Читать книгу Lill. Der Roman eines Sportmädchens - Rudolf Stratz - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеDraussen graute der Oktoberabend im rötlichen Stangengewimmel der Grunewald-Föhren. Zwischen ihnen, vereinzelt, lagen fern von Berlin die Häuser der Reichen. Lill kniete in dem würzig-warmen, elektrisch hellen Pferdestal, der rechts an Papas Villa angebaut war, wie links die Garage, und salbte noch einmal eigenhändig die festen, kurzen, runden Hufe ihres Turnier-Springpferdes „Zappelphilipp“. Das goldene Kerlchen sollte wie aus dem Ei gepellt vor den Richtern und dem Publikum erscheinen, gerade heute, an dem grossen Abend der Entscheidung. Sie sprang auf und hätschelte beschwörend ihren Liebling, einen kleinen nervigen Hengst mit feurigen Augen und drahtigen Beinen. Sie faltete die Hände vor der Brust:
„Zappelchen — das Geld ist uns schnuppe! Aber wenn wir ’ne Schleife kriegen . . .“, sagte sie und bot die letzte Trennungs-Mohrrübe auf dem Handteller. Der Rechtsanwalt Dr. Wendroth neben ihr zwinkerte trocken über das hagere, bartlose Sportgesicht. Er war schon in Turnierdress. Die weitbauschigen Breeches passten zu der schmächtigen, zähen Gestalt des Herrenreiters. Er sah wie ein Jockei aus.
„Halt ihm nur bis zum letzten Augenblick den Kopf fest!“ riet er. „Über höher als anderthalb Meter kriegt das Luder Nerven!“
„Haft du gehört, Zappel, der böse Onkel schimpft dich! Zeig’s ihm nur, was du kannst!“ Lill spigtzte die roten Lippen und drückte dem kleinen Vollblut einen leidenschaftlichen Schmatz auf die feuchte Schnauze. „Ach — Du Wonnekloss — Du!“ Sie nahm mit einer Umarmung um den Hals Abschied. „Fips — ich bind’ ihn Dir auf die Seele!“
„Weine nicht! Mit meinen beiden ollen Wallachs draussen zusammen tippelt er ganz fromm nach Berlin hinein!“
„Also Gottes Segen bei Cohn! Los, Fritze!“
Der kleine Groom klemmte sich, die Sportmütze schief im Genick über dem Gesicht einer vierzehnjährigen Berliner Rübe, bügellos auf die Stalldecke und fasste die Trense. Das Gäulchen stelzte in die Nacht hinaus. Draussen, vor dem Gitter, war auch Philipp Wendroth auf den einen seiner Turnierspringer gestiegen. Den anderen ritt ein Stallmann.
„Du weisst, Lill: Du kommst um 19 Uhr 40 in der dritten Abteilung ’ran! . . . Sei nur rechtzeitig da!“
„Ich pell’ mich jetzt an und komm’ gleich im Auto nachgesaust!“
,,Also Arm- und Beinbruch!“
„Danke. Gleichfalls!“
Das Getrappel der Springpferde verhallte im Schritt zwischen den Schienen der Elektrischen die lange, dunkle, stille Grunewaldstrasse hinab. Lill ging hinüber in das Elternhaus. Im Tanzsaal zur ebenen Erde war Licht und Musik. Der Lautsprecher verzapfte auf der Deutschen Welle das Five o’clock-Konzert aus einer Berliner Hoteldiele. Da schoben sie richtig schon wieder einen Black-Bottom, nachdem sie den ganzen Nachmittag bis zur Erschlaffung Tennis gespielt hatten: der Bruder Geo, der Charlottenburger Student, der neuerdings schon beinahe mit dem Einglas in der harmlosen Visage schlafen ging, und seine Seelenfreundin, die Emilie Kneuper, die LangstreckenSchwimmerin. Und Baby Schwingenstein war von nebenan gekommen und Lills frommer Knecht Fridolin, ihr Page, der Bankvolontär Frid Meinhold, ein noch ganz blutjunger Mensch mit wunderschönen, schwermütigen Augen, der zu allgemeinem Jocus zuweilen Verse machte — richtige, sich hinten reimende Verse auf Lill. Und die süsse schwarze Bine, die falsche Katze, war da. Sie hatte keinen Partner. Die spillerige Herbstzeitlose, die Mab, das Mädchen für alles, musste mit ihr als Herr tanzen.
