Читать книгу Von einem, der auszog, um im Alter noch weise zu werden - Rudolf Gottschlich - Страница 8

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Ein nicht ganz einfacher Einstieg:Plato und Sokrates

Indem ich hier nun – wie schon vorher angekündigt – meiner „persönlichen Chronologie“ folge, möchte ich zunächst einmal über diejenigen von mir besuchten Seminare berichten, in denen wir uns mit der alten, klassischen griechischen Philosophie beschäftigten, also insbesondere mit den Philosophen Plato und Sokrates.

Für diesen Bereich fühlte sich im Institut für Philosophie offenbar insbesondere die schon zuvor erwähnte Professorin Gerigs zuständig. Zwar war hier im Institut den Philosophieprofessoren formal ein bestimmter Bereich zugeordnet (wie z. B. praktische Philosophie oder Technikphilosophie), in der Praxis setzte sich aber ein jeder doch meistens seine eigenen Schwerpunkte und so waren es denn vor allem die Seminare von Frau Gerigs, in denen diese beiden Klassiker behandelt wurden.

Frau Gerigs war damals eine mittelalte, sehr schlanke Person mit einer sehr beweglichen Gestik und Mimik. Und es schien so, als habe sie infolge ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Menschen und Philosophen Sokrates so einiges von dessen Wesen verinnerlicht. Wenn beispielsweise einer der Teilnehmer an ihrem Seminar eine (aus Sicht fast aller anderen) völlig unbedarfte oder sinnlose Frage stellte, wurde diese von ihr nicht etwa mit einer Bemerkung zurückgewiesen wie etwa: „Entschuldigen Sie bitte, aber in diesem Zusammenhang ist Ihre Frage doch wohl nicht besonders sinnvoll“, nein, sie sah in dieser (nochmals: aus Sicht der anderen) eher sinnlosen Frage doch einen möglichen interessanten Ansatzpunkt, der, wenn man ihn nur aus einer etwas anderen Perspektive angehe, durchaus zu einem ganz neuen, durchaus verfolgenswerten Gedankengang führen könne. Auch Frau Gerigs handelte also offenbar nach dem Motto (mit dem ich in den folgenden Jahren noch öfter Bekanntschaft machen sollte): In der Philosophie gibt es keine sinnlosen Fragen…

Es ist ja allgemein bekannt, dass uns der große Philosoph Sokrates selber nichts Schriftliches hinterlassen hat. Alles, was wir über sein Leben und seine Gedanken wissen, verdanken wir den Aufzeichnungen von Zeitzeugen – und hier vor allem denjenigen seines Schülers Plato. Natürlich ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage gestellt worden, was in den überlieferten Dialogen des Sokrates (nur die „Apologie“, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, ist ein Monolog) denn nun wirklich „sokratisch“ sei und was wohl eher „platonisch“.

Mit diesem schwierigen, schon oft untersuchten Thema möchte ich mich hier nun aber gar nicht erst beschäftigen, sondern vielmehr auf die nicht weniger interessante Frage eingehen: Warum hat der große Philosoph Sokrates eigentlich selber nichts Schriftliches hinterlassen?

Der Dialog „Phaidros“, den wir dann auch in einem sehr interessanten Seminar bei Frau Gerigs behandelten, scheint eine Antwort auf diese Frage geben zu können …

Den ersten großen Teil dieses Dialogs möchte ich hier nur ganz kurz skizzieren, weil er mit der oben gestellten Frage eigentlich gar nichts zu tun hat: Der bekannte Redenschreiber Lysias hat eine Rede verfasst, die Sokrates‘ Schüler Phaidros sehr beeindruckt hat und die dieser nun seinem Lehrer vorliest: Lysias setzt das – hier homoerotische – Verliebtsein, den „Liebeswahn“ (mania), zur reinen Freundschaft ins Verhältnis, untersucht beider Vor- und Nachteile und kommt schließlich zu dem Schluss, dass die Freundschaft das bei weitem Erstrebenswertere sei. Sokrates kritisiert die Argumentation des Lysias wegen ihrer Einseitigkeit und hält nun anschließend selbst eine Rede, in der er aber gleichfalls die Liebe sehr negativ beurteilt. Jedoch hält er dann sofort danach eine zweite Rede, in der er zu der genau gegenteiligen Beurteilung kommt. Diesen Widerspruch erklärt er schließlich damit, dass auch die Liebe in zwei unterschiedlichen Formen auftreten kann: Einmal in der menschlich-egoistischen, dann aber auch in der göttlich-überhöhten.

