Читать книгу Lill. Der Roman eines Sportmädchens - Rudolf Stratz - Страница 4
Erstes Kapitel
ОглавлениеLill stand schon wartend an dem heruntergelassenen Wagenfenster — jung, lang, hüftschlank, schulterschmal, das Reisetäschchen in der Linken, den Seidenmantel über dem Ärmel des kniekurzen, mausfarbenen Kascha-Kleides. Die Bremsen des D-Zugs quietschten. Er ruckte und hielt. Sie beugte den hübschen Kopf unter dem grauen Topfhut in die Nachtluft hinaus und rüttelte mit der Rechten an dem verklammten Türgriff. Dann tippte sie dem unten vorbeilaufenden Schaffner mit dem Zeigefinger auf den Mützenteller.
„Lassen Sie mich bloss da ’raus aus der Schatulle, Herr Betriebsdirektor! Der Zug muss ohne mich weiter brausen! . . . So! danke!“
Sie sprang flink-federnd, sportgeübt, mit einem Satz auf den Bahnsteig. Ein alter Herr betrachtete vom Nebenfenster wohlgefällig die dünnen, seidenbestrumpften Beine, die zierlichen Knöchel, die schmalen Füsse. Dann keuchte der Lokomotivkoloss da vorn funkensprühend in die stockfinstere Nacht hinaus. Der Bahnhof des Badeorts gähnte menschenleer. Nur ein paar Spiesser trollten sich durch die Sperre. Die Stationsuhr darüber zeigte zehn Minuten nach zehn Uhr abends.
Nanu? Keiner zum Abholen da? Lill schaute düster in die Runde. Das sah der Blase doch wieder ähnlich! Die mussten natürlich jetzt alle in der Hotelhalle tanzen. Bande! . . . Aber ihr selber foxtrottete es ja schon seit einer Stunde in den Fussspitzen. Wenn sie den Koffer auf dem Bahnhof liess und gleich ins Kurhaus sauste und sich fix umzog — nee — wahnsinnig eilen musste sie sich schon! Vor dem Tennisturnier morgen krochen gerade die grossen Kanonen mit den Hühnern bald nach Mitternacht in die Klappe. Bloss das Kleinzeug, auf das es beim Turnier nicht ankam, hopste weiter.
Ein Auto gab es doch wenigstens hoffentlich da draussen! Lill stiefelte mit langen, schlenkernden Schritten, den Kopf flott im Nacken, über den Bahnsteig, durch die Sperre, nach dem Ausgang links, machte verblüfft halt: Das war die Höhe: Vor ihr dämmerte der Platz mondhell und friedhofsstill in der warmen Septembernacht. Kein einziges Augenpaar eines Taxameters glotzte ihr entgegen. Keine Menschenseele in Sicht. Nur fern die Bierstimmen der drei dicken Eingeborenen, die vorhin durch die Bahnsteigsperre gewackelt waren.
Kafferland! . . . Na wartet, Kinders — wenn ich Euch erst an Euren hässlichen Ohrläppchen zupf’! . . . Also zu Fuss nach dem Hotel! Weit konnte es nicht sein. Die Rix oder die Bine oder die Mab — irgendeine hatte auf der Postkarte am Rand gekritzelt: ,Nur drei Minuten vom Bahnhof!’ Fragt sich nur, wo? Vorn im Dunkel prusteten die Spiesser auf dem Weg in das Städtchen hinein über irgendeinen Stammtischwitz. Lill fing an zu rennen. Sie sauste auf einmal unwahrscheinlich schnell wie der Wind durch die Nacht. Sie lief nicht mit schaukelnden Hüften wie sonst eine Frau. Sie flog elastisch, kaum den Boden berührend, in langen, flüchtigen Hirschsätzen über das Kopfpflaster dahin. Die drei dicken Männer drehten sich um und sahen ungläubig das Hundert-Meter-Tempo des Sportplatzes. Vom Zehn-Sekunden-Rekord blieb es noch weit entfernt. Aber Lills Stimme war kaum atemlos, als sie innehielt und laut, kühl, kurz frug:
„Sagen Sie mal: Wo ist denn das Dings — das Kurhaus oder wie’s heisst?“
Der eine Bäuchling schmunzelte ihr in das hübsche, befehlerische Gesicht.
„Immer da links lang, Fräulein! Egal die Strasse ’runter!“
„Aber so weit ist’s doch nicht — was?“
„I wo, Fräulein! Da kommt man leicht hin!“
Die drei Pfahlbürger trotteten über die Strasse. Sie verzapften sich wieder einen Witz. Ihr speckiges Lachen vergrunzte um die Ecke. Dann raschelte nur noch das Herbstlaub durch die Vorgärten der Villen im Nachtwind. Der Mann im Mond blinzelte vom Sternenhimmel auf den schlafenden Badeort. Lill stürmte die Strasse hinunter. Einmal hemmte sie den Schritt und las den handtuchlangen, gelben Anschlag der Kurverwaltung an der Hauswand: das grosse Tennisturnier. Morgen früh um zehn Beginn. Weiter! Die Strasse zog sich elend hin! Sie war einfach verboten lang — immer eine Villa hinter der anderen. Dabei wie ausgestorben. Nur zuweilen Kötergekläff hinter einem Gartengitter. Lill hob die Uhr am Handgelenk vor die blaugrauen Augen: das nannten die Mädel — oder war es der Yo gewesen oder Wilm? — das nannten diese wertvollen Menschen drei Minuten! Mehr als doppelt so lang war sie schon auf dem Trab. Na danke: Nun hörten auch noch die Häuser auf! . . . Einfach Gegend rechts und links von der Strasse. Hoffentlich wenigstens Golfplätze! Man konnte in dem Mondzwielicht die roten Fähnchen nicht erkennen. Nur ganz nahe dahinter, hoch aus Dunkel, die Berge. Die Berge mit den berühmten Bobsleigh-Runs und Rodelbahnen und Skihalden und Sprungschanzen und Schlittschuh-Seen. Lill blickte auf die mondbeschienenen Dächer des Badeorts zurück. Deswegen war das Nest wohl jetzt im Herbst so schlafmützig. Das blühte erst wie ein Schneeglöckchen zur Winterzeit.
Sie stand und überlegte, ob sie noch weitergehen solle? Wahrscheinlich hatte sie sich einmal nicht genug links gehalten, wie es ihr die dicken Männer ans Herz gelegt. Sie machte, in der stillen Nacht, auf gut Glück noch ein Dutzend Schritte um die Baumecke. Nein. Stimmte ja alles. Uff! Da lag ja gross und stattlich, mitten in einem weiten Park, das Kurhaus, alle Fenster des Erdgeschosses hell erleuchtet. Gedämpfte Tanzmusik klang heraus. Lill wippten die Beine. Sie schritt schnell, hoffnungsvoll lächelnd, dem grossen Gittertor der Garteneinfahrt zu. Es war offen. Der Pförtner stand daneben. Einige Schritte davon, in der Richtung nach dem Kurhaus, klopften ein paar barhäuptige, befrackte Herren einem Dritten in umgehängtem Mantel und schiefsitzendem Filzhut beschwichtigend auf die Schulter. Lill hörte, wie der eine von ihnen gemütlich sagte:
„Aber, Hoheit — wer wird denn gleich ’nen kleinen Witz so krumm nehmen und weglaufen? Gleich kehren Sie in die Mitte Ihrer Verehrer zurück!“
Hoheit . . . Donnerwetter . . . stinkfein — dachte Lill. Und der Koffer noch auf dem Bahnhof! . . . Nichts anzuziehen jetzt gleich — wo es da drinnen derartig blaublütig zuging . . .