„Als Herr? Nee — als Herrlein!“ sprach die Athletin Emilie Kneuper, eine Flachsblonde, riesige, bildschöne Germania — einen halben Kopf grösser als ihr Freund Geo — mit einem ruhigen, regelmässigen Antlitz und gebieterischen Blau-Augen. Sie bewegte sich pomadig-kraftbewusst. Sie hatte eine tiefe Stimme: „Na ja: Ich bin nicht verheiratet — Gott sei Dank — und darum bin ich nicht Frau, sondern werde Fräulein geschimpft. Also ist ein unverheirateter Mann auch noch nicht ein Herr — das wird er erst auf dem Standesamt — sondern ein Herrlein! Ich werde künftig ,gnädiges Herrlein’ zu Dir sagen, Geo! Wir lassen uns immer noch viel zuviel von den Männern gefallen!“
„Gut gehustet, Emil!“ rief Baby Schwingenstein. Sie war winzig klein und hatte neugierige vorstehende Puppenaugen wie aus Glas.
„Baby — wenn Du schon Deinen Berliner Brotladen aufmachst!“
„Baby hat keinen Partner! Sie giftet sich, weil der Fips die ganze Zeit bei Dir im Pferdestall gesteckt hat!“
„Ach — Ihr verbuhlten Kröten . . .“ Lill lehnte lang, dünn und hübsch auf der Schwelle und überblinzelte wohlwollend aus ihren halbgeschlossenen graublauen Augen den Flohtanz. „Nee — danke! Weg, Fridolin! Mir ist’s jetzt nicht ums Hopsasa! Was glaubt Ihr, was ich für Sorgen um Deutschland im Kopf hab’! Lacht nicht so dumm! Ich treff’ heute in meiner Abteilung auf den Schweden! Der Knabe reitet ein unheimliches Tempo über die Hindernisse. Überhaupt: Ich muss vier lebensgrosse Männer schlagen: noch ’nen Grafen —, ’nen Stallmeister und ’nen Reichswehrleutnant! Wir Frauen haben es nicht leicht!“
„Gott — die Männer . .“, sagte Emilie Kneuper, die preisgekrönte Kugelstemmerin und Diskusschleuderin. Sie hatte die Figur der Venus von Milo. Einen Brustkasten wie ein Mann.
„Jawohl, Emil — Du deutsche Eiche! Ihr kämpft nett untereinander! Herren und Damen getrennt! Bloss im Turniersport — da gibt’s kein schwächeres Geschlecht! Na — tanzt nur weiter!“ schloss Lill mitleidig und stieg die Treppe hinauf in ihre Zimmer. Die Reitausrüstung — Schossrock, lange Hosen mit Lederbesatz und Stegen, wildlederne Unterbeinkleider, gespornte niedere Stiefel, schwarzer, steifer, runder Filzhut — lag schon bereit. Sie fing an sich umzuziehen und rief, als es klopfte:
„Komm’ nur ’rein, Mama! Da ist ein Stuhl frei! Also ungelogen: Du bist heute in blendender Kondition!“
Frau Bödiger war in der ersten Hälfte der Vierzig. Gross und schlank wie ihre Tochter, dunkler, in champagnerfarbener Seide. Sie konnte noch Ansprüche machen. Besonders die Augen waren noch jung. Das Lächeln dreissigjährig. Die Fältchen wegmassiert. Die gesellschaftliche Gesamtwirkung durchaus interessant.
Lills Mutter war durch das Zimmer gerauscht und hatte sich gesetzt. Sie war ein wenig ausser Atem. Jetzt fing schon sachte die Saison an. Mit der Saison war bei Mama nicht zu spassen. Die Weltdame hob liebenswürdig das Haupt. Sie trug einen Bubikopf wie ihre Tochter.
„Willst Du mir einen Riesengefallen tun, Lill?“
„Selbstmurmelnd, Mama!“
„Dann bleib morgen abend ’mal ausnahmsweise daheim!“
„Ihr habt wohl Gäste — Du und Papa?“ forschte Lill misstrauisch. „Das wird ja wahnsinnig langstielig!“
„Aber Papa zuliebe . . .“
„Morgen? . . . Warť mal . . . Ausgeschlossen!“
„Wo musst Du denn durchaus hin?“
„In den Boxabend!“
„Geht das nicht auch ohne Dich, dass sich da ein paar frühere Metzgergesellen oder derlei die Nasen einschlagen?“
„Metzgergesellen ist gut! Da besieh Dir mal den Herrn von Orff aus der Nähe!“
„Orff? Kenne ich nicht! Wer ist es denn?“
„Gott — ’n Freund von mir!“ Lill knöpfte sich die Stulphandschuhe zu. „Eigentlich kein Freund von mir, sondern ein Bekannter! Das heisst eigentlich kein Bekannter von mir! Ich hab’ nur mit ihm zusammen vor drei Wochen das Gemischt-Doppel gelandet und ihn seitdem nicht wieder gesehen . . . Na also, ich sag’ Dir, ein Greuel von einem Menschen . . .“
„Weswegen interessiert er Dich denn dann?“
„. . . weil er doch morgen als Amateur gegen den kalmückischen Riesen antritt!“ rief Lill in