Soweit also dieser Teil des Dialogs, in dem Sokrates sich deutlich gegen ein einseitiges Argumentieren und für das (dialektische) Einbeziehen von These und Gegenthese in eine Diskussion ausspricht. Nun aber zu demjenigen Teil des Dialogs, in dem Sokrates die gesprochene Rede ihrem schriftlichen Pendant gegenüberstellt:

Hierbei betont er zunächst einmal, dass derjenige, der seine Überlegungen schriftlich hinterlässt und glaubt, auf diese Weise etwas Sicheres und Deutliches übermittelt zu haben, sich in einem großen Irrtum befinde. Ein wichtiger Punkt ist hierbei, dass in Schriftform verfasste Gedanken, wenn sie vom Leser hinterfragt werden, ihrer Natur nach schweigsam sind und daher eine Antwort schuldig bleiben müssen. Sie können sich darüber hinaus auch nicht direkt gegen unberechtigte Angriffe oder falsche Interpretationen wehren. Wenn dagegen ein mündlich vorgetragener Gedankengang auf Widerspruch stößt, kann der Redner ihn entweder sofort mit guten Argumenten verteidigen oder ihn aber auch, wenn die Einwände berechtigt sind, relativieren oder seine Fehlerhaftigkeit eingestehen. Dies alles ist bei der aufgeschriebenen Rede nicht möglich. Und was nun die Rede ganz allgemein betrifft, so wird nur diejenige, die vom Redner in die „Seele des Lernenden eingeschrieben“ wurde und nicht etwa diejenige, die in toten Buchstaben aufgeschrieben wurde (und die nur ein „Schattenbild“ der ersteren sein kann) ihre Wirkung entfalten können.

Nach diesem doch sehr starken Plädoyer des Sokrates für die mündliche Rede darf es eigentlich nicht mehr so sehr verwundern, dass Sokrates zwar über Jahrzehnte hinweg auf der Agora in Athen Reden gehalten und mit den Menschen diskutiert hat, dass von ihm aber überhaupt nichts Schriftliches überliefert ist und dass wir, wenn wir seine Gedanken und Ansichten kennenlernen wollen, ganz auf die Aufzeichnungen seines Schülers Plato angewiesen sind (der die negative Einschätzung der schriftlichen Kommunikation von seinem Lehrer offensichtlich ganz und gar nicht übernommen hat).

Frau Gerigs besprach in ihrem Seminar nun aber nicht nur den „philosophischen Kern“ dieses Dialogs, sondern bezog auch das Kompositorische und Stilistische in die Interpretation ein und wies hierbei insbesondere auf zwei Elemente hin, die auch für andere Schriften des Plato charakteristisch sind: Zum einen findet man dort immer wieder in die Texte eingefügte Einschübe in Form von historischen oder mythischen Geschichten und so soll denn auch an dieser Stelle einmal beispielhaft ein solcher typischer, in den Dialog „Phaidros“ eingefügter Einschub kurz skizziert werden:

Es handelt sich um den wunderschönen Mythos vom „Seelenwagen“, demzufolge die Seele ein Gespann ist, das von einem geflügelten Lenker gesteuert und von zwei ebenfalls geflügelten Pferden durch das Himmelsgewölbe gezogen wird. Die göttlichen Seelenwagen werden nun von zwei tüchtigen und gehorsamen Pferden gezogen, wohingegen vor den menschlichen Wagen auf der einen Seite zwar ein tüchtiges, auf der anderen aber ein sehr widerspenstiges Pferd eingespannt ist, was natürlich zu Problemen führt. (Es ist leicht zu erraten, für was das tüchtige und für was das widerspenstige Pferd hier stehen). Ganz wichtig ist es für all diese Seelenwagen, dass Pferde und Lenker nicht durch unachtsames Verhalten ihre Flügel verlieren, denn dann stürzen ihre Wagen ab und müssen auf der Erde als menschliche Seelen unter schwierigen Bedingungen weiterexistieren, wohingegen die anderen mit ihren intakten Flügeln einen „überhimmlischen Ort“ erreichen können… Soweit hier eine den Inhalt nur andeutende Wiedergabe dieses Mythos. Ein zweites kompositorisches Element, das für viele der von Plato aufgeschriebenen Dialoge charakteristisch ist, besteht darin, dass der eigentliche Kernteil, die thematische Diskussion und Argumentation, nicht mehr oder weniger unmittelbar gleich zu Anfang beginnt, sondern dass dieser Kern in einen – oft stimmungsvollen – äußeren Rahmen eingebettet ist: Es gibt ein einstimmendes „Davor“ und schließlich ein ausklingendes „Danach“. Nicht anders ist dies beim hier betrachteten Dialog: Bevor Sokrates und Phaidros in die eigentliche Diskussion einsteigen, suchen sie nach einem passenden Ort, an dem sie dann miteinander reden wollen. So schlendern sie zunächst das Flüsschen Ilissos entlang und finden schließlich einen rasenbewachsenen, schattigen Platz unter einer großen Platane, der als Ruheplatz geeignet erscheint und so lassen sie sich hier dann auch nieder. Ein schönes klassisch-bukolisches Bild stimmt den Leser also auf das daraufhin Folgende ein.

Ähnlich ist das Ende des Dialoges konzipiert: Er schließt also nicht etwa mit einem „Statement“ oder einer „Conclusion“ (allerdings ist etwas Derartiges bei Sokrates ja auch wohl kaum zu erwarten), sondern er klingt ganz überraschend mit einem Gebet aus, das ich persönlich als sehr anrührend empfinde und in dem Sokrates die Götter bittet: „Verleihet mir, schön zu werden im Inneren und dass das, was ich an Äußerem habe, dem Inneren befreundet sei…“

Während meines Studiums nahm ich dann noch an drei weiteren Seminaren teil, die sich mit den Schriften des Plato beschäftigten. Zwei von ihnen wurden wieder von der – wie ich es empfand – sehr „Sokrates-affinen“ Professorin Gerigs betreut: Zum einen war das ein Seminar über die „Apologie des Sokrates“, die ja gar kein Dialog ist, sondern vielmehr ein Monolog, in dem sich Sokrates gegen seine ihn wegen Verführung der Jugend und Gottlosigkeit anklagenden Gegner wehrt. Das andere dieser beiden Seminare beschäftigte sich mit dem Dialog „Theaitetos“, in dem es um die Erkenntnistheorie geht, also um die Frage, ob man gesichertes Wissen überhaupt erlangen kann. Auf diese beiden Seminare werde ich allerdings im Folgenden nur etwas kürzer eingehen als auf das vorher besprochene Phaidros-Seminar, das mir nun einmal – nicht zuletzt auch wegen der exzellenten Begleitung und Betreuung – als ausgesprochenes „Highlight“ unter den von mir besuchten „Sokrates-Seminaren“ in Erinnerung geblieben ist.

Was die „Apologie des Sokrates“ betrifft, so möchte ich hier nicht so sehr auf den Text als solchen eingehen, also auf die Argumente, die Sokrates vor Gericht zur Verteidigung gegen seine Ankläger vorgebracht hat, sondern ich möchte mich mit einer grundsätzlicheren Frage beschäftigen: War Sokrates wirklich ein überzeugter Demokrat? Mit dieser Frage sollte ich mich nämlich in einer Hausarbeit, die mir von Frau Gerigs vorgeschlagen worden war, beschäftigen.

Grundlage waren zwei einige Jahre zuvor veröffentlichte Aufsätze (verfasst von G. Vlastos, Philosoph, und E. und N. Wood, Historiker). In diesen wurde zunächst völlig einmütig die Auffassung vertreten, dass die Vorwürfe der Anklage gegen Sokrates (Gottlosigkeit, Verführung der Jugend) nur vorgeschoben gewesen seien und dass die wirklichen, nicht offen genannten Anklagepunkte gewesen seien: Kritische Haltung gegenüber der Demokratie und subversive Tätigkeit als „pro-oligarches Element“. Hier endet dann aber auch schon die Einmütigkeit der Autoren: Während Vlastos davon überzeugt ist, dass dieser Vorwurf tatsächlich völlig unberechtigt gewesen sei und an der demokratischen Gesinnung des Sokrates keinerlei Zweifel bestünden, sind Wood/Wood genau der gegenteiligen Auffassung: Sokrates habe tatsächlich Sympathien für oligarchische/diktatorische Staatsformen zum Ausdruck gebracht und sei also wirklich alles andere als ein „lupenreiner Demokrat“ gewesen.