Na — so verheerend war es doch eigentlich, bei Licht besehen, nicht! Lill war durch das Haustor getreten, das die beiden Herren im Frack offen gelassen hatten. Die Gents folgten ihr auf dem Fuss. Sie schleppten den besänftigten Prinzen — einen unscheinbaren, blonden, jungen Mann — kordial, ein Herz und eine Seele, unterm Arm in ihrer Mitte wieder in die Festräume zurück.
Im Ballsaal spielte die Hotelkapelle „Rosen aus dem Süden“. Die Paare walzten komisch altmodisch — ohne die drei Gehschritte — wie zur Zeit Albrechts des Bären. Oder war das das Allerneueste? Lill stand auf der Schwelle und betrachtete neugierig die Gesellschaft. Durchgängig ganz grobe Klasse war das nicht! Das stand fest! Neben sehr guten Erscheinungen andere — na manche Herren hatten überhaupt nicht gedresst! Ein paar ältliche Damen trugen tatsächlich Blusen . . . Blusen aus dem Museum märkischer Altertümer . . . dunkelste Provinz . . . Wenn man sich vorstellt, dass man heute früh noch in Berlin-Grunewald seine Kalorien gefrühstückt hat — Lill fühlte unter der fremden Menschheit Sehnsucht nach ihrer Berliner Clique. Die musste hier im Saal verkrümelt sein. Aber sie entdeckte kein vertrautes Gesicht.
Nur die dürftige, blässliche Hoheit von vorhin tauchte plötzlich im Vestibül neben ihr auf und flüsterte, ohne sich vorzustellen — na . . . das taten so Prinzlichkeiten wohl überhaupt nicht — flüsterte leise, fast geheimnisvoll:
„Gnädigste suchen Bekannte?“
Lill hatte, da keine Garderobenfrau zu entdecken war, eigenhändig Topfhut und Mantel an einen Haken gehängt. Sie stand vor dem Spiegel und glättete sich mit der flachen Hand die kühn unter dem schiefen Scheitel links nach hinten ondulierten Wellen des dunkelblonden Bubikopfes. Sie dachte sich: Ich seh’ aus wie ’ne Wilde — nach der langen Eisenbahnfahrt — Aber es schien hier wirklich nicht darauf anzukommen! Eigentlich war sie doch, wie immer, still und andächtig mit ihrem Spiegelbild zufrieden — mit diesem frischen, langen, sportschlanken, zweiundzwanzigjährigen Geschöpf vor ihr, in Lebensgrösse in der Glasfläche. Mager genug — Hauptsache. Sehr hübsch auch! Gut! Sie wandte das lebhafte, sonnigkühle Gesicht über die Schulter und nickte unbefangen.
„Stimmt, Hoheit! . . . Irgendwo hier im Saal halten sich die Mitglieder von meinem Berliner Tennisklub raffiniert versteckt. Die sind schon seit vorgestern hier beim Turnier . . .“
„Oh — ich weiss.“
„. . Oder sie bilden in der Bar eine scharfe Ecke . . . Ich find’ sie ums Totschlagen nicht! Ich konnte erst heute nachkommen! Mein alter Herr hatte gestern Geburtstag . . .“
„Wollen Gnädigste mir nur folgen . . .“ Die blasse Hoheit nickte sorgenvoll. Lill schritt neben ihm durch den Saal — immerhin etwas gehoben. Ein Prinz war ja eigentlich Vorkriegsware — unmodern — — Ein Filmregisseur — das hätte mehr Stil — aber trotzdem . . . Lill drängte sich längs der Wand durch die Tanzenden und schüttelte nachsichtig den Kopf.
,,Das ist ja hier das reine Altersheim, Hoheit! Wo kommen denn nur um Gottes willen alle die Herren Eltern her? Die Vorfahren dulden wir in Berlin gar nicht auf unseren Bällen!“
„Oh — es gibt noch viel ältere!“ Die Hoheit lächelte stolz. „Bitte — da sind Ihre Freunde!“
In einer Nische sassen zwei uralte Damen und ein steinalter Herr und spielten Karten. Lill riss ihre blaugrauen Augen auf, den Mund auch — zu einer Frage an den Prinzen: „Ja — was soll denn ich hier mit der Mottenkiste?“ — Aber einer der Gents aus dem Garten war ihm gefolgt, bot ihm eine Zigarette und zog ihn geschäftig mit sich fort. Lill stand allein vor den drei Skeletten, die sie schweigend ansahen. Sie lachte.
„Verzeihung! Eine optische Täuschung Seiner Hoheit! Ich suche ganz jemand anders!“
„Oh — das macht nichts!“ Die eine der beiden Mumien fasste mit ihren kalten Spinnenfingern Lills Rechte und streichelte sie zärtlich . . . „Die Hauptsache ist, dass Sie da sind! Wir haben uns ja schon so auf Sie gefreut . . .“
,,Sehr schmeichelhaft, aber . . .“
„Es ist ja alles so wundervoll hier! Es ist alles so schön! Sehen Sie nur diese Pracht!“
„Na — es tut sich . . .“
„Es ist ja wie im Paradies! Sie sind ja auch so schön! Sie blonder Engel — Sie . . .“
„Aber, gnädige Frau — ich kenne Sie ja gar nicht . . .“
„Spielen wir nun eigentlich oder spielen wir nicht?“ frug der Methusalem am Tisch, die Whistkarten in der Hand, mit steinern-strengem, bartlosem Römergesicht. „Ja? Gut! Also zehntausend Mark der Robber wie bisher!“
Plötzlich waren die drei lebenden Leichname in ihre Partie versunken. Lill war für sie Luft. Sie zog sich verblüfft zurück: Zehntausend Emmchen — das schien diesem Meergreis ein Pappenstiel! Papa, in seiner Grunewald-Villa, war ja wahrhaftig auch ganz nett wattiert — bei den schlechten Zeiten! Aber zehntausend Emmchen . . . Es musste doch ein furchtbar feines Hotel sein. Man merkte es nur nicht so. Man sah komischerweise keinen Kellner. Überhaupt niemand, der sich um einen kümmerte. Doch — da — ein blasses, junges Mädchen, das sie seelenvoll ansah und ihr traurig wie einer alten Bekannten zuwinkte. Lill trat auf sie zu.
„Ach — verzeihen Sie, verehrtes Fräulein! Sie interessieren sich doch gewiss auch für das Tennisturnier? Ich schneie nämlich hier mitten in den Betrieb hinein! Ich suche seit einer Viertelstunde meine Berliner Klubschwestern wie die Stecknadeln! Sie kennen doch wahrscheinlich die Namen der Cracks! Meine Freundin Grusemann zum Beispiel . . .“
„Fräulein Grusemann . . .?“
„Ja. Seniorenklasse. Damenmeisterschaft in . . .“
„Fräulein Grusemann ist tot!“
„Was . . .?“
„Gestern abend ist sie gestorben!“
Das junge, bleiche Mädchen seufzte tief und ging still weg. Lill stand vom Donner gerührt. Die Rix . . . die flotte Rix Grusemann . . . dieser kerngesunde, durchtrainierte Kerl . . . zäh wie ein Mann — voll Ehrgeiz, wie ein Mann anzusehen — dabei ein so hübsches Mädel. — Also deswegen war niemand auf der Bahn — deswegen fehlten sie im Ballsaal . . .
