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3 DIE ERSTEN RUSSEN
ОглавлениеAm Morgen nach der Kapitulation, einem herrlichen Frühlingstag, musste die Kompagnie zum Appell antreten. In erhöhter Position wegen des schräg ansteigenden Geländes, drohte der Batterie-Chef jedem standesrechtliche Erschießung an, der sich unerlaubt von der Truppe entfernen würde. In einem gerade konstatierten Fall wollte er Gnade vor Recht walten lassen, wobei es sich nur um das Streunen eines jungen Soldaten in einem nahen Wäldchen gehandelt hatte. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass der Befehlshaber unserer Heeresgruppe, Generalfeldmarschall Schörner, seinen berüchtigten Namen dem Aufknüpfen vieler Landser verdankte, dafür aber unter anderem später mit zehn Jahren Gefangenschaft in Russland bezahlen musste. Ich wusste aber damals auch nicht, dass man in solch einer Situation laut internationalen Vereinbarungen immer noch Befehlen gehorchen musste.
Des Weiteren erging der Befehl unserer Bereithaltung für Abmarsch mit gesamtem Material, das heißt also Feldküche, Geschütz usw. Danach teilte uns der Chef mit, dass der Russe durch weit ausholende Zangenbewegungen vom Norden und Süden her die in der Tschechoslowakei befindlichen deutschen Truppen einzuschließen versuchte. Wegen unserer südlichen Position mussten wir also schnellstens nach Norden fahren, dann nach Westen einbiegen in der Hoffnung, der Falle zu entgehen, dem Russen ein Schnippchen zu schlagen und zu versuchen in amerikanische Gefangenschaft zu geraten. Wenn dieser Traum in Erfüllung ginge, dann wäre Hoffnung auf anständige Behandlung und auf ein Leben mit Zukunftsaussichten. Die Wahrscheinlichkeit aber, in russische Hände zu fallen, entsetzte und lähmte uns. Das hatte seinen Grund.
Seit der Machtübernahme in 1933 hatte Hitler und seine Partei einen systematischen Propaganda-Feldzug geführt gegen den Bolschewismus, seine internationalen jüdischen Drahtzieher, die slawischen Völker im allgemeinen und die Russen und Polen im Besonderen. Der tiefere Grund hierfür lag in seinem Streben, den deutschen Raum nach Osten auszudehnen und ein wirtschaftlich autarkes Großreich zu schaffen, das durch junge Leute wie ich hätte besiedelt werden sollen (nach einem Sieg wäre mir ein freier Beruf nicht vergönnt gewesen, das ist meine Überzeugung).
Schlimmer noch waren manche Befehle und das Verhalten deutscher militärischer Verbände bei ihrem Vormarsch in Russland, auf dem sie die Behandlung von Kriegsgefangenen auf grobe Weise geschändet hatten. Wir hatten also allen Grund zu fürchten, dass die Russen dies alles uns vergelten würden.
Am Nachmittag des 8. Mai war es dann so weit; von Brünn aus sollten wir erst in nördliche Richtung fahren und dann später nach Westen in Richtung Iglau (Jihlava) abbiegen (siehe Skizze 1B). Aber das war leichter gesagt als getan, denn wir waren nicht die Einzigen auf der Walze. Ein ganzes Heer versuchte dem Russen zu entfliehen. Von meiner erhöhten Position auf unserem Raupenfahrzeug sah ich einen aufgeschreckten Ameisenhaufen, ein unentwirrbares Knäuel von Menschen, Tieren und Fahrzeugen. Hinzu kamen die Kanonen, obwohl der Krieg zu Ende war und wir obendrein keine Munition mehr hatten; auch eine Feldküche befand sich in unserem Gefolge, aber keine Nahrungsmittel. Unser letzter Bissen war ein bisschen Zwieback vor der Abfahrt.
Nach einer zweistündigen Rast in der Nacht erreichten wir am nächsten Morgen, an der Durchgangsstraße gelegen, ein Dörfchen, von dem aus eine Straße nach Westen abzweigte. Auf diese schwenkten wir ein und fuhren gemächlich auf das nächste Dorf zu, Bei dessen Eingang stoppte plötzlich unsere Kolonne, dem ein wahnsinnig aufgeregtes Geschrei folgte: „Russische Panzer! Zurück! Alles umkehren!“ Die Leute in ihren kleinen Kommandofahrzeugen vor uns hatten leicht reden, aber wir mit unserem großen, schwerfälligen Raupenfahrzeug samt Kanone konnten nicht in Sekundenschnelle auf einer engen Landstraße kehren.
Urplötzlich ließen Angst und Panik die Zeit noch langsamer verstreichen. In dieser hellen Aufregung saß kein Griff mehr, die Kanone wurde im Straßengraben im Stich gelassen, endlich! Mit Vollgas suchten wir das Weite auf demselben Weg, den wir gekommen waren. Da sah ich, oh großer Gott, schon den russischen Panzer im Eiltempo hinter uns her kommen. Gerade gelang es uns noch entlang eines stillstehenden Fahrzeugs zu fahren, das die ansonsten durch alte Bäume gesäumte Straße blockierte. Ha, ha, haben wir dem ein Ding gedreht! Aber was macht er jetzt? Kaum zu fassen, eine Schwenkung auf der Stelle machte er und fuhr dann parallel zur Straße auf einem Acker mit hoher Geschwindigkeit weiter, schwenkte wieder auf die Straße ein und hielt in relativ kurzem Abstand hinter uns an. Selbst konnten wir vor dem bereits erwähnten Dorf nicht mehr weiter, weil der Verkehr völlig still lag.
Da legte mein Nachbar eine Panzerfaust an, um dem Russen den Garaus zu machen. Ich schlug ihm das Ding blitzschnell aus den Händen und schaute dann wie gelähmt auf den Geschützturm des Panzers; jetzt kriegen wir eine auf die Birne! Stattdessen öffnete sich der Deckel des Panzers und ein Russe mit den typischen Kopfschützern der Panzerleute stieg aus und kam auf uns zu. Mensch, der hat aber Mut, blitzte es durch meinen Kopf, denn ich sah, dass im Panzer nur der Fahrer zurückgeblieben war, der keine Waffe hätte bedienen können. Der Mutige sprach uns auf Russisch an, aber weder konnten wir ihn, noch er uns verstehen. So ging er der stillstehenden Kolonne entlang. Diese Gelegenheit ließen wir uns nicht entgehen, der Fahrer startete den Motor und im Nu waren wir mit unserem geländegängigen Fahrzeug über die Äcker aus der Sicht der Russen verschwunden. Als wir schließlich die Durchgangsstraße nördlich des Dorfes erreicht hatten und obendrein keinen Stau bemerkten, war unsere Freude und Erleichterung unbeschreiblich.
Doch war unser erster Versuch eines Ausbruchs nach Westen missglückt. Weiter ging die Fahrt nach Norden, in der Absicht, bei Deutschbrod (Havlíčkův Brod) einen zweiten Versuch zu wagen. So schnell wollten wir nicht aufgeben, aber Hunger, Müdigkeit und Beginn der Demoralisierung machten sich schon bemerkbar. Ohne Zwischenfälle fuhren wir am 9. Mai durch das hügelige, abwechslungsreiche Land. In der Nacht machten wir Rast in der Nähe eines Waldrandes, von wo aus man den Verkehr auf der Hauptverkehrsstraße nach Deutschbrod beobachten konnte. Wegen der Dunkelheit war aber die Art des Verkehrs nicht auszumachen und wir warteten darum vorsichtshalber das Tagesgrauen ab.
Nachdem sich der Dunst verzogen hatte und die Sonne wiederum einen schönen Tag versprach und auf dieses herrliche Land hinunterschien, bot sich mir da unten ein unfassbarer Anblick! Unser aller Angst war Realität geworden. Dem Russen waren wir jetzt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert: eine unübersehbare Zahl von russischen Soldaten in flatternden Blusen, Männchen und Weibchen, zogen an uns vorbei; Lastwagen in schneller, Panje-Wagen in langsamer Fahrt in Richtung Stadt und zweifellos weiter nach Prag, um die Befreiung der Hauptstadt zu feiern.
Nach kurzer Beratung zogen wir die Konsequenz aus der hoffnungslosen Sachlage: Handfeuerwaffen vernichten und sich dem Russen stellen. Mit dem Lauf meines Karabiners in den Händen holte ich zum Schlag gegen einen Baum aus. Der hölzerne Gewehrkolben zersplitterte, ein zweiter Schlag verbog selbst den Gewehrlauf ein bisschen, was mich verwunderte. War das nun die vielgerühmte deutsche Wertarbeit? Jäh aber durchfuhr mich eine furchtbare Angst: ich bin wehrlos! Man kann von nun an mit mir machen, was man will. Was wird aus mir werden? Welchem Schicksal gehe ich entgegen? Gelähmt durch diese Fragen konnte ich kaum unseren Raupenschlepper besteigen, der dann mit langsamer Fahrt sich der Heeresstrasse näherte.