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4 GEFANGENNAHME
ОглавлениеImmer deutlicher zeichneten sich die Gesichter der vorbeiflitzenden Russen ab. Ein unbekümmertes, fröhliches Völkchen schien das zu sein, so proper in ihren einfachen, olivgrünen Hemden und den klobigen Stiefeln; ganz und gar nicht der große Bär mit den fletschenden Zähnen und seinen zum Schlag ausholenden Tatzen. So war mir nämlich der Russe auf Abbildungen seit meiner Kindheit in Erinnerung geblieben. Ein paar Meter vor der Einbiegung des Feldweges in die Straße stoppte unser Fahrer, da er sich unmöglich ohne weiteres in den schnellen Verkehr hätte einfügen können. Eine Weile warteten wir unschlüssig, gebannt, und beobachteten die so menschlich aussehenden Russen, welche sich gar nicht um uns kümmern wollten. Es war grotesk und unheimlich zugleich.
Eine Karawane von schwer beladenen Panje-Wagen tauchte wieder einmal auf, die durch Pferde gemächlich fortgezogen wurden, die Kutscher die Zügel lässig in der Hand haltend. Dem letzten Wagen schlossen wir uns an und so geschah es, dass Sieger und Besiegte, traulich vereint, zusammen in die Stadt fuhren, die motorisierten Kolonnen der Russen natürlich schneller als wir.
Meine Stimmung hatte sich schon erheblich gebessert als ein offener, amerikanischer Jeep mit einem Offizier im Beisitz uns überholte und durch Gebärden bedeutete, am Straßenrand anzuhalten. Mit seiner in der Kniekehle baumelnden Pistole kam er auf uns zu und befahl auf barschem Ton, von dem Fahrzeug herunterzukommen und sich einer neben dem anderen vor einem Gartenzaun aufzustellen. Da hörte ich schon am anderen Ende der Reihe den Ruf „Urri! Urri!“ Verstohlen beobachtete ich, wie er sich eine Armbanduhr nach der anderen auf seine Unterarme schob und damit den Anblick eines Offiziers mit kindlichem Gemüt abgab, der sich wie eine Schaubudenfigur mit Glitter schmückte. Schnell verbarg ich meine Uhr in der Hosentasche. Bei mir angekommen fiel ihm sofort die schöne, neue, lederne Kartentasche auf, die ich von meinem Vater als Abschiedsgeschenk bekommen hatte. Einem höheren Offizier wäre sie ein rechtes Statussymbol gewesen, aber mir einfachem Landser nicht. Darum hatte ich sie als Aufbewahrungsplatz für Briefpapier und Fotos meiner Familie aus jener Zeit benutzt. Jetzt hing mir die Tasche um, weil ich den Tornister wegen seines Gewichts nicht in Gefangenschaft mitnehmen wollte. Mit gierigen Blicken riss er mir dieses persönliche Geschenk von der Schulter und wandte sich zufrieden meinem Nachbar zu. Nach Abschluss dieser Zeremonie inspizierte er unser Fahrzeug, entdeckte das Fass mit zweihundert Liter Benzin, das wir so nötig für unsere Fahrt zu den Amerikanern brauchten und befahl, es in den Straßengraben zu werfen, als ob er unsere Gedanken erraten hätte. Kaum war sein Befehl ausgeführt, schwang er sich in seinen Jeep und verschwand.
Verdutzt schauten wir ihm nach, noch unschlüssig was zu tun sei, setzten dann aber die Fahrt fort, gewissermaßen als fahrende Beute im siegestrunkenen Zug der Russen. Links und rechts glitten Häuser vorbei, ein Zeichen, dass wir dem Stadtinnern von Deutschbrod näher kamen. Noch nicht ganz hatten wir den Mut aufgegeben, bei den Amerikanern in Gefangenschaft zu gelangen. Darum spähten wir nach einer Möglichkeit, diese verflixte Straße verlassen zu können. Und wirklich, Gottes Wunder offenbarte sich auf einmal in der Gestalt eines russischen Militärpolizisten, der auf einer Straße den Verkehr dirigierte: die Russen geradeaus in Richtung Prag und wir links ab in Richtung Tabor, hinter der die Moldau fließt und hinter der die Amerikaner stehen! Voll irrsinniger Freude fielen wir uns um den Hals. Wie war’s möglich!
Bei unserem Erscheinen hinter der Straßenkreuzung erhoben sich Hunderte von wartenden Landsern, bestürmten unser Fahrzeug und flehten uns mit verzweifelten Augen an, sie mitzunehmen und nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Aber in solch einer Situation sind die Spielregeln des Lebens härter. Was habt ihr zu bieten, fragten wir von oben herab. Ein volles Fass Benzin, schrien sie. Na, dann kommt mal. Selbst sitzend wurde ich wie eine Sardine durch eine Unzahl von Leibern gequetscht. Nicht einmal zur Toilette hätte ich gehen können, aber das war ja auch nicht nötig, weil ich schon ein paar Tage nicht mehr gegessen und getrunken hatte.