Das heisst: halt . . .! Gestern sollte sie gestorben sein? Herrgott — ich hab’ doch heute früh vor der Abfahrt noch mit der Rix am Telephon gequatscht und mich nach dem Stand von dem Turnier erkundigt! Ich hab’ doch deutlich ihre Stimme im Apparat erkannt! Sie war pudelwohl! Kinder — das ist ja einfach nicht wahr . . . das ist ja Unfug . . . Was sind denn das für Kälbereien, die Ihr hier mit mir treibt? Das ist natürlich wieder eine so ausgefallene Idee von meiner brüderlichen Liebe! Der Geo stiftet die Leute hier an, mich zu veräppeln! Der kriegt aber noch heilig eine von mir ’runtergehauen, dass er denkt, er ist der Trainingspartner von Dempsey! Man muss sich an einen vernünftigen, älteren Herrn wenden! Da segelt so eine olle Exzellenz leutselig durch die Menschheit — langer, grauer Schnurrbart, martialisches, rosiges Gesicht. Herrgott — hat der General Orden — ganz unwahrscheinlich riesige — zwei Reihen die Brust lang . . . Aber etwas Nettes, Vertrauenerweckendes im Blick . . .
„Ach . . . ich wäre Ihnen so dankbar, Exzellenz . . .“
,,Aber ich bitte gehorsamst!“ Der Würdenträger verneigte sich ritterlich. Er hatte eine prachtvolle, hohe Rassegestalt. Er hielt sich gerade wie ein Ladstock. „Kommen Sie nur bitte mit auf den Gang hinaus, Gnädigste!“
Draussen war niemand. Der General schritt elastisch wie ein Fähnrich Lill voraus bis zum Ende des Flurs. Dort drehte er sich jäh um und kreuzte die Arme über der Brust. Er musterte Lill scharf wie einen Rekruten.
„Gehen Sie in sich!“ befahl er schneidend. „Bereuen Sie Ihre Sünden!“
„Ja — was hab’ ich denn um Gottes willen getan?“
„Gottes Gericht ist nahe! Es ist höchste Zeit! Sonst sind wir alle verloren . . . alle . . . alle . . .“
Der alte Herr warf sich auf einen Rohrstuhl, stützte die Stirn auf die Hand und starrte stumm vor sich nieder. Lill schlich scheu den Gang entlang in den Saal zurück. Gott sei Dank: da steuerte ein dicker Herr mit Vollbart und Glatze händereibend und sich verbeugend auf sie zu.
„Sind Sie der Hoteldirektor? Na endlich! Das ist ’ne nette Wirtschaft bei Ihnen! Statt dass Sie sich um Ihre Gäste kümmern . . . Da gerate ich eben an eine richtiggehende Exzellenz . . ja sagen Sie mal, piept’s dem alten Knaben etwa da oben?“
,,Ach — der Herr General? Der ist seit dem Krieg ein wenig wunderlich! Wenn er dann noch ein Gläschen getrunken hat . . . Er hasst alles, wo’s ein bisschen lustig zugeht — Tanz . . . Sport . . .“
„Ach so! Na — also, ich stehe jedenfalls seit zwanzig Minuten bei Ihnen hier ’rum wie ein Affe! Ich habe bei Ihnen schon vor einer Woche mein Zimmer für das Tennisturnier bestellt — Fräulein Luise Bödiger aus Berlin . . . Wissen Sie: Mein Vater ist nicht der erste beste Hannepampe! Er ist Direktor eines kolossalen Fabrik-Konzerns. Wenn der hört, wie ich hier aufgenommen werde . . .“
„Ist ja alles bereit! Alles in bester Ordnung, gnädiges Fräulein!“
„So — na . . . dann ist’s ja gut . . .“
„Nur gerade heute — der Trubel beim Ball . . .“
„Also hören Sie mal: komische Gäste haben Sie hier! . . . da können Sie welche dreist im Zoo ausstellen!“
„Nur die feinste Gesellschaft der Welt, gnädigstes Fräulein!“
„Ja — Ihren Prinzen hab’ ich schon genossen!“
„Einen? Ein Dutzend!“
„Na — hören Sie mal . . .“
„Die reichsten Leute der Erde! Rothschild ist da!“
„Welcher denn?“
„Rockefeller!“
„Der ist ja viel zu alt!“
„Douglas Fairbanks und Mary Pickford!“
„Die sind doch jetzt nicht in Europa!“
„Der Prinz von Wales!“
„Auf welchen Schwindler sind Sie denn da hereingefallen?“
„Der König von Montenegro!“
„Den gibt’s ja längst nicht mehr!“
„Lenin!“
„Der ist ja tot, Verehrtester!“
„Das macht doch nichts!“ sagte der Hoteldirektor. „Das stört doch hier nicht! Gestern kamen Herrschaften im Flugzeug vom Mars!“
„Sie sind wohl verrückt!“
„Bitte — ich muss das doch wissen! Ich muss doch wissen, wen ich alles unter mir hab’! Ich bin doch der liebe Gott!“
Der Hoteldirektor schwieg und schaute leidvoll mit gerungenen Händen vor sich nieder. Lill schlich mit angehaltenem Atem, ganz leise, auf den Fussspitzen, von ihm fort, ohne dass er es beachtete. Sie spürte kleine Eisperlen auf der Stirn — den richtigen, kalten Angstschweiss — einen Schüttelfrost von Gänsehaut den ganzen Rücken entlang. Sie kriegte dann Luft. Sie stand vor einem der ebenerdigen Fenster, die auf den Garten hinausgingen. Den umgab, im Mondschein weithin sichtbar, rings eine düstere, hohe Mauer. Und jetzt sah Lill erst: vor den Scheiben kreuzten sich dicke Eisenstangen wie in einem Gefängnis. Auf einmal begriff sie: die drei Spiesser am Bahnhof haben sich einen Witz gemacht und mich statt ins Kurhaus in die Irrenanstalt geschickt . . .
Wahrscheinlich haben die Brüder gewusst, dass da heut die Verrückten tanzen! Deswegen haben sie noch so schmierig gelacht, um die Ecke ’rum! . . . Da sitzt man nun fest . . .! O Gottchen . . .o Gottchen . . . Nichts wie ’raus! . . .
Lill hastete durch den Saal. Sie huschte an dem General vorbei. Es war kein General. Sie sah jetzt: Seine Orden waren aus Pappe und Goldpapier. Eine mittelalterliche, bleiche Dame hob ängstlich die Hand: „Kommen Sie mir nicht zu nahe! Ich bin von Glas!“ Lill prallte in einem Bogen zur Seite. Ein bärtiger Herr, der an der Wand lehnte, runzelte die Stirn: „Ruhe, wer nicht geköpft sein will!“ Lill lief. Erreichte die Ausgangstür. Drückte: Verschlossen! Der Pförtner kam aus seinem Verschlag und nahm ihr behutsam die Hand von der Klinke. Sie sträubte sich.