Jeder der Kontrahenten suchte nun vor allem in der „Apologie“, aber auch in anderen Schriften nach Textstellen, die, wie er meinte, seine Auffassung bestätigten – und fand sie natürlich auch. So ergab sich schließlich eine Art „Patt“ und jedermann kann sich bis heute aussuchen, welches der beiden Argumentenbündel ihm persönlich überzeugender zu sein scheint.

Mein Vorschlag zur Lösung dieser Frage, dem dann auch meine Mentorin völlig zustimmte, war der folgende: Sokrates war, wie beispielsweise im Dialog „Gorgias“ nachzulesen ist, der festen Überzeugung, dass es die vornehmste Aufgabe einer Staatsführung sei, die Menschen „besser“ zu machen, das heißt, aus ungerechten, zügellosen und unvernünftigen Menschen gerechte, besonnene und vernünftige Staatsbürger zu machen. Sokrates beurteilte die verschiedenen Staatsformen also nicht politisch (pro Demokratie und contra Oligarchie oder umgekehrt) sondern moralisch (welche Staatsform macht die Menschen im vorgenannten Sinne „besser“ und welche tut das nicht). Und so kam er dann dazu, auch der Demokratie diesbezügliche Defizite zu bescheinigen, zum Beispiel das „Sich gefällig machen“ der Politiker (wie im Dialog „Gorgias“ beschrieben), und auf der anderen Seite der Oligarchie durchaus gewisse Vorteile zuzusprechen wie beispielsweise die dort herrschende Gesetzestreue (wie im Dialog „Kriton“ nachzulesen). Diese Aussagen wurden dann später bisweilen als Hinweis auf eine antidemokratische Einstellung des Sokrates gewertet (so also auch von Wood/Wood), sind aber zunächst einmal nur als Beurteilungen anzusehen, die sich ganz folgerichtig aus seinen zuvor beschriebenen moralischen Anforderungen an eine gute Staatsführung ergeben. Der Frage, inwieweit seine späteren kritischen Anmerkungen zur Demokratie wirklich als „sokratisch“ oder aber doch eher als „platonisch“ anzusehen sind, möchte ich hier nicht weiter nachgehen. Es schien mir nun damals sehr wichtig zu sein, dass man sich zunächst einmal in die Zeit, in der Sokrates wirkte, zumindest ansatzweise hineinzuversetzen versucht, wenn man seine Einstellung zu „Demokratie“ und „Oligarchie“ besser verstehen will und ich habe das seinerzeit in diesem Seminar dadurch zu erreichen versucht, dass ich in Form einer grafisch gestalteten Zeittafel die politischen Veränderungen dargestellt habe, die zu Lebzeiten des Sokrates stattgefunden haben (was dort dann einige Aufmerksamkeit erregte, weil das Arbeiten mit grafischen oder bildlichen Darstellungen in einem philosophischen Seminar wohl eher die Ausnahme war). Dieser Zeitabschnitt, den ich also derartig präsentierte, war in Athen nun nicht etwa durch eine dauerhafte, stabile Demokratie geprägt, (in die im Übrigen nur männliche Athener „Vollbürger“ einbezogen waren), sondern er war vielmehr gekennzeichnet durch eine mehrfache Unterbrechung der demokratischen Regierungsform durch eine Herrschaft von Oligarchen – zum Beispiel in Form des despotischen „Rats der Vierhundert“ oder der mörderischen „Herrschaft der Dreißig“. Dabei traten solche Bewegungen (weg von der Demokratie und wieder zu ihr hin) oft als Folge von gewonnenen oder verlorenen Schlachten oder Kriegen des Athener Stadtstaates auf.

