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Der Chinese

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Inhaltsverzeichnis

Hinter dem Hause im Hofe hielten Carlos und Nicolás Tiere, Haustiere und Tiere der Pampa. Oft machten sie Streifzüge und kehrten mit einem Fang zurück, einem jungen Strauß, einer Kropfeidechse, einem Gürteltier; sie stellten Fallen im Hof auf und fingen Beutelratten. Aber über die neuen Tiere vernachlässigten und vergaßen sie die alten. Einmal brachen die meisten aus. Ein junges Reh hatte oben im Salon übernachtet, eine Kropfeidechse war ins Bett einer Magd gekrochen. Da wurde Carlos und Nicolás gedroht, die Tiere müßten fort, wenn sie sich nicht besser um sie kümmerten.

Am nächsten Tag waren die Knaben, wie gewöhnlich, hinaus in die Pampa geritten. Nach einer Stunde scharfen Galopps wandten sie die Ponnys nach einem Ombú, um Rast zu halten; es war ein sehr heißer Tag, die Pferde ließen die Köpfe hängen und bewegten die Ohren müde nach den Seiten; die Sättel lagen beinahe auf ihren Hälsen. Als die Knaben sich dem Baum näherten, sahen sie dort einen seltsamen, kleinen, dicken Mann auf der Erde sitzen, den Kopf gegen den Stamm gelehnt. Statt eines Rockes oder Ponchos trug er einen ganz eigentümlichen Kittel, der ihm bis an die Kniee reichte; neben ihm lag ein breitrandiger Strohhut und ein rotes Bündel. Gleich nachher erkannten sie jedoch, daß es kein Mann war, sondern eine Frau in Männertracht; denn es trug einen langen, dünnen Zopf.

„Das ist komisch“, sagte Carlos und lachte.

„Sehr komisch“, sagte Nicolás und lachte auch.

Sie ritten ganz nah an den Baum heran: es war keine Frau.

„Ein Chinese!“ sagte Carlos und erbleichte.

„Ein Chinese!“ sagte Nicolás und erbleichte auch.

Der Kopf, der Kittel und der Hut waren ganz so, wie sie es bei Chinesen auf Bilderbogen gesehen hatten.

Der Chinese, der geschlafen hatte, war erwacht und sah die Knaben ohne merkliches Erstaunen an.

Sie wollten kehrtmachen und fliehen, denn sie hatten gehört, diese Menschen seien wild und blutdürstig wie die Indianer des Gran Chaco. Aber sie ermannten sich zugleich, denn keiner wollte vor dem anderen feig erscheinen; und dazu blinzelte und lächelte der Chinese so gemütlich und Vertrauen erweckend, daß Flucht den Knaben doppelte Feigheit erschien. Vielleicht ist es ein zahmer Chinese, dachten sie.

„Was schaut ihr mich so an, ihr Büblein?“ fragte er endlich. Seine Stimme klang sanft; sie hatte nichts von einem wilden Indianergeheul.

„Wir schauen dich nicht an“, sagte Carlos und starrte fortwährend auf ihn.

„Seht mir diese Knaben!“ Der Chinese lachte und schlug sich auf die dicken Schenkel; das Gesicht, das er dabei machte, war so komisch, daß auch Carlos und Nicolás in Lachen ausbrachen.

„Was hast du in deinem Bündel?“ fragte Carlos nach einer Weile.

„Zwei Hemden und eine Hose; ich bin auf Reisen.“

„Weite Reisen?“

„Ich gehe von Gut zu Gut und suche mir eine Stelle als Koch. Meine Herrschaft hat ihr Gut verkauft und ist ausgezogen; da bin ich auch ausgezogen. Könnt ihr einen Koch bei euch brauchen, ihr Buben?“

„Nein“, sagte Carlos. Gleich darauf aber durchzuckte ihn ein Gedanke: „Wir können dir aber eine andere Stelle verschaffen.“

„So. Eine andere Stelle? Und die wäre?“

„Du könntest unsere Tiere pflegen, denn sonst müssen sie fort. Ich will Mama sagen, daß man dir so viel bezahlt wie einem Koch. Kannst du Tiere pflegen?“

„Gewiß; aber was für Tiere sind’s, ihr lieben kleinen Knaben?“

„Verschiedene; wenn du mit uns nach Hause kommst, wirst du sie sehen.“

Der Chinese war damit einverstanden; die Kinder hielten kurze Rast, rückten dann die Sättel zurecht, schnallten die Gurte fester und stiegen zu Pferd. Der Chinese saß bei Nicolás hinten auf.