„Lassen Sie mich los! Ich hab’ genug von der Zucht! Lassen Sie mich ins Freie!“
„Ja. Das möcht’ hier jeder!“
„Herrgott — ich bin doch nicht lititi! Ich komm’ doch von draussen!“
„Es sind ja ein paar ausserhalb’sche Damen heut abend hier . . . Frauen von den Herren Doktors und so. . . Aber ob Sie dazu gehören . . .“ „Natürlich! Fix! Fix!“
„Ohne Hut und Mantel?“
„Die hängen irgendwo da drinnen! Das müssen Sie mir doch ansehen, dass ich hier nicht Stammgast bin!“
„Das kann ich nun nicht. So gelehrt bin ich nicht! Vorhin erst war einer schon über die Mauer geklettert. Den haben der Herr Doktor und der Assistent gerade noch wieder ’reingeholt!“
„Den Prinzen?“
„Nun — von Haus aus ist’s ja wohl ein Friseur . . . Liebeskummer . . . Tja . . . Nu gehen Sie mal ruhig wieder in den Saal, Fräulein!“
„Wissen Sie, Herr Inspektor!“ sagte Lill. Ihre Zähne klapperten. „Es ist ja zu nett hier bei Ihnen! Aber ich muss jetzt weg! Ich hab’ wirklich keinen Vogel!“
,,Aber ich hab’ meine Instruktion! Ich mach’ nur auf, wenn es einer von den Herren Doktors sagt! Sie brauchen bloss einen zu holen!“
„Ich kenn’ doch keinen!“
„So? Und trotzdem wollen Sie von einem von den Herren eine Einladung hierher für heute abend gekriegt haben? Reden Sie bloss nicht mehr!“ Der Pförtner schmunzelte behäbig. „Sie müssen jetzt überhaupt auf Ihr Zimmer hinauf, Fräulein!“ Er drückte auf einen Knopf. „Sie sind viel zu aufgeregt! Warten Sie mal ’nen Moment!“
Lill wartete nicht. Sie lief in den Saal zurück. Ein kleiner fideler Herr trat ihr kichernd in den Weg. „Hast Du schon gehört: der Napoleon benimmt sich wieder wie ein kleines Kind! Er hat dem Bademeister ins Gesicht gespuckt!“ Lill nickte: Ja! Ja! . . . Sie dachte: Man darf diese Leute nicht reizen! Sie eilte weiter. Machte jäh vor einem Irren halt. Sie sah sofort: Der war gemeingefährlich! Hinter dem standen wie die Schatten zwei schnurrbärtige junge Männer in unauffälligen dunklen Jacken und Hosen — ganz offenbar Wärter — und verfolgten schweigend jede seiner Bewegungen.
Unheimlich . . . Man brauchte nur diese tiefliegenden, schwarzen, unergründlichen Augen anzuschauen . . . die gingen einem durch und durch . . .
Sonst machte der Irre eigentlich einen sanften Eindruck — klein und unscheinbar von Gestalt — etwas verwachsen, mit einer zu hohen rechten Schulter und einem für den dürftigen Körper viel zu grossen, stark gewölbten Schädel. Der Kopf war fast kahl, nur von einem schwarzen Löckelkranz umrahmt, das Gesicht unter der mächtigen, gebuckelten Stirn freundlich, von feinen, zarten Zügen. Der Kranke erkundigte sich unter dem kleinen, schwarzen Schnurrbart hervor, mit einer weichen und leisen, leidenden Stimme.
„Nun — wie gefällt es Ihnen hier?“
Bloss mit dem da keinen Krach! — beschwor sich Lill. Sie antwortete schnell:
„Na — famos!“
„Das freut mich!“
„Mich auch!“
„Sie werden sich hier schon einleben!“
„Das hoffe ich bestimmt!“ sagte Lill innerlich schauernd. Da . . . Gott sei Dank . . . ein Mühlstein fiel ihr vom Herzen: Aus dem Tanzsaal näherte sich hastig, in Frack und weisser Binde, der Arzt — der Gent, der vorhin mit seinem Assistenten den Prinzen in das Haus zurückbugsiert hatte. Er kannte seine Pflegebefohlenen, bei denen es zu sehr rappelte. Er sagte dem kränklichen, verwachsenen Irren nur schnell einige ruhige, halblaute Worte ins Ohr, und schon nickte der erstaunt und ging, gehorsam wie ein Lamm, eiligen Schritts davon, auf dem Fuss gefolgt von seinen beiden Wärtern. Dann wandte sich der Doktor zu Lill. Er war noch jung, mit einem schmalen, energischen Mund und dem kaltblütigen Pupillenglanz eines Tierbändigers. Er frug schroff:
„Nun erklären Sie mal gefälligst: Wie kommen Sie denn hier herein?“
„Wenn Sie Ihre Bude sperrangelweit offen lassen . . .“, erwiderte Lill erbittert. Ihr Mut wuchs.
„Ach so — vorhin . . . Und wer sind Sie denn eigentlich, wenn ich fragen darf . . .“
„Ich bin ein Fräulein Luise Bödiger — geimpft — nicht vorbestraft — zum Tennis hier . . . Nun ja doch: Zu dem Tennisturnier morgen! . . . Von dem wissen Sie gar nichts?“
„Wir haben hier in diesem Hause andere Sorgen, gnädiges Fräulein! Also Sie kommen des Vergnügens wegen, zum Sport. Finden Sie es dann nicht frivol, sich aus purer Sensationslust hier einzuschleichen?“
„Überschätzen Sie nur die Reize Ihres Lokals nicht!“ sagte Lill matt. „Ich versichere Ihnen: Wenn ich erst glücklich wieder draussen bin: Ich warne Neugierige! Was? Meine Neugierde wurde gestraft? Ja — kann ich denn das für, dass mich drei dicke Männer vom Bahnhof hierher in den April geschickt haben, wie ich nach dem Weg zum Kurhaus frug?“
„Also ein kindischer Racheakt!“
„Ich hab’ doch den Kaffern nichts getan!“
„Sie nicht, gnädiges Fräulein! Unser grosses Sanatorium für Gemütsleidende ist den Geschäftsleuten am Ort ein Dorn im Auge, weil es ihnen angeblich den Fremdenverkehr schädigt. Da spielen sie uns solche Possen!“
„So! . . . Na . . das sind ja Gemütsmenschen . . . hier . . . bei Ihnen . . .“
„Wir im Sanatorium können wirklich nichts für den peinlichen Vorfall, gnädiges Fräulein! Und es ist ja auch weiter nichts passiert!“
„Nein. Es war ein reizender Abend! So gemütlich! Tausend Dank! Aber nun setzen Sie mich gefälligst auf der Stelle in Freiheit! Mein Vater in Berlin ist im Vorstand eines grossen Industrie-Konzerns. Wenn der das hört, der macht Ihnen einen Tanz, dass . . .“
„Da bringt der Pförtner schon Ihre Sachen! Unser Auto fährt Sie ins Kurhaus!“
„Oder Gott weiss wo sonst hin! Nee — nee! Ich trau’ dem Zauber hier nicht mehr! Lassen Sie mich sofort hinaus, wie ich hier geh’ und steh’ . . . oder . . .“
„Um Gottes willen — gnädiges Fräulein — stampfen Sie nicht mit dem Fuss! Beunruhigen Sie die Kranken nicht! . . . Ganz wie Sie wollen . . .“ Der Anstaltsarzt liess Lill vorsichtig durch den leise fussbreit gelüfteten Torspalt schlüpfen. Er schritt ihr voraus bis zum Eingang. Lill witschte wie ein Vogel aus dem Käfig zwischen den aufspringenden Gittern durch.