Wenn wir heute ehrfurchtsvoll vom alten Athen als der „Wiege der Demokratie“ sprechen, dann müssen wir uns also dessen bewusst sein, dass diese Wiege nicht friedlich und von einem lauen Lüftchen umweht vor sich hin schaukelte und so eine optimale Entwicklung des von ihr Beschützten gewährleisten konnte, sondern dass sie von Stürmen kräftig gerüttelt und einige Male auch umgeworfen wurde – aber sie wurde, und das ist wichtig, schließlich dann doch immer wieder aufgerichtet. Man sollte aber bedenken, dass es eine weitere „Wiege der Demokratie“ gibt, die zwar keine zeitliche Priorität in Anspruch nehmen kann, die dafür aber durch eine Jahrhunderte lange Stabilität gekennzeichnet ist: England.

Im dritten Sokrates-Seminar, an dem ich teilnahm und das wieder von Frau Gerigs betreut wurde, beschäftigten wir uns mit dem Dialog „Theaitetos“. Ich muss nun leider gestehen, dass ich mich an dieses Seminar und diesen Dialog nur noch sehr schwach erinnern kann – vielleicht auch deshalb, weil in ihm die so schwierige und schwer zu beantwortende philosophische Kernfrage „Was kann ich wissen?“ (Kant) behandelt wurde. Auch habe ich keine Hausarbeit in diesem Seminar angefertigt, so dass ich also auch keinerlei persönlichen Unterlagen zu diesem Thema besitze. Daher kann ich hier also leider auf diesen Dialog nicht näher eingehen. Zwei Punkte möchte ich allerdings doch noch anfügen, die mir beim nachträglichen, abermaligen Lesen des Textes erwähnenswert erschienen:

Zum einen ist es nicht überraschend, dass Sokrates, nachdem er versucht hat, mittels seiner (an dieser Stelle auch näher erläuterten) „Hebammenmethode“ auf die oben genannte so zentrale Frage eine Antwort zu finden, schließlich - wieder einmal - eingestehen muss: Alles was wir hier diskutiert haben, hat sich als zur Lösung unseres Problems ungeeignet herausgestellt. Wir konnten keine gültigen Antworten auf unsere Fragen finden, aber unser Gespräch war dennoch nicht nutzlos, denn wir haben gelernt, mit all diesen Fragen besser umzugehen…

Zum anderen muss ich hier schon einmal vorausschicken, dass mich das Thema „Geist und Gehirn“ während meines weiteren Studiums besonders interessiert und beschäftigt hat. In diesem Kontext ist mir dann im Dialog „Theaitetos“ eine Textstelle sozusagen „ins Auge gesprungen“, in der Sokrates die Sinneswahrnehmung „Sehen“ folgendermaßen beschreibt:

„ … es wird uns deutlich werden, dass Schwarz und Weiß und jede andere Farbe aus dem Zusammenstoßen der Augen mit der zu ihr gehörigen Bewegung entstanden ist und wovon wir jedesmal sagen, es sei Farbe, das wird weder das Anstoßende sein noch das Angestoßene, sondern etwas dazwischen für jeden besonders Entstandenes. Oder möchtest du behaupten, daß jede Farbe, ebenso wie sie dir erscheint, auch einem Hunde oder irgendeinem anderen Tiere erscheinen werde?“

Das ist, so meine ich, eine sehr weit an unsere heutigen Vorstellungen vom Farbensehen heranreichende Vorstellung. Weder die vom Gegenstand ausgehenden elektromagnetischen Wellen („das Anstoßende“) noch die im Auge vorhandenen Sehzellen und der gesamte „Sehapparat“ („das Angestoßene“) sondern das durch die Interaktion beider „Entstandene“ führt zur individuell unterschiedlichen Farbempfindung und ob Tiere eine Farbe genau so empfinden wie wir, können wir heute überhaupt nicht sagen. Es scheint mir wirklich bemerkenswert zu sein, dass Sokrates solche Vorstellungen bereits vor über 2000 Jahren entwickelt hat!

