre war aber alles in allem gar nicht so furchtbar „bitter“: Natürlich habe ich einzelne Abschnitte dieses Werkes überhaupt nicht verstanden, bei anderen ahnte ich eher die Zusammenhänge als dass ich sie wirklich verstand, über viele Passagen hinweg aber konnte ich den Gedankengängen Kants einigermaßen gut folgen und was am Ende noch viel wichtiger war: Das Werk hat mich, auch wenn für mich einige Teile im Dunklen blieben, in seinem Aufbau, seinen Aussagen und seiner ganzen Logik außerordentlich fasziniert - und das, obwohl es allein schon sprachlich wegen seines exzessiv verschachtelten Satzaufbaus bekanntermaßen schwierig zu verstehen ist.
(Kleine Anmerkung: Später einmal hat ein Dozent in einer Kant-Vorlesung seinen Hörern den folgenden „Tipp“ gegeben: Einen schwer verständlichen typisch Kant’schen Schachtelsatz solle man in einem ersten Schritt zunächst einmal in kurze Hauptsätze zerlegen und ihn dann erst in einem zweiten Schritt zu analysieren und zu verstehen versuchen.)
Die erste der beiden Hürden, die ich mir aufgestellt hatte, war damit genommen. Tatsächlich bin ich dann auch im folgenden Sommersemester die zweite Hürde angegangen und habe mich an der Universität, die in der gleichen Stadt wie meine vorherige Arbeitsstelle lag (und die ich im Folgenden nur noch „meine Universität“ nennen möchte) als Gasthörer für das Fach Philosophie eingeschrieben. Damals habe ich dann zunächst einmal nur an zwei Veranstaltungen teilgenommen, an einer Vorlesung und einem (Pro-)Seminar. Titel der Vorlesung war: „Die Philosophie im Archiv: Eine Foucault-Einführung“. Das war für den Anfang sicherlich nicht gerade etwas besonders leicht Verdauliches, aber die vortragende Professorin Gerigs, auf die ich im Folgenden noch mehrmals zurückkommen werde, trug den Stoff in einer Weise vor, die es auch mir, dem der Philosoph Foucault bis dahin völlig unbekannt war, möglich machte, dessen Gedankengängen einigermaßen gut zu folgen.
Das Proseminar, das ich daneben besuchte, war betitelt: „Aktuelle Fragen der Technikphilosophie; Wege zur Wissenschafts- und Technikgestaltung“. Der Stoff dieses Seminars war nun Gott sei Dank etwas, was mir als Naturwissenschaftler sehr viel näher lag als beispielsweise die Foucaultsche „Archäologie“. Allerdings musste ich mich daran gewöhnen, dass hier Naturwissenschaft und Technik aus einem ganz anderen als dem mir vertrauten Blickwinkel betrachtet wurden. In meinem lange zurückliegenden Studium der Chemie waren es ja ganz allein die „Fakten“ wie beispielsweise der Atomaufbau, die Reaktionsmechanismen etc., mit denen ich mich zu beschäftigen hatte, hier dagegen standen nun aber bei Themen wie zum Beispiel „Die reflektiv-normative Wende im Technikverständnis“, ganz andere d. h. normative, ethische Fragen im Vordergrund der Betrachtungen.
Die beiden Seminarleiter waren recht jung und sehr sympathisch. Sie hatten einen naturwissenschaftlichen Hintergrund, hatten dann aber später offenbar die Seiten gewechselt und beschäftigten sich nun mit den Naturwissenschaften aus einer ganz anderen Perspektive. „Aus einer ganz anderen Perspektive“ heißt hier: Sie betrachteten diese vor allem kritisch bis skeptisch. Naturwissenschaftliche Publikationen - und unter ihnen natürlich vor allem die populärwissenschaftlichen – heben ja sehr oft tendenziell die positiven Seiten von Forschungsergebnissen besonders hervor – manchmal sogar mit einem beinahe triumphalistischen Unterton wie etwa: „Diese Ergebnisse sind ein ganz wichtiger Schritt auf dem Wege zum Verständnis der Krankheit XY und sie eröffnen damit völlig neue Möglichkeiten, diese später einmal effektiv behandeln zu können …“. Demgegenüber geht die Wissenschafts- und Technikphilosophie immer auch auf „die andere Seite der Medaille“ ein, nämlich auf die mit den positiven Effekten einer technologischen Entwicklung oft (oder sogar eigentlich immer?) verbundenen unerwünschten „Nebenwirkungen“.
Die Autoren, die wir besprachen, deckten ein sehr breites Meinungsspektrum ab: Von radikalen Wissenschafts-Technik- und Zivilisationskritikern (die z. B. den Sinn einer jeglichen schulmedizinischen Behandlung in Frage stellten) bis hin zu solchen, die sine ira et studio in ruhiger, abwägender Weise Vor- und Nachteile gewisser technischer und naturwissenschaftlicher Entwicklungen darstellten und diese entsprechend bewerteten.
Dieses Seminar gefiel mir ausnehmend gut und es kam dann noch ein besonderes, positives Erlebnis hinzu, das mir die Seminarleiter noch ein Stück sympathischer machte: Nach der ersten Seminarstunde – es war ein strahlend schöner Frühlingstag – schlugen die beiden vor, dass wir alle zusammen – wir mögen insgesamt so etwa acht bis zehn Personen gewesen sein – in ein in der Nähe gelegenes Eiscafé gehen sollten, um das Seminar gemütlich ausklingen zu lassen. Dort saßen wir dann noch eine ganze Weile draußen in der Sonne, schleckten unser Eis, tranken Kaffee und diskutierten ein wenig weiter, lernten uns aber insbesondere auch persönlich etwas näher kennen.