„Laufen Sie doch nicht so unheimlich schnell, gnädiges Fräulein! Man traut ja seinen Augen nicht!“ rief ihr der Doktor nach. Aber Lill rannte in den langen, federnden Sprungsätzen des Sportplatzes in die Nacht hinaus, den Weg zurück, den sie gekommen. Erst bei der Baumgruppe an der Strassenbiegung fühlte sie sich in Sicherheit. Hinter der war die Lichtspiegelung des hellerleuchteten Geisterhauses drüben von dem schwarzen Nichts verschluckt, als sei sie nie gewesen. Lill ging langsam weiter. Um sie war alles still. Alles stockdunkel. Auch der Mond weg. Es war, als sei man allein auf der Welt. Und sah doch noch vor den überreizten Augen die Fratzen tanzen. Und hörte nichts als das gleichmässige Klappen der eigenen Schritte. Lill fürchtete sich vor dem einsamen, regelmässigen Laut. Sie fürchtete sich beinahe vor sich selber. Sie machte halt. Aber nun vernahm sie durch die pechfinstere Kirchhofsruhe wie heftige Hammerschläge das Pochwerk ihres Herzens. Auch davor graute ihr. Sie setzte ihren Weg fort, in einer stillen, das Herz pressenden Angst. Warum eigentlich? Man war ja doch glücklich aus dem Kasten dahinten wieder ’raus — Angst vor dem Leben . . . das war auf einmal so ganz anders — unglückselige Menschen — furchtbare Sachen — das konnte einem selber auch mal passieren! Man war noch jung. Man fing das Leben erst an. Gott weiss, was es einem noch so brachte . . . Eine bleierne, schattenhafte Last auf der Seele . . . Lill schlürfte trübe dahin. Die schlafenden Villen — die Vorgärten glitten an ihr vorüber — die Köter kläfften. Dann bog sie nach links. Da drüben schien das eigentliche Städtchen zu sein. Es dämmerte da eine Parkanlage. Sie setzte sich matt auf eine Bank. Irgendwo, nicht weit, plätscherte ein Springbrunnen. Von dem nahen Bahnhof tönten Lokomotivpfiffe und das Puffergepolter rangierender Wagen. Lill sass und schaute vor sich hinaus in das Dunkel und frug sich: Warum bin ich denn nur auf einmal so furchtbar traurig? Ich möchte am liebsten heulen — ohne jeden Grund . . . Ich tu’ mir so leid — dabei geht’s mir doch so gut — alle Menschen tun mir leid . . . Da kommen Menschen — ein Herr und eine Dame . . . Sie werden mich womöglich fragen, weshalb ich hier in der Nacht herumsitze . . . Sie schnellte auf. Sie überquerte den Platz. Sie ging eine kurze Strasse entlang. An deren Ende lichtete es sich verheissungsvoll hell. Das Bild von vorhin: Ein grosses Gebäude, Lichterglanz aus allen Fenstern zur ebenen Erde, Musik aus dem Innern, ein weiter Park umher . . .
Lill fröstelte. War das schon wieder das Irrenhaus? Nein: über dem Portal leuchtete in grossen, goldenen Lettern: „Kurhaus“. Und auf den Treppenstufen und auf dem Kies der Vorfahrt standen sie ja, in Gruppen, und schauten suchend und unruhig in die Nacht: Ihr Bruder . . . und die Rix . . . und die Bine . . . und die Mab . . . und der Yo. . . und der Fips . . . und Lämmchen Jericho . . . und Wilm . . .
Hurra! Auf einmal war Lill die Alte. Sie rannte stürmisch aus dem Dunkel hervor. Sie schwenkte begrüssend den dünnen, langen Arm. Lärm drüben.
„Lill, wo kommst Du denn her?“
„Ihr Schufte! Konnte mich denn keiner von Euch abholen?
„Wo hast Du denn nur die ganze Zeit gesteckt?“
„Warum habt Ihr mir denn nicht wenigstens ’nen Wagen an die Bahn geschickt, Ihr Fassadenkletterer?“
„Das Hotelauto hat ja gewartet!“
„Ich hab’ es nicht gesehen!“
„Weil Du an der falschen Seite ’rausgetost bist — links statt rechts!“ rief Geo Bödiger, der Bruder — ein Jahr älter als Lill, glattrasiert, im Tanz-Smoking, eine Gardenia im Knopfloch. „Ich bin nachher selber auf die Station, wie das Auto leer zurückkam, und hab’ gefragt! Da hatten sie Dich wohl gesichtet, wie Du fehlgingst. Sie wollten Dir noch nachrufen! Aber Du warst schon weg!“
„So! Na — dann hab’ ich die Dummheit gemacht!“
„Aber wie Du’s gemerkt hast — warum bist Du denn da nicht umgedreht?“
„Kann ich denn wissen, wo Ihr Euren Saftladen aufgemacht habt?“ schrie Lill und strömte mit ihrer Schar in die Hotelhalle. Ihre Wangen glühten. Ihre Augen glänzten. „Ihr werdet Euch wundern, was ich erlebt hab’.“
„Wo warst Du denn?“
„In der Gummizelle!“ sprach Lill kühl.
„Ich glaub’, die Lill fiebert!“
„Sie hat ganz rote Backen!“
„Lill — nun red’ mal vernünftig!“
„Vernünftig? Wenn ich da war, wo die verrückten sind? . . . Tatsache! . . . Da wurde feste getanzt — gerade wie Ihr hier!“
„Lill hat ’nen Schwips!“
„Sehr nette Leute! Sie wollten mich gleich dabehalten! Na — da zog ich doch Leine!“
„Du bist furchtbar aufgeregt, Lill!“
„Nun muss ich mich nur schnell umpellen! Rix — Du pumpst mir irgendeines von Deinen Kleidchen, bis mein Koffer kommt! . . . Tanzt nur ruhig weiter! Ich bin gleich wieder unten . . . Nanu? — Ihr kommt mit? . . . Rix? Bine? Mab? Na schön!“
„Gut — dann gehen wir inzwischen an die Bar!“
,,Tut das! Jonny — steh nicht mit offenem Mund — das wirkt öde! Lass’ Dir mal die Krawatte schief zupfen!. . Es soll doch etwas Nachlässig-Dämonisches um Dich sein . . . aber Du bist schon wieder ganz verwildert, die zwei Tage ohne mich! . . . Vorwärts! Nu liften wir ’rauf!“
Bett, Tisch, Stühle — das ganze Hotelzimmer leuchtete buntscheckig von seidenpapierdünnen Tanzfähnchen in Nilgrün, Bleu, Blau, Flohbraun, Lachs, Altrosa. Rigmor Grusemann kramte immer neue Bündel aus ihrem aufrecht wie ein Schilderhaus an der Wand stehenden Schrankkoffer. Keines der farbigen Spinnwebe wog viel mehr als ein solides Taschentuch. Dabei war die Rix gross — so gross wie Lill — und beinahe noch dünner. Hellblond — die Haare ganz kurz wie ein Mann geschnitten, glattgestrählt und rechts gescheitelt. Sie hielt sich auch wie ein Mann, mit absichtlich schlenkrigen Bewegungen und langen Schritten, während sie vom Schrank in die Zimmermitte und zurückging, und wahrte, die Zigarette schief im Mundwinkel, auf ihrem herb-hübschen, regelmässigen Antlitz den Ausdruck sachlicher, überlegener, männlicher Kühle.
Die Bine Herold, wie ein Kätzchen in die Sofaecke gekuschelt, war weicher. Zierlich, nur mittelgross. Auch mager gehungert selbstverständlich — aber doch mit Neigung zur Wiener Figur. Ein zartes Gesichtchen. Süsse Schwermut im geheimnisvoll fragenden Aufschlag der grossen dunklen Augen. Phantastisches, blauschwarz-seidenes Haargespinst, rechts und links um die Ohren geplustert. Ein herzförmiger, blutrot getupfter, kleiner Mund hinter Wolken einer fingerdicken ägyptischen Zigarette nach der anderen.
Die dritte, die Mab Immich, drückte die Schönheit nicht. Eine kleine Spinne, schon an die dreissig, sportzäh, mit neugierigen Freundschaftsaugen. Eine verständnisinnige Vertraute, wie sie schweigsam-geschäftig, gleich einer Kammerfrau, die bunte Fähnchenparade wieder über die Bügel hängte.
Denn Lill hatte endlich gewählt. Sie stand noch mit schmächtig weissen Schultern und Armen vor dem Spiegel, betrachtete noch einmal sachlich das schöne, junge, schlanke Geschöpf da drinnen und schlüpfte dann wie eine Eidechse in das goldgestickte, hemdartige Hängerchen, das die Rix, die Zigarette im Mund, ihr über die dunkelblonden Dauerwellen stülpte. Dabei berichtete sie die ganze Zeit.