Ich nahm während meines Studiums dann noch an einem viertem „Plato-Seminar teil, das sich mit dem Dialog „Sophistes“ beschäftigte. Dieses Seminar wurde dann allerdings nicht mehr von Frau Prof. Gerigs betreut, sondern von einem jüngeren wissenschaftlichen Mitarbeiter aus ihrem Arbeitskreis, Herrn Dr. Kutscher. Dieser machte anfangs im Gegensatz zur sehr empathischen Frau Gerigs einen eher kühl-distanzierten Eindruck, es zeigte sich dann aber – und zwar hier wie auch in späteren Kant-Seminaren – dass er die hoch einzuschätzende Fähigkeit besaß, relativ komplizierte Zusammenhänge sehr gut erklären zu können. In diesem Dialog standen also die Sophisten, die sozusagen Konkurrenten des Sokrates waren, im Mittelpunkt der Betrachtungen. Konkurrenten deswegen, weil auch sie auf der Agora das Publikum ansprachen und danach in vielfältiger Weise (so auch in Fächern wie etwa Logik und Rhetorik) zu belehren versuchten - freilich in anderer Weise als Sokrates und in der Regel gegen Bezahlung.

Im Folgenden soll nun nicht im Einzelnen auf Platos Dialog direkt eingegangen werden, in dem ja nach einer bestimmten logischen Methode (der Dihairesis) die Antwort auf die Frage „Was ist ein Sophist?“ Schritt für Schritt erarbeitet wird, sondern es soll vielmehr versucht werden, wenigstens eine Facette aus dem schillernden Gesamtbild, das dieser Personenkreis bietet, zu beleuchten und durch Beispiele anschaulich zu machen.

Als Personen, die mit ihrer Lehrtätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienten, waren natürlich auch die Sophisten darauf angewiesen, Werbung in eigener Sache zu machen. Und worin konnte nun eine solche Werbung, die das Publikum von ihrer Kompetenz in Logik und Rhetorik überzeugen sollte, bestehen? Natürlich in einer Darbietung, die die Zuhörenden in ehrfürchtiges Staunen versetzte. Für eine solche Präsentation eigneten sich ganz zweifellos die sogenannten Paradoxien besonders gut. Anstatt diesen Begriff hier nun aber weiter zu erläutern, möchte ich ihn ganz einfach anhand von zwei offenbar schon in der Antike bekannten Beispielen erklären:

Im ersten dieser Beispiele, das auf den antiken Philosophiehistoriker Diogenes Laertios zurückgehen soll, hat der berühmte Sophist Protagoras seinen Schüler Euathlos in den Rechtswissenschaften und in Rhetorik unterrichtet und nun soll nach Abschluss der Ausbildung das Honorar an ihn gezahlt werden. Protagoras vereinbart aber anstelle dessen, dass Euathlos zunächst einmal seinen ersten Prozess vor Gericht führen soll und dass darauf dann die folgende Abmachung gelten soll: Falls Euathlos seinen ersten Prozess gewinnt, soll er das Honorar bezahlen (denn die Ausbildung war dann ja ganz offenbar gut), falls er aber seinen ersten Prozess verlieren sollte, braucht er das Honorar nicht zu zahlen (denn die Ausbildung war dann ja wohl eher ungenügend). Kaum haben aber nun die beiden dieses Vorgehen vereinbart, zieht Protagoras vor Gericht und verklagte seinen Schüler auf Begleichung des ihm zustehenden Honorars…

Muss Euathlos nun das Honorar bezahlen oder nicht? Wenn das Gericht ihn zur Zahlung verpflichtet, dann hat er ja offenbar seinen ersten Prozess verloren und müsste eigentlich das Honorar nicht bezahlen, wenn andererseits das Gericht entscheidet, dass er nicht bezahlen muss, dann hat er ja seinen ersten Prozess gewonnen und er müsste vereinbarungsgemäß das Lehrgeld bezahlen…

Das zweite Beispiel, das ich hier anführen möchte, lässt zwar ebenfalls den logischen Aufbau einer solchen Paradoxie erkennen, nur scheint mir sein Inhalt in diesem Fall etwas einfacher, eingängiger und damit auch leichter verständlich zu sein. Diese kleine Geschichte habe ich zwar seit meiner Studienzeit gut in Erinnerung behalten (und sie auch einige Male weitererzählt), kann aber die Quelle trotz einer kürzlich durchgeführten – allerdings begrenzten - Recherche leider nicht mehr angeben. Hier also der Inhalt dieser kurzen Geschichte:

Einem Tyrannen, der über eine in Süditalien liegende griechische Kolonie herrschte, wurde eines Tages ein Schwerverbrecher vorgeführt und daraufhin von ihm zum Tode durch Erhängen verurteilt. In einem Anflug von Großmut (oder Zynismus?) sagte er dann aber doch noch zu dem Verurteilten: „Wenn du mir morgen vor deiner Hinrichtung einen Satz sagst, der unbezweifelbar wahr ist, will ich dich begnadigen und dir die Strafe erlassen“. Am nächsten Morgen wurde ihm der Deliquent wieder vorgeführt und nachdem ihn der Despot aufgefordert hatte, einen derartigen Satz zu sagen, antwortete er: „Ich werde gehenkt“. Da entstand große Verwirrung unter den Anwesenden, denn wenn der Verurteilte gehenkt würde, hätte er die Wahrheit gesagt und dürfte gar nicht gehenkt werden, wenn er aber freigelassen würde, wäre der von ihm ausgesprochene Satz nicht wahr gewesen und er hätte gehängt werden müssen.

Man kann sich gut vorstellen, dass derartige von den Sophisten erzählte Geschichten auf das umstehende Publikum großen Eindruck gemacht haben müssen und dies wird dann wohl auch dazu geführt haben, dass sich neue Lernwillige (oder auch: Kunden) den Erzählern solcher kuriosen Geschichten angeschlossen haben.

Mit dem grundsätzlichen Prinzip solcher Paradoxien haben sich natürlich immer wieder Logiker beschäftigt und dann auch verschiedene Erklärungen angeboten, auf die ich bei allem Respekt vor diesen Leistungen hier allerdings doch nicht eingehen werde. Ich möchte es vielmehr lieber bei einem Staunen belassen, einem Staunen über die geistige Akrobatik, die Menschen schon vor weit über zweitausend Jahren zu betreiben fähig waren – zumindest auf der Agora von Athen…

Bevor ich nun das Kapitel „Plato und Sokrates“ abschließe, möchte ich doch noch kurz auf ein weiteres von Plato verfasstes Werk zu sprechen kommen (das manche als ein Meisterwerk der Weltliteratur ansehen): Das „Symposion“ oder das „Gastmahl“. Dieser Dialog wurde während meiner Studienzeit zwar nicht in einem Seminar behandelt, ich habe ihn aber seinerzeit begeistert gelesen und eine kleine Geschichte hieraus in einem anderen Seminar an passender Stelle auch vorgetragen, denn genau so wie die zuvor erwähnten Paradoxien zeigten, dass in der griechischen Antike logische geistige Seiltänze praktiziert und dargeboten wurden, so soll jene kleine Geschichte deutlich machen, dass hier dazu auch Fantasie, Witz und Skurrilität durchaus zu Hause waren.

Die Rahmenhandlung des „Symposions“, in die diese Erzählung eingebettet ist, sei hier nur ganz kurz skizziert: Einige der Honoratioren von Athen pflegten sich öfters im Hause eines der Mitglieder dieses Kreises zu einem Gastmahl zu treffen, um den Abend hindurch bei gutem Essen und viel Wein über ein dann zu bestimmendes Thema zu diskutieren. In diesen Fall traf man sich – und auch Sokrates war dabei, kam allerdings etwas zu spät - im Haus eines gewissen Agathon. Das Thema, das hier besprochen werden sollte, war „Lob des Eros und der Liebe“. Zu Beginn des Abends verabredete man nun, nicht allzu viel Wein zu trinken, denn manche der Gäste hatten, so sagten sie, noch einem Brummschädel vom Vorabend.

Die beiden ersten Reden zu diesem Thema, auf die ich hier allerdings nicht eingehen werde, hielten der uns bereits bekannte Phaidros und ein gewisser Pausanias, ein enger Freund des Gastgebers. Dann war eigentlich der Komödiendichter Aristophanes an der Reihe, da der aber gerade dann einen heftigen Schluckauf hatte, wurde die Rede des Arztes Eryximachos vorgezogen. Daraufhin kam Aristophanes aber doch noch an die Reihe und erzählte die folgende Geschichte, in der er den Ursprung des Phänomens „Liebe“ sehr eigenwillig erklärt:

In grauer Vorzeit gab es neben den „normalen“ Menschen, die den heutigen ähnelten (und die dann aber im weiteren Fortgang der Erzählung keine Rolle mehr spielen) auch eine Art Urmenschen, die man auch als „mannweibliche“ Menschen bezeichnen kann. Diese sahen nun völlig anders aus als die heutigen Menschen: Sie besaßen nämlich eine kugelförmige Gestalt, die zehn Ausstülpungen aufwies, acht längliche, das waren die vier Arme und die vier Beine, sowie zwei rundliche, das waren die Köpfe. Sie glichen also, wenn man so will, großen tentakelbestückten Amöben. Diese Urmenschen waren glücklich und zufrieden und wie das so zu sein pflegt, wurden sie dadurch auch ein wenig übermütig: Sie kugelten sozusagen wie dreidimensionale Radschläger durch die Gegend und trieben allerlei Unsinn. Und nicht nur das, sie versuchten auch, in den Wohnsitz der Götter vorzudringen und diese dort anzugreifen.

Die Götter beratschlagten nun, was sie mit diesen übermütigen „Kugelmenschen“ anfangen sollten: Alle zu töten wäre nicht sinnvoll gewesen, denn dann hätten sie auf die Opfer, die ihnen von diesen immer noch dargebracht wurden, verzichten müssen. Da kam nun dem Zeus eine geniale Idee: Er wollte die Kugelmenschen dadurch schwächen, dass er sie in zwei Hälften zerschnitt.

Das schien sehr vorteilhaft zu sein, denn hierdurch blieben den Göttern ihre Opferspender nicht nur erhalten, sondern deren Zahl verdoppelte sich sogar. Gesagt, getan und so schnitt Zeus also alle Kugelmenschen entzwei (wörtliches Zitat aus dem „Symposion“: „wie man Früchte zerschneidet, um sie einzumachen“). Apollo hatte dann die Aufgabe, den halbierten Menschen, die also nur noch zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf besaßen, die Köpfe so zu drehen, dass sie auf die Schnittfläche blickten und damit die Folgen ihres frevelhaften Verhaltens direkt vor Augen hatten. Außerdem zog er die Haut über die Schnittstellen und verknotete sie dort, was wir heute noch in Form des Bauchnabels erkennen können. Die derartig veränderten, sich nach ihrem ursprünglichen Zustand so sehr zurücksehnenden Halbmenschen umarmten sich nun immer wieder, um die alte Kugelform zumindest annähernd wiederherzustellen. Sie starben aber schließlich mehr und mehr, weil sie in diesem Zustand zu keiner vernünftigen Aktivität mehr fähig waren.

Um nun die Menschen, für die also offensichtlich dieses „wieder eins werden“ so überaus wichtig war, nicht aussterben zu lassen, musste etwas geschehen und so kam Zeus auf die Idee, die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile der halbierten Menschen, die sich bis dahin auf der Rückseite ihres Körpers befunden hatten, auf die innere, dem Partner zugewandte Seite zu verlegen. Diese Operation erwies sich als voller Erfolg: Das “Sich-in-Liebeumarmen“, das also genau besehen nur die Sehnsucht der Menschen nach ihrer ursprünglichen kugeligen Gestalt ausdrückte, wurde nun sehr erfolgreich mit einem Vorgang verbunden, der das Aussterben der Menschen nachhaltig verhinderte.

So weit die Geschichte des Aristophanes, in der das Wesen und die Entstehung der menschlichen Liebe auf eine sehr ungewöhnliche Weise erklärt wird. Wir heutigen Menschen sollten uns aber doch noch eine von Aristophanes übermittelte Warnung des Zeus zu Herzen nehmen, die er aussprach, nachdem er die Urmenschen geteilt hatte: Wenn nämlich – so Zeus – die zweigeteilten Menschen immer noch keine Ruhe geben und gegen die Götter freveln sollten, dann werde er kommen und sie nochmals teilen und - wörtliches Zitat - „sie mögen dann auf einem Beine fortkommen wie Kreisel“.

Bevor ich nun mit dieser fantastischen Erzählung das „Plato/Sokrates-Kapitel“ abschließe, möchte ich aber hierzu doch noch die folgende Bemerkung machen: Die zeitgenössischen Autoren von Fantasy-Geschichten zeigen ja heute schon recht viel Erfindungsgeist, aber sie werden sich schon ganz schön anstrengen müssen, wenn sie in dieser Hinsicht künftig eine solche über 2000 Jahre (!) alte Geschichte doch noch toppen wollen!

Von einem, der auszog, um im Alter noch weise  zu werden

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