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Das Brüderchen
ОглавлениеAm Morgen waren Carlos und Nicolás mit ihren Eltern aus Buenos Aires zurückgekehrt, es war Nachmittag, sie ritten in der Pampa spazieren. Carlos hielt im Arm einen kleinen weißen Seidenpintscher, den er vor vierzehn Tagen geschenkt bekommen hatte.
Sie kamen bis vor die einsame Hütte des Puesteros Eusebio und sahen sein sechsjähriges Söhnchen Miguelito, das nahe bei der Schwelle stand und eine niedrige Holzwiege wiegte, in der ein Säugling lag. Er lag festeingewickelt, konnte weder Arme noch Beine bewegen und schrie.
Der Pintscher spitzte die Ohren nach der Wiege und bellte feindselig.
„Ist das dein Brüderchen?“ fragte Carlos ganz erstaunt.
„Ja!“ sagte Miguelito und sah mit leuchtenden Augen nach dem Pintscher.
„Seit wann hast du dieses Brüderchen?“ fragten Carlos und Nicolás zugleich.
„Weiß nicht“, antwortete Miguelito. „Vor einigen Wochen brachte mich abends der Vater zu Don Ignacio, und als ich am Morgen wieder hier war, war das Brüderchen da.“
Nicolás ritt ganz nahe an die Wiege heran, um sich das Kind genau zu betrachten.
Miguelito blickte unverwandt den Pintscher an und fragte: „Seit wann habt ihr dieses Hündchen?“
„Ich habe es von Papa geschenkt bekommen“, antwortete Carlos.
„Wie heißt dein Brüderchen?“ fragte er nach einer Weile.
„Pepito.“
Was ist das für ein schönes Brüderchen! sagte sich Carlos, und es entstand ein Gedanke in ihm, den er aber kaum auszudenken wagte.
Doch er ließ ihm keine Ruhe und zaghaft fragte er: „Gefällt dir mein Hündchen?“
„Ja!“ sagte Miguelito und war ganz verklärt.
„Er heißt Blanco“, antwortete Carlos, „und wenn du seine Wolle berührst, ist sie wie Seide. Da, fühle doch!“
Und er beugte sich herab und hielt ihm das Hündchen hin: „Ist das nicht schön?“
„Sehr schön!“ erwiderte Miguelito.
Carlos stieg behend vom Pferd und sagte: „Jetzt werde ich dir was zeigen.“
Er bückte sich, streckte den Arm aus und rief: „Hops!“
Blanco sprang über seinen Arm.
„Hops!“ rief Carlos, und Blanco sprang zurück.
Miguelito klatschte selig in die Hände.
„Und jetzt, Blanco, aufwarten!“ befahl Carlos.
Blanco setzte sich auf die Hinterbeine, bewegte die Pfoten und Miguelito jubelte.
„Wenn du mir dein Brüderchen gibst, gebe ich dir mein Hündchen!“ sagte Carlos.
Miguelito war einige Sekunden unschlüssig, dann aber siegte die Versuchung, er ging nach der Wiege und bat Carlos, ihm zu helfen, das Kind herauszuheben.
Darauf bestieg Carlos sein Ponny, und Miguelito und Nicolás reichten ihm Pepito hinauf.
Carlos und Nicolás aber machten, daß sie schnell fortkamen, denn sie fürchteten, den andern würde der Tausch bald reuen.
Carlos hielt das Kind vor sich auf dem Sattel wie ein Bündel, sie ritten im Trab, mußten aber gleich halten, denn es wäre beinahe heruntergefallen.
Sie ritten im Schritt weiter und nach einiger Zeit wollte Nicolás es tragen.
Wieder hielten sie an und Carlos reichte es ihm hinüber, was nicht ohne Lebensgefahr war für den kleinen Pepito.
Nach zehn Minuten beschlossen sie abzusteigen, denn er war nicht leicht zu tragen, außerdem schrie er immerfort aus Leibeskräften.
Carlos sprang vom Pferd, nahm seinem Bruder das Kind ab und legte es sacht auf die Erde.
Darauf pflückten sie zusammen Gräser, machten daraus ein weiches Bett und legten es hinein. So würde es sich beruhigen.
Und wirklich, es dauerte nicht lange und das Kind war eingeschlafen.
Nicolás kniete neben ihm und betrachtete es voller Andacht, er beugte sich ganz nahe herab, um seinen Atem zu hören.
„Kann man wohl die Stelle sehen, wo ihn der Storch gehalten hat?“ fragte er Carlos.
„Niemals!“ antwortete Carlos, „denn da müßte er ihm ja wehe getan haben! Außerdem ist es gar nicht gesagt, daß ihn der Storch gebracht hat. Zenobia hat ihr Baby in einem Eimer gefunden, als sie aus der Zisterne Wasser schöpfte.“
„Aber da hat doch alles gelacht in der Küche, wie sie das erzählte“, erwiderte Nicolás.
„Vielleicht hat sie gelogen“, meinte nachdenklich Carlos. „Aber das weiß ich, man findet ganz sicher die Kinder in den Lagunen, und die bringen dann gewöhnlich die Störche. Auch sind sie manchmal in Straußeneiern, und man muß die Eier dann zerschlagen.“
Die Knaben schwiegen, Nicolás kaute an einem Grashalm; schließlich fragte er: „Sag mal, Carlos, glaubst du, daß wir vielleicht auch ein Brüderchen finden könnten, wenn wir in der Lagune suchten, oder wir zerschlügen Straußeneier; denn weißt du, Carlos, ich habe vorhin nachgedacht, so ganz ist doch nicht Pepito unser Brüderchen, wie ich dein Bruder bin, und du mein Bruder bist, Miguelito hat ihn doch für den Blanco vertauscht.“
Carlos hatte darüber nicht nachgedacht, aber was ihm sein Bruder eben sagte, leuchtete ihm ein.
„Weißt du was“, sagte er, „reiten wir nach der Lagune und suchen wir — wenn wir nichts finden, suchen wir Straußeneier!“
Nicolás war einverstanden, sie stiegen auf ihre Ponnys und ließen den schlafenden Pepito so lange allein.
Die Lagune war nicht weit; als sie angesprengt kamen, entstand eine Bewegung. Die Kibitze schrieen, die Enten erhoben sich schnatternd, ein paar Störche schlugen mit den Flügeln und klapperten zu den Knaben hinüber. Ein einsamer Reiher nur suchte unbekümmert weiter nach Fröschen.
Carlos sagte zu seinem Bruder: „Höre mal, Nicolás, ich werde in der Lagune suchen und du wirst Straußeneier suchen, so stört keiner den andern!“
Sie stiegen ab, Carlos zog Schuhe und Strümpfe aus und watete im Wasser.
Nach einer Weile rief Nicolás hinüber: „Hast du was gefunden, Carlos?“
Carlos antwortete nicht, er starrte krampfhaft nach dem Grunde, er glaubte, ein kleines Kind zu sehen.
Lange suchten sie, aber sie fanden kein Brüderchen.
Nicolás stand vor zwei zerschlagenen Straußeneiern, von plötzlicher Melancholie befallen.
„Wir haben kein Glück“, sagte Carlos sehr niedergeschlagen, und sie kehrten zu Pepito zurück.
Er schlief nicht mehr, er lag da mit großen offenen Augen, den Blick ernst staunend zum Himmel gerichtet, und um ihn herum weideten Strauße, Hirsche, Rinder und Pferde.
Carlos und Nicolás hoben ihn auf und ritten zum Puestero zurück.
Sie hatten beschlossen, es Miguelito wieder zurückzubringen, weil es doch sein Brüderchen war.
Miguelito kauerte vor der Hütte, der Tausch hatte begonnen, ihn zu reuen, auch hatte ihn Blanco in den Finger gebissen.
Er nahm Pepito in Empfang, Carlos hielt wieder seinen Hund im Arm ...
Kurz nachher kehrten der Vater und die Mutter zurück ...
Die Sonne ging unter, die Herden trieben heim nach ihren Hürden, unter dem Ombú vor der Hütte saß der Gaucho Gonzales und sang laut ein melancholisches Steppenlied.
Carlos und Nicolás schauten der Mutter zu, wie sie ihr Kind säugte.