„Ja also eigentlich wirken die Leute dort auch nicht viel verdrehter als wir!“ schloss sie und langte nun auch nach der Zigarettendose. „Bloss Walzer tanzen sie närrisch — immer ’rum — da muss man ja den Drehwurm kriegen! Ich weiss nicht, wo unsere Vorfahren die Puste dazu aufgebracht haben . . .“
„Gott . . . die . . .“, sagte die süsse Bine vom Sofa her in träumerischem Mitleid. Die Mab, das Aschenbrödel, Lills demütiger Schatten, widersprach.
„Ach — schimpft nicht! Ihr wart recht vorsichtig in der Wahl Eurer Erzeuger!“
„Papa hat heute wieder im Reichstag ’ne mächtige Rede geschwungen!“ sagte Rix, die kühle Blonde, nachsichtig. „Sinn hat’s ja nicht! Aber ihm macht’s ’nen Riesenspass!“
Über die Mütter sprach man überhaupt nicht erst. Die spielten keine Rolle. Lill streifte sich die dünnen Tanzschuhchen über, gähnte nervös und blies geübt den Rauch durch die Nase.
„Natürlich ist’s nett, dass mein alter Herr nicht gerade am Bettelstab wankt!“ sagte sie. „Also nun hab’ ich genug von den Lititi-Leuten erzählt! Nun will ich nicht mehr daran denken! Es macht mich ganz seekrank. Nun will ich tanzen und mich amüsieren! Und dann —“ sie stand auf und recte die Arme — „schlafen wie ’ne Ratte! Vor elf komm’ ich morgen doch nicht dran!“
„Ja — Du hast’s gut!“ sagte die dunkle Bine Herold. „Ich — gib mir doch mal ’nen Augenblick die Brennschere! — ich muss mit den Hühnern ’raus!“
„Doch nicht vor zehn!“
„Das denkst Du! . . . Da liegt seine Depesche . . . Also so ist er!“
„Dein Freund Orff?“
„Gott straf’ das Ekel!“
Mab hob die Augen mit einem Blick schweigenden Vorwurfs, dass man Orff — Orff! — ein Ekel nennen könne! Auch der Rix huschte eine Röte über die Baden. Lill las das Telegramm.
„Sei morgen Punkt sieben auf Platz zu Training für Gemischt-Doppel. Keine Müdigkeit vorgeschützt. Robby!“
„Gewaltmensch. . .“, sagte sie.
„Ja — Du kennst Robby Orff noch nicht!“
„Nein. Bisher ist er mir entgangen. Merkwürdigerweise!“
„Er ist ja auch ewig im Ausland. Und dann jagt er einen vor Sonnenaufgang aus den Federn! Ihm macht es natürlich nichts. Er fährt die Nacht durch . . .“
„Im Schlafwagen?“
Die Mädchen schrien. Robby Orff im Schlafwagen! Ein lächerliches Bild . . .
„Sein allerneuster Amerikaner hat 100 zu 160 PS. Natürlich Sechszylinder! Damit saust er jetzt eben schon von Wien durch die Natur!“
„Der schafft auch nachts seine vierzig Kilometer Durchschnitt!“ sagte Mab.
„Lachbaft!“ rief die schöne kleine Herold gereizt. „Sechzig! . . . Achtzig bei Mondschein . . . Gott . . . Orff! . . .“
„Du wirst’s wissen, Bine! Vom Eislaufen verstehst Du was, aber . . .“
„Rix . . . rede nicht . . .“
„Faucht nicht wie die Katzen!“ Lill zündete sich eine neue Zigarette an. „Wegen einem Mann! . . . Zu kindisch! . . .“
„Ja . . . aber Orff . . .“, wagte Mab behutsam . . . Es lag eine Welt in dem kurzen Worte: Orff . . . .
„Ich wusste gar nicht, dass er auch Autofahrer ist . . .“ Lill musterte sich unwillkürlich, prüfend, noch einmal im Spiegel.
„Das ist es ja doch gerade, dass er jeden Sport beherrscht!“ sprach Bine Herold trotzig. „Das ist ja sein Ehrgeiz! Man ist immer für ihn nur Füllsel . . .“
„Er ist neulich mit Lo Kreppel als Passagier im Flugzeug . . .“
„Gott . . . die Lo . . .“
„Er steht im Weitsprung nah am neuen Weltrekord“, unterbrach Mab neidisch. „Also ungelogen. — offiziell anerkannt. — in Stockholm 7,35½!“
„Na, bald nimmt’s ein Ende mit Schrecken.“ Bine Herold stand auf und dehnte ihren zierlichen Körper, der nur in ein fast durchsichtiges Restchen von plissiertem rosa Tüll gewickelt war. „Wenn er nicht in der letzten Poststunde Vernunft annimmt . . .“
„Will er heiraten?“ Lill blies einen Rauchring.
„Stirbt lieber!“ schrie die Rix. Die Mab lachte und schaute auf die schwarze Herold. Die süsse Bine zuckte nur verächtlich die weissen, runden Schultern.
„Wenn der jede Tennispartnerin und Bobsine und Mitfliegerin heiraten wollte,“ sagte sie herb, „dann hätt’ er. bald ’nen netten Harem beisammen!“
„Er ist ja auch ein Pascha . . .“
„Aber nun rächt’s sich: der einzige Sport, in dem wir Weiber nichts zu suchen haben . . . Er ist doch Amateurboxer von hoher Klasse. Schwergewicht. Damit könnt’ er doch zufrieden sein! Nein. Da setzt er sich doch in den Kopf, und er wettet — natürlich morgens um fünf in der Bar —“
„Er trinkt ja keinen Alkohol!“
„Das ist ja egal! . . . Also da ärgert er sich — Gott weiss warum — über den Champion — den kalmückischen Riesen — den Kü-en-lüng — der da neben ihm ganz friedlich auf dem Kontorstuhl reitet und aus dem Stroh halm saugt und die Barmaid angrient — Völker Europas — wahret Eure heiligsten Güter . . . Kurz — er fordert das asiatische Ungetüm zu einem öffentlichen Match heraus — in vierzehn Tagen — in Berlin — und der Kerl nimmt richtig auch an — gegen schweres Geld . . . Orff selbst verzichtet natürlich auf jede Börse . . .“
„Aber immerhin . . . ein Herr von Orff“, flüsterte die Spinne.
„Nu wenn schon ein Herr ,von’, Mab — Du bist wohl von gestern! Sei nicht altmodisch — ja?“ verwies Lill scharf ihren Schatten. Die Rix marschierte erregt, mit weiten, dünnbeinigen Männerschritten, in ihrem fast kniefreien, kornblumblauen Hängerchen durch ihr Zimmer. Sie entschied: „Ob von Orff oder Herr Orff oder Mister Orff — darauf kommt es natürlich unter Zeitgenossen nicht an — sondern dass er eben als Amateur gegen einen Professional antritt!“
„Er wird ja disqualifiziert!“ rief Bine verstört.
„Und nicht nur im Ring, sondern womöglich in jedem Sport! Die Gelehrten sind sich ja noch nicht ganz darüber einig! Aber es wird schon so kommen!“
„Ja — und was denn dann?“ frug Mab Immich wie vor dem Weltuntergang.