„Wie ist denn dein Name?“ fragte Carlos; „denn wenn wir jetzt zu Mama gehen, um dir die Stelle zu verschaffen, müssen wir wissen, wie du heißt.“

Der Chinese nannte einen Namen, der sehr seltsam klang. Die Knaben brachten immer nur Bichuante heraus.

„Nennt mich nur immerhin Bichuante!“ meinte der Chinese.

Mit stark klopfendem Herzen ritten Carlos und Nicolás in das Gut ein. Von irgendwoher erschien José, der Knecht, und starrte diesem seltsamen Aufzug mit offenem Munde nach. Die Knaben ritten bis zur Mitteltür des Hauses. Carlos sprang ab und rannte hinauf zu seiner Mutter.

Sie saß im Musikzimmer am Klavier. „Mama,“ schrie er, „wir haben einen Chinesen mitgebracht, aber einen zahmen Chinesen!“

„Was habt ihr mitgebracht?“ Sie unterbrach ihr Spiel.

„Einen ganz zahmen Chinesen, Mama, der Bichuante heißt.“

„Was redest du da für Unsinn? Was soll denn der Mann?“

„Er soll unsere Tiere pflegen, Mama.“

Carlos faßte seine Mutter am Arm, zog sie ungestüm nach dem Fenster und zeigte nach unten: „Dort ist er.“

Wahrhaftig: es war ein Chinese. „Das ist schon euer verrücktester Einfall!“ sagte sie. Aber nachher ward ihnen gestattet, den Chinesen zu behalten.

Er trat sofort seinen Dienst an. Ställe mußten ausgebessert und gründlich gereinigt werden. Er stieg in den Taubenschlag hinauf und wirtschaftete. Weiß gesprenkelt und mit Federn bedeckt, kam er wieder herunter. Er grub für das Wasserschwein einen regelrechten Teich; bisher hatte es sich mit einem Tümpel begnügen müssen, der nach einer halben Stunde immer wieder ausgetrocknet war. Vor allem war es eine Freude, zu sehen, wie sanft er mit den Tieren umging. Die Kaninchen schnupperten ihm durch die Fenster ihrer Kisten entgegen, sobald er sich zeigte; nicht lange, und die Tauben setzten sich ihm auf die Schultern, das Reh lief ihm nach. Nicolás glaubte sogar zu sehen, wie das Gürteltier ihn freundlich anblinzelte. Die Knaben liebten den Chinesen, besonders Nicolás.

Von den Dienstboten hielt sich der Bichuante möglichst fern, denn sie lachten über ihn und spielten ihm auch manchmal einen Schabernack. Namentlich aber fürchtete er José. Als er einmal an der Küche vorbeiging, hörte er, wie der Knecht dem Gärtner sagte, er wolle den Chinesen umbringen (José haßte ihn, weil er fand, daß die Tierpflege eine zu leichte Arbeit sei). Der Bichuante erbebte, ließ aber nie ein Wort darüber verlauten. Nur wenn er zu Bett ging (seine Kammer lag neben der Josés), verriegelte er die Tür, schlief aber trotzdem immer gleich ein.

Er kümmerte sich aber gar nicht nur um die Tiere auf dem Hof. Er striegelte und sattelte die Ponnys, er putzte ihr Zaumzeug; einmal wusch er sogar den Schecken des Verwalters. Als José das sah, war er gleich darauf bedacht, ihm nach Kräften von seiner Arbeit aufzubürden, und seinem Beispiel folgten die anderen Dienstboten. Der Chinese verrichtete alles, still, ohne zu klagen.