Und weiter ging die Fahrt nach Westen. Von nun an preschten uns junge tschechische Burschen auf Motorrädern voraus, die als eine Art Kurierdienst unser Kommen im nächsten Dorf ankündigten. Wir dagegen krochen im Schneckengang über die staubigen Landstraßen, aber auch wegen der enormen Last der etwa fünfzig aufeinander gepressten Soldaten, die im Rhythmus der Bewegung des Fahrzeugs hin und her schaukelten. Was hatte der Kurierdienst zu bedeuten? Doch nichts Gutes, denn die Leute blickten uns im Vorbeifahren hasserfüllt an. Auch daran gewöhnten wir uns allmählich im Laufe des Tages, bis sie später von uns abließen.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag des zehnten Mai näherten wir uns wieder einem, dieses Mal größerem Dorf, als wir schräg hinter uns eine Staubwolke sahen, die schnell näher kam und größer wurde. Deutsche Kameraden fuhren nicht mehr so schnell in solcher Anzahl; das mussten Russen sein! Aus der relativen Bewegung von uns zu ihnen war auch zu schließen, dass beide Landstraßen kurz vor dem Dorfeingang zusammenstoßen müssten und dann ohne Zweifel als Hauptstraße durch das Dorf führten.
Wir mussten ihnen zuvorkommen, wollten wir überhaupt noch eine Chance des Entrinnens haben. Ein Druck auf das Gaspedal ließ den Motor aufheulen, sodass das Fahrzeug ächzte und die Raupen quietschten und wir sozusagen mit letzter Kraftanstrengung nicht nur als erste die Straßengabel erreichten, aber auch als erste in das Dorf hineinfuhren. Auch aus verkehrstechnischen Gründen nahm unser Chauffeur jetzt Gas weg und so bogen wir in geruhsamer, majestätischer Fahrt um eine Kurve, die uns einen freien Blick auf den großen länglichen Dorfplatz gewährte, der mit einem Meer von erwartungsvollen Tschechen gefüllt war und die, uns nun erblickend, in einen Freudentaumel gerieten. Zudem wapperten viele mit Fähnchen zur Begrüßung, wir dagegen stoppten und erstarrten zu Salzsäulen in dieser grotesken Situation, welche durch die blindmachende Vorfreude der Tschechen, endlich ihren Befreiern huldigen zu können, geschaffen worden war. Aber wie sollten sie auch sehen, wer wir wirklich waren, denn Staub vom tagelangen Fahren bedeckte unsere Uniformen und Gesichter. Um Mund und Nase war er schwarze Kruste geworden, und die Augenränder waren rot durch Übermüdung.
Ganz plötzlich aber erstarb das Freudengeschrei, eine unheimliche Stille breitete sich über dem Platz aus und die Menschenmenge kam langsam, drohend auf uns zu, als sie sich ihres Irrtums und auch der Scham darüber bewusst wurden. Da brach jäher Lärm den Bann: ein russischer Offizier erschien hinter uns, bahnte sich einen Weg durch die uns einschließende Menge und befahl ihnen, zurückzuweichen. Ihre Befreier waren auch unser Befreier geworden, denn ohne ihn wären wir wohl gelyncht worden.
Dennoch war des Russen Rolle zweischneidig, da sein Befehl vom Fahrzeug herunterzukommen gleichzeitig das wirkliche, definitive Ende einer Illusion bedeutete, jemals amerikanisch besetztes Gebiet zu erreichen.
Mit unserem Vehikel im Rücken scharten wir uns zusammen. Schnell fischte ich mir noch meinen Mantel, Brotbeutel und Zeltbahn aus dem Gepäckfach. Inzwischen unterhandelte der russische Offizier mit einigen Honoratioren des Dorfes; ihren Gebärden konnte ich entnehmen, dass es sich um ein Unterkommen für uns in der Nacht handelte, aber auch um Nahrung, Brot und Fleisch, das die Tschechen unter keinen Umständen herausrücken wollten. Aber sie kannten die Russen noch nicht. Uns dem Willen des Siegers beugend, bekamen wir abends unser Essen in einer Schule, wohin wir vorher hatten abmarschieren müssen.
Diese Behandlung nahm zwar die unbeschreibliche Angst vor der Gewalt der Russen weg, aber Frontsoldaten benehmen sich oft anders als in der Etappe und darüber hinaus befand ich mich ausgerechnet in russischer Kriegsgefangenschaft, ein Los, dem wir unter allen Umständen hatten entgehen wollen und dessen Konsequenz natürlich noch vollkommen offen war.