„Er hat nun mal gewettet! Wenn auch in vorgerückter Stunde! Er sagt, er kann nicht mehr zurück . . . Na — schliesslich —,“ die blonde Rix lächelte bitter, ,,für den Robby sind wir ja doch alle nur Rekruten! Dem ist’s sehr gesund, wenn er selber auch mal geduckt wird!“
„Ach was! Orff bleibt Orff!“ sprach die schöne kleine dunkle Herold weich. Das war das erlösende Wort. Die drei Mädchen nickten gedankenvoll, versunken, mit besorgten Augen. Dann hielt Lill gähnend die Hand vor den Mund. „Ihr ödet einen an — mit Eurem Robby! Wovon lebt er denn eigentlich?“
„Ja — da fragst Du mich zuviel!“ sprach Rix Grusemann sinnend. „Warť mal — natürlich . . . Er hat mit ’ner Automobilfabrik was zu tun . . .“
„Nein! Er ist Vertreter für Amerika!“
„Ach — Vertreter! . . Vertrauensmann . . .“
„Und dann hat er doch ein Rittergut!“
„Ja — auf seinen Namen. Das ist eigentlich von einer Jagdgesellschaft finanziert!“
„Und dann — ja — der Geo weiss da mehr — dann ist er ja im Aufsichtsrat von einer Gesellschaft — für Wintersport-Hotels . . . ich glaube, da steckt englisches Geld drin . . . Jedenfalls ist der Robby hundertprozentiger Gent!“
„Das hab’ ich auch nie bezweifelt!“ sagte Lill phlegmatisch. „Ist ja übrigens auch total piepe, wo er sein Geld her hat!“
Das Geld war aus Deutschland weg . . . tröpfelte erst ganz sachte wieder. Papa, der immer noch dick genug in der Wolle sass, wetterte täglich durch das Telephon nach den Fabriken, dass man mit dem Bruchteil eines Pfennigs kalkulieren müsse. Aber diese frohgelaunten, eleganten jungen Männer, mit denen man sportete und flirtete und foxtrottete — die hatten alle Geld. Immer. Für alles. Die sassen in einem der unzähligen deutschen Ministerien. Die bekamen irgendwie Einfuhr-Erlaubnisse nach Russland. Die hatten Beziehungen zur Finanz und lagen an der Börse richtig. Die manageten Patente. Die lunchten in den Luxusdielen mit südamerikanischen Diplomaten. Die unternahmen plötzliche Geschäftsreisen mit Bündeln von Balkanpässen. Sie sprachen nie von ihren Einnahmen. Das war etwas. Selbstverständliches, dass Berlin für sie sorgte. Sie besassen darin eine überlegene Ruhe.
Draussen wirbelten zwei Fingerknöchel im Morfetakt an der Tür. Geo, der Bruder, der stud. techn., weimerte.
„Kinder — lebt Ihr denn noch? Das ist ja langstielig. Der Wilm kippt schon aus Kummer einen Nikolaschka nach dem anderen. Und der Yo tanzt aus Rache mit ’nem dicken Scheusal aus Krakau! Du musst besser auf Deine Zukünftigen aufpassen, Lill! Ist Dir am Ende nicht recht hüblich?“
„Ich? Ich bin in grosser Form! . . .“ Lills rosig erhitzter, dunkelblonder Kopf lachte über blanken Schultern und blossen Armen im Türspalt. Der weisse Brustausschnitt hob und senkte sich erwartungsvoll atmend. Sie tänzelte, im kurzen, goldgestickten, hemdartigen Röckchen, über die Schwelle und den Gang entlang. „Ich dank’ meinem Schöpfer, dass ich wieder unter Menschen bin! Nun wird gehopst, dass sich die Balken biegen! . . . Ach. . . bis der olle Lift kommt . . .“
Sie wartete nicht darauf, sondern sprang die Teppichstufen der Treppe hinunter, ihr Gefolge ihr nach. Von unten schlug Hitze, Lichterglanz, Stimmengewirr herauf. Musik. Geschichten aus dem Wiener Wald . . .
„Lillchen döse nicht! Los!“
Lill war auf dem Stiegenabsatz stehengeblieben. Sie hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest und strich sich mit der anderen über die Augen, als ob ihr schwindelte.
„Da verzapfen sie schon wieder so ’nen kindischen Walzer — genau wie vorhin . . .“ sagte sie gereizt. „Ausgerechnet mir zu Ehren . . . Zu dumm . . .“
„Die Musikfritzen können doch nicht ahnen . . .“
„Nein! Von mir zu dumm! Nerven — das wär’ schon das Neueste! Ich kenn’ mich gar nicht wieder! . . .“ Lill stieg in die Halle hinab und wurde wieder heftig. „Spielt doch lieber gleich: Du bist verrückt, mein Kind!“ sagte sie und nahm sich unten in ihrem unruhigen Ärger den Wilm vor — Wilm Heerklotz — Junior-Chef von Heerklotz und Comp., Berlin, Seidenwaren en gros — der da geduldig wartete wie ein Bernhardiner, breitschulterig, freundlich, Hornbrille, glattrasiertes Phlegma. Derlei züchtete man sich nun auf Gemüt und stilisierte es auf derbe Eleganz . . . bloss, um wieder misverstanden zu werden — es war trostlos! . . . Sie stopfte dem Freund unwirsch den koketten seidenen Taschentuchzipfel unter die Frackklappe.
„Wilm . . . Du und neckisch!. . Da lachen ja die Hühner! Du musst korrekt sein! Treudeutsche Ruhe! Nichts darf Dich erschüttern . . .“
„Au!“
„Ach was — au! Ihr macht doch alles falsch! . . .“ Lill bastelte kritisch, mit krauser Stirn, an ihm herum. So! Nun hatte Wilm wieder etwas von nachsichtiger Behäbigkeit — der geborene Ehemann . . . ’ne Möglichkeit dazu wenigstens mal — stilvoller Kontrast zwischen seinem wuchtigen Kubismus und ihrer überzüchteten Schlankheit. Lill ging versöhnlicher weiter.
Aber da nahm neben ihr der kleine, hagere, unselige Fips — Fips Wendroth, Kammergerichtsgrösse, Turnier-Reiter und Tenniscrack — da nahm er das: Du bist verrückt, mein Kind! von vorhin wieder auf und summte weiter: „Du musst nach Berlin . . .“
Herrgott — man kam ja aus Berlin! Wär’ man lieber dort geblieben und gar nicht erst hierhergefahren! . . . Philipp Wendroth, der Rechtsanwalt, war eine Art von Respektsperson in diesem Kreis. Um ihn flitterte nicht so bloss der Flirt. Er war schon von seiner Frau — einer sagenhaften, grossen Unbekannten geschieden. Aber Lill hauchte ihn ärgerlich an:
„Still, Fips!“
„Du solltest ’nen Flip trinken, Lill — zur Beruhigung Deines Gemüts!“
„Nein. Jetzt wird erst mal feste getanzt!“ Lill stand am Eingang des Ballsaals. Drinnen fiedelten sie immer noch ihren Wiener Wald. Aber es war, als sängen dazwischen die walzenden Paare unheimlich im Kehrreim:
Du musst nach Berlin!
Wo die Verrückten sind,
Da gehörst Du hin!
Fips Wendroth war trocken lächelnd zur Seite getreten. Er hatte immer diese kühle Ironie, wenn nicht plötzlich, beim Plädieren, seine Suada wie ein geplatztes Stauwehrlosplatzte und unaufhaltsam den Gerichtssaal überschwemmte. Einglas. Grosse Glatze. Schön war er nicht. Er sah wie ein Jockei aus. Hager. Zäh.
An seiner Stelle löste sich Lämmchen Jericho aus dem Karussell von langen Lackpumps und schmalen Seidenschuhchen. Er war ein kleiner Bauchmensch. Der Smoking rundete noch niederträchtig seine Fettwölbung. Aber er tanzte flink wie ein Brummkreisel. Er war kein bisschen ausser Atem. Er stiess mit der Zunge an — aber das tat er immer — und fuchtelte mit den Ärmchen.