Manchmal, wenn er sich freimachen konnte, saß er gegen Sonnenuntergang mit den Knaben auf der Weide im Grase. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, er pflückte eine Blume, besah sie aufmerksam und murmelte leise etwas vor sich hin. Carlos und Nicolás rückten ganz nah an ihn heran, um zu hören, was er sage. Dann baten sie: „Sprich jetzt mal ganz laut auf Chinesisch.“ Der Bichuante zog die dünnen Augenbrauen in die Höhe, bewegte den Kopf langsam hin und her und sagte einige Sätze, worüber die Kinder laut auflachen mußten.

„So, jetzt sprich wieder die christliche Sprache“, sagte Carlos; denn er wußte von den Gauchos: alles, was nicht spanisch ist, ist auch nicht christlich. Dann mußte der Bichuante Purzelbäume schlagen. Das konnte er wie kein anderer. Nicolás umarmte ihn und gab ihm lautschallende Küsse auf beide Backen. Aus Dankbarkeit, denn den ganzen Tag hatte er sich auf diese Purzelbäume gefreut. Und dann saßen sie wieder im Gras beieinander.

Der Bichuante stand auf und schlich auf den Zehenspitzen einem Schmetterling nach; ohne eigentlichen Grund, aus unbegreiflicher Freude. Der Schmetterling setzte sich auf eine Blume, klappte die Flügel auf und zu; aber sobald der Bichuante sich genähert hatte, flog er wieder auf und setzte sich auf eine andere Blume. Der Chinese blieb in behutsamer Entfernung von ihm stehen und ahmte mit Daumen und Zeigefinger den Flügelschlag nach, ganz erstaunt, als hätte er nie in seinem Leben einen Schmetterling auf einer Blume gesehen.


„Wie merkwürdig ist doch so ein Chinese!“ sagte Nicolás zu Carlos.

Einmal hatte Nicolás, ohne etwas Böses zu denken, den Bichuante am Zopf gezogen; da hatte ihn der Chinese sehr ernst und traurig angeschaut und gesagt: „Tu’ das ja nie wieder, mein Liebling!“ Nicolás erschrak. Auch freute es den Chinesen nicht, wenn die Kinder den Ponnys Zöpfe flochten, wie es am Samstagabend geschah, damit die Pferde gewellte Mähnen hätten, wenn man am Sonntag zu den Wettrennen der Gauchos ritt. Merkwürdig, dachte Nicolás; er fand manches an dem guten Bichuante merkwürdig ...

Die Eltern der Knaben waren auf einige Zeit nach Buenos Aires verreist. Die Kinder blieben unter der Obhut des Verwalters, eines sehr strengen Franzosen, der selbst einmal ein großes Gut gehabt hatte. Er kümmerte sich äußerst gewissenhaft um die Wirtschaft und alle fürchteten ihn. Der Bichuante hatte mehrmals in der Küche mithelfen müssen und da war sein Kochtalent in vollem Glanz sichtbar geworden. Der Franzose hielt auf gute Küche. Er entließ ohne weiteres den alten Koch und erhob den Chinesen auf diesen Posten. Der Bichuante erhielt einen weißen Rock, eine weiße Schürze und eine weiße Mütze und war mit einem Schlag eine Respektsperson unter den übrigen Dienstboten. Das war ein Triumph für Carlos und Nicolás, und ihre Dankbarkeit und Verehrung für den Verwalter kannte keine Grenzen.

Sechs Wochen waren vergangen; es war an einem außergewöhnlich heißen Tage, der Chinese stand in der Küche und bereitete den Teig für die Nachtischpasteten. Carlos und Nicolás schauten ihm zu. Weil die Hitze geradezu unerträglich war und der Chinese, seit er seine neue Stelle bekleidete, viel dicker geworden war, beschloß er, um sich Luft zu machen, Rock und Hemd abzulegen. Carlos und Nicolás halfen ihm dabei unter Freudengeschrei.