Dieses Seminar war also ein „Volltreffer“ gewesen und nachdem auch die Foulcault-Vorlesung zumindest nicht besonders abschreckend gewirkt hatte und dazu von mir auch die „Kanthürde“ einigermaßen zufriedenstellend genommen worden war, sprach für mich nun eigentlich nichts mehr dagegen, mit dem Studium zu beginnen.
An dieser Stelle sollte ich anmerken, dass ich zwar eine sehr große Sympathie für all diejenigen empfinde, die im Alter ein eher „rezeptives“ Studium beginnen und auch durchhalten, ein Studium also, bei dem vor allem das Hören (z. B. von Vorlesungen und Seminarvorträgen) und Lesen (z. B. von Büchern und Aufsätzen) im Mittelpunkt steht, dass ich selbst aber viel lieber ein aktives Studium „mit allem Drum und Dran“ durchzuziehen versuchen wollte, also ein solches mit Referaten und Hausarbeiten, mit Abschlussarbeit und Abschlussprüfung.
Und dann gab es da doch noch ein kleines Problem, das ich bisher nicht so recht bedacht hatte: Zu einem regulären Studium der Philosophie gehört – wie das ja auch bei anderen Studienfächern der Fall ist – das gleichzeitige Studium zweier Nebenfächer nach eigener Wahl. Das erhöhte natürlich den Aufwand für mich ganz beträchtlich und ich überlegte mir also, wie ich diesen möglichst gering halten könnte. Da ich erfuhr, dass es am Institut für Philosophie meiner Universität durchaus gerne gesehen wurde, wenn man als Nebenfach ein „philosophiefernes“ Fach wählte, kam ich auf die pfiffige Idee, als erstes Nebenfach Chemie zu wählen und dabei zu hoffen, dass mein lange zurückliegender Abschluss in diesem Fach mir doch noch als bestandene Nebenfachprüfung anerkannt würde. Mein entsprechender Antrag führte, da dies wohl für die Hochschulverwaltungen ein völlig neuer Sachverhalt war, zu längeren Mailwechseln zwischen meiner alten und neuen Universität, doch – um es kurz zu machen – schließlich wurde mein Chemie-Diplom mit der entsprechenden Benotung vorab als eine bestandene Nebenfachprüfung im Fach Chemie anerkannt.
Bevor ich nun weitererzähle, wie ich zur Auswahl meines zweiten Nebenfaches kam, muss ich noch auf eine Frage eingehen, die mich schon viel früher beschäftigt hatte (und die mir bisweilen auch von Bekannten gestellt worden war): Nimmst du als Hobbystudent eigentlich nicht den vielen jungen Leuten, für die das Studium eine essenzielle und existentielle Angelegenheit ist, den Platz in den Hörsälen und Seminarräumen weg? Die Frage war sicher sehr berechtigt und so etwas wollte ich ja nun unter gar keinen Umständen tun! Allerdings hatte mir mein Philosophie-Probesemester auch gezeigt, dass ich mir in diesem Fach, was den Punkt Überbelegung betraf, wohl keine Sorgen zu machen brauchte und auch im weiteren Verlauf meines Studiums habe ich feststellen können, dass es hier keine übervollen Veranstaltungen gab – eher war bisweilen das Gegenteil der Fall…
Was kam nun aber für mich als mögliches zweites Nebenfach in Frage? Zwei Fächer, die mir ganz attraktiv erschienen, waren die Psychologie und die Soziologie. Als ich aber „zur Probe“ einige Veranstaltungen in diesen Fächern besuchte, beobachtete ich dann genau das, was ich befürchtet hatte: Die (allerdings zum Teil chronisch zu spät kommenden) Studenten saßen schließlich in überfüllten Räumen auf dem Boden oder auf Treppenstufen. Diese beiden Disziplinen fielen also schon von daher für mich als zweites Nebenfach aus.
Nun gab es aber an meiner Universität im Fachbereich „Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften“ noch das kleine, organisatorisch aber eigenständige „Institut für Theologie und Sozialethik“. Dieses bot zwar das Fach Theologie nicht als Vollstudium an, sondern war spezialisiert auf die Ausbildung von Religionslehrern an beruflichen Schulen. Aber es stand natürlich auch denjenigen Studenten anderer Fachrichtungen offen, die Theologie als Nebenfach studieren wollten. Darüber hinaus war für das Studium an diesem Institut „kein Nachweis einer Kirchenzugehörigkeit“ notwendig Da zudem in der Eigendarstellung dieses Instituts von einem „exzellenten Betreuungsverhältnis“ die Rede war, brauchte ich hier also wohl kaum mit überfüllten Veranstaltungen rechnen - was ja bei dem Fach „Theologie“ ohnehin kaum zu erwarten war. Das hörte sich also alles recht positiv an und so entschied ich mich schließlich für die Theologie als zweites Nebenfach. Dies habe ich dann in den folgenden Jahren auch nie bereut, weil ich – wie später zu sehen sein wird – in diesem Fach an einigen äußerst interessanten Seminaren teilnehmen konnte.
Nach diesem langen Vorlauf war es dann also endlich so weit: Ich schrieb mich an meiner Universität - seitdem ist inzwischen mehr als eine Dekade vergangen - als Student der Philosophie ein - mit den Nebenfächern Chemie und Theologie.