„Kommen Sie, Lill!“ lispelte er verklärt.
Lill blinzelte nachsichtig aus ihren schönen, kühlen, blaugrauen Augen auf den kleinen Berliner Kunstsammler hinunter. Lambert Jericho war glühend und hoffnungslos in sie verschossen. Offenes Geheimnis. In Gottes Namen. Ein Junggeselle. Aber nicht mehr jung. Schon leicht ergrautes Haar an den Schläfen. Man musste ihn distanzieren. Er war der einzige von dem ganzen Berliner Stosstrupp, mit dem Lill sich siezte.
„Ich bin wahnsinnig traurig, Lämmchen!“ sagte sie.
„Warum?“
„Weiss ich nicht!“
,,Jetzt kommt ein Charleston.“ Die Aussprache von „Charleston“ war für Lämmchen Jericho, bei seinem Zungenfehler, ein unlösbares Problem. Lill musste lachen.
„’ne Hopfenstange wie ich . . . und Sie . . . das ist pervers, wenn wir beide zusammen übers Parkett turnen! Wie oft ich Ihnen das schon gesagt hab’, Lämmchen!“
,,Schön! Sollen Sie mit Ihrem Seelenfreund tanzen!“ Der kleine Mann zog sich gekränkt zurück. Yo Wiebe kam und holte sich Lill. Mit Yo konnte man Staat machen . . . Vielleicht — möglicherweise — einmal auch als Mann und Frau. Kein Gegensatz wie beim Wilm, sondern Ergänzung. Zwei ganz moderne, dünn-rassige Mittel-Europäer. Sonst fuhren die Mädchen entrüstet auf und geboten den Müttern Schweigen, wenn die, nach ihrer altmodischen Art, in der Kameradschaft mit ihren Duzfreunden gleich die Morgenluft von Verlobungen und derlei Unsinn witterten. Flirt? — Ja . . . Das waren die Kosthappen fürs Herz! Aber heiraten: Um Gottes willen — das Köpfchen kühl!
Eben deswegen Yo! Für gewöhnlich Johannes Wiebe. Assessor im Ministerium. Baldiger Regierungsrat. Sonne von oben. Ein auffallend schöner junger Mann. Blasiert, unergründlich, wie ein Diplomat. Tadellos gewachsen. In London angezogen. Zurückhaltend. Überlegen. Der mondäne Ehemann, wie er im Buch stand.
Zufrieden war Lill doch nicht. Sie tanzte mit dem Yo. Sie liess sich von ihm führen und schaute ihm, während sie mit langen Schritten vor ihm zurückwich, starr in das harmlose Gesicht.
„Du machst heute wieder gar keinen lasterhaften Eindruck!“ rügte sie nervös. „Schmunzele nicht wie ein Postrat am Stammtisch! Wie soll man sich denn da mit Dir zeigen?“
„Herrgott — ich kann nicht immer dämonisch sein! Das ist ja Kaff!“
Lill seufzte. Das war das Unglück: der Yo war eigentlich gar nicht diabolisch, sondern eine ganz philiströse Natur! Er hatte nur dieses herrliche, angelsächsische Äussere: Salz und See . . . Londoner Klub . . . Schiffstuhl . . . Geishas . . . tote Tiger . . . die Welt im Film . . . Man konnte ihn — vielleicht auf Jéhan umstellen — Pariserisch . . . Aber Don Juans waren so gar nicht mehr modern. Sie rochen nach Kampfer. Auf jeden kamen sechs Gänse. Die gab’s heutzutage nicht mehr . . .
„Du — Lill — wollen wir nicht lieber uns zur Seite schlängeln?“
„Ich bin total auf der Höhe!“
„Du siehst aber aus wie ’ne Leiche auf Urlaub!“
„Soll ich mich Dir zu Liebe rosa antünchen? Ich bin kein Girl aus New York!“
Sie renkten weiter rhythmisch ihre Füsse durcheinander. Streng. Sachlich. Um sie lauter ernste, gesammelte Mienen. Dieser Tanz war Wissenschaft. War Sport. War Tempelübung des Körpers. Verlor sich, im weinerlichen Gequät des Saxophons, in Urzeit und Urwald schreitender schwarzer Menschen vor dem Schädelfetisch am Palmstamm. Pause. Yo drängte:
„Lill — willst Du nicht mal draussen mit dem Lippenstift . . .“
Aber Lill stand und klatschte wie die anderen in die Hände. Das Saxophon näselte los. Die Geiger pfiffen in Takt. Es ging weiter.
„Lill, pass’ doch auf . . . Ich treť Dir sonst heilig mal auf den Fuss!“
„Hast Du schon!. . . Wenn man so denkt: in dem andern Haus — dort drüben — tanzen sie jetzt auch . . .“
„Wenn’s den Leuten Spass macht!“
„Genau wie hier! Es ist lächerlich: Absolut kein Unterschied!“
„Sehr schmeichelhaft!“
„Die drüben denken: sie sind irgend was! Und wir hier denken: nee — wir sind’s! Wer hat nun recht?“
„Lill — das ist aufgelegter Quatsch . . . Au — warum krallst Du Dich denn mir auf einmal so in die Schulter? . . Wen ich da im Vorbeitanzen gegrüsst hab’? . . .! ’ne alte Exzellenz aus Berlin — aus ’nem Nachbarministerium . . .“
„Sind dem seine Orden auch aus Pappe?“
„Lill — Du phantasierst . . .“
„Ist kein Prinz hier im Lokal? Glaubt nur dem nicht! Das ist ein Friseur . . . Dort steht der Hoteldirektor! Der wird Dir gleich erzählen, dass er der liebe Gott ist! . . Kenn’ ich. .“
„Lill — nu aber Schluss mit Spiel und Tanz! Nun verzieh Dich gefälligst mit mir in den Drawing-Room! Setz’ Dich mal da hin . . . Was los ist?“ Yo Wiebe wandte sich zu Geo und Rix, die ihm gefolgt waren. „Nerven-Baisse bei der Lill!“
„Wart’! Ich bring’ Dich in unser Zimmer hinauf!“ Bine fasste sie unter dem Arm. „Du bist viel zu aufgeregt!“
„Das haben sie mir drüben auch gesagt . .“ Lill langte sich mit unruhigen Fingern eine Zigarette aus ihrem Silberdöschen. „Ich sag’s ja: Ihr dreht genau denselben Leierkasten . . .“
„Man sollt’ wirklich den Doktor . . .“
„Ach — lasst mich mit dem Doktor in Frieden!“ Lill stand auf. „Wilm: Feuer! . . . Mab: Aschenbecher! . . . danke . . . Ich weiss bloss seit einer Stunde mehr als Ihr! . . . Kinder . . . Ich war da drüben in der Anstalt . . .“
„Nu — wenn schon . . .“ Lämmchen Jericho stiess heftig mit der Zunge an. „Anstalt . . . Anstalt . . . Anstalt . . . So Anstalten gibt’s viele.“
„Eben. Das gibt’s“, sprach Lill. „Und wir haben keine blasse Ahnung . . . Fips — wenn Du wüsstest, wie wenig Deine ironischen Naslöcher zu dem passen, was ich sage! — wir sind wie die Spatzen: wir denken über nichts nach.“
„Die Lill philosophiert!“
„Wir glauben, es muss so sein. Wir leben so hin!“
„Ausgerechnet die Lill philosophiert!“
„Aber nun sieht man mal die Kehrseite vom Leben! Ach — — ich bin so nachdenklich . . . so gedrückt . . . Tanzt Ihr nur weiter . . . Gute Nacht! . . . Nein — nein . . . Komm keine mit mir ’rauf! Ich geh’ jetzt schlafen!“