„Nie hätte ich geglaubt, daß du einen so dicken Bauch hast“, sagte Carlos und klopfte ihm auf den Leib.

Aber ein unendlicher Jubel brach aus, als der Bichuante, um sich ein Späßlein zu erlauben, zwei Hände voll Teig nahm und, sich ein wenig nach hinten beugend, ihn auf seinem nackten Leib zu kneten begann. „Bravo!“ riefen die Knaben, umtanzten ihn und schüttelten sich vor Lachen. Und der Chinese stand da, von Fliegen umsummt, grinste und knetete weiter. Dann wurde der Teig auf dem Tisch ausgerollt und die Pasteten geformt und gefüllt.

„Das ist meine Pastete“, sagte Carlos und machte in die größte ein Loch mit dem Zeigefinger. „Und die ist meine“, sagte Nicolás und machte ein Loch in die zweitgrößte. Dann wurden die Pasteten in den Ofen geschoben.

Einige Stunden später saßen Carlos und Nicolás mit dem Verwalter bei Tisch. Die Suppe und der Puchero, die Carbonado und der Asado wurden gebracht; zum Schluß kamen die Pasteten ...

„Ach,“ sagte der Verwalter, „die Pasteten sind heute wirklich ganz ausgezeichnet!“

Carlos würgte, denn er hatte den Mund voll und wollte antworten. „Warum sind sie so gut?“ sagte er, mit vollen Backen kauend; „weil der Bichuante den Teig auf seinem nackten Bauch geknetet hat. So macht man’s in seiner Heimat und dann werden die Pasteten sehr gut.“

„Was hat er getan?“ fragte der Verwalter betroffen.

„Er hat Rock und Hemd ausgezogen und hat den Teig auf seinem nackten Bauch gerieben“, sagte Carlos arglos; und er sprang auf, beugte sich etwas rückwärts und ahmte den Chinesen nach. Der Verwalter gab keine Antwort ... Er schob seinen Teller weg und drückte auf den Knopf einer Klingel ...

Eine Viertelstunde später hingen Carlos und Nicolás weinend am Hals des Chinesen; der Bichuante mußte fort. Die Knaben wußten: der Verwalter hat sein letztes Wort gesprochen.

„Warum hast du das von den Pasteten erzählt, Carlos?“ heulte Nicolás.

„Ich wußte doch nicht ...!“ Carlos konnte nicht weiter. Er drückte sein Gesicht auf den Hals des Chinesen, der ganz naß von Tränen war.

„Der Bichuante muß jetzt fort ...!“ Nicolás’ Stimme schnappte über, er gluckste und hustete.

„Geh’ nicht fort, Bichuante!“ heulte Carlos.

„Weinet nicht, ihr Buben,“ sagte der Chinese, der seine Rührung niederzwang; „weinet nicht, seid Männer!“

Carlos und Nicolás trockneten sich die Augen und schneuzten sich. Sie sahen einander an, ein Beben ging über ihre Züge und wieder brachen sie in Tränen aus.

Am nächsten Morgen war der Aufbruch.

Carlos und Nicolás sattelten ihre Ponnys; der Chinese saß bei Nicolás hinten auf. Man ritt in der Richtung des Ombús; dort wollte man Abschied nehmen, denn dort hatte man sich einst gefunden. Auf des Chinesen Gesicht lag ein ruhiges, resigniertes Lächeln. Carlos und Nicolás weinten leise. Der Bichuante redete ihnen zu: „Ruhig, ruhig, ihr Buben, seid Männer!“

Als sie vor dem Ombú angekommen waren, stieg der Chinese vom Pferd. Er umarmte Carlos und Nicolás; auch sie schlangen ihre Arme um seinen Hals und küßten ihn auf den Mund.

Dann, wie auf Verabredung, wandten sie die Pferde (denn sie wollten als Helden scheiden) und ritten im Galopp, laut heulend, nach dem Gut zurück.

Carlos und Nicolás

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