Die erste Nacht verbrachte ich mit den anderen Eingeschlossenen im Schulgebäude auf dem Fußboden. Immer noch entsetzt und voll innerer Unruhe wanderten meine Gedanken zu meinen Eltern und Geschwistern. Leben sie noch und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Wahrscheinlich wird der Russe Berlin erobert haben; wie wird er jetzt meine Eltern und Schwestern behandeln? Wo befindet sich mein Bruder Werner? Ist es ihm auf dem Rückzug aus dem Osten geglückt, sich zu den Amerikanern zu retten oder nicht? Diese Fragen belagerten mich immerzu bis ich vor Erschöpfung einschlief und später wieder hochfuhr mit den Gedanken: Wo bin ich? Was ist passiert? Und dann der zuckende Schreck: Ich bin in Gefangenschaft, in russischer dazu!
Im Laufe des Tages füllte sich der Schulhof immer mehr mit deutschen Soldaten, die man in der Umgebung aufgegriffen und unter Bewachung zu diesem Sammelpunkt gebracht hatte. Einige waren weiter westlich als wir gekommen, aber letztlich auch ohne Erfolg. Noch viel später hörte ich von einigen, dass sie selbst von Amerikanern den Russen überantwortet worden waren, dessen Hintergründe ich aber erst Jahre später erfuhr. Durch das Erscheinen so vieler fremder Landser bekam ich das Bedürfnis, mich den Kameraden der Batterie enger anzuschließen.
Wegen des Altersunterschiedes mit den anderen und meiner introvertierten Art war ich bislang ein Außenseiter geblieben. Als kaum der Oberschule entwachsener, junger Mann hatte ich ein ganz anderes Lebensgefühl mit den damit verbundenen Ansichten und Problemen im Vergleich zu diesen hartgesottenen, schon jahrelang von Frau und Kindern entfremdeten Männern, denen es nur noch ums Überleben ging. Aus diesem Grund probierte ich ein mir sinnvolles Gespräch mit ihnen schon gar nicht anzuknüpfen. Aber unter diesen neuartigen Umständen suchte ich jetzt gerade ihren Halt und Unterstützung, welche sie fähig waren zu geben. Wachsender Platzmangel an diesem Sammelort beschleunigte unsere Kameradschaft.
Am nächsten Morgen erschallte der Befehl für den Abmarsch in ein Lager. Als das Tor des Schulhofes sich öffnete, marschierten wir in einer Kolonne von ungefähr dreihundert Mann auf die Straße gen Osten. Russische Posten liefen mit Maschinenpistolen bewaffnet in einigem Abstand neben uns her. Im Laufe des Tages schwoll unser Zug mehr und mehr an. Unwillkürlich musste ich an Bilder aus Wochenschauen vergangener Jahre denken, welche die endlosen Züge heruntergekommener und verbitterter russischer Soldaten, unterwegs in deutsche Gefangenschaft, sehen ließen. Ein russischer Filmer hätte jetzt genau dieselben Aufnahmen liefern können.
Nach einem Marsch von zirka vierzig Kilometern ließen wir uns auf einem parkähnlichen Platz in einem kleinen Städtchen wie ein Heuschreckenschwarm nieder. Ich suchte mir ein Stückchen sanften Grases zwischen Beeten, pinkelte und schiss in eine Ecke und legte mich schlafen, zu essen gab es sowieso nichts. Müde und ein bisschen hungrig schaute ich hinauf zum klaren Sternenhimmel und schlief ein.
Am Nachmittag des nächsten Tages zogen wir durch eine größere Ortschaft; eine friedliche Sonntagsstille herrschte, als ich aus dem offenen Fenster eines Hauses das Violinkonzert von Max Bruch auf die Straße hinaus schallen hörte. Ach, wie liebte ich diese Musik und wie glücklich wurde ich durch deren Klang und verzweifelte gleichzeitig an meinem Schicksal.
Wieder im Freien hinter der Ortschaft, Patzau (heute Pacov, zirka dreißig Kilometer östlich von Tabor, siehe Skizze 1B) geheißen, löste sich mein Nachbar aus der Kolonne und lief in gemächlichem Trab auf ein Feld, um ein paar Bretter zu holen, die in Form eines Satteldaches gegeneinander gestellt worden waren und darum auffielen. Die Russen ließen es geschehen. Dann tat mein Nachbar zur anderen Seite dasselbe, darauf ich und schließlich ein Vierter unserer Gruppe. Dann aber feuerten die Posten Warnschüsse ab, um noch Weitere von demselben Vorhaben abzuschrecken. Meine Nachbarn brachten mir beim Weitermarschieren bei, dass die Bretter uns von großem Nutzen sein würden, wenn wir im Sammellager ankämen und dass es sich schon lohne, die ziemlich schwere Last eine Weile zu tragen. Kurze Zeit später war es deutlich, dass wir uns unserem vorläufigen Ziel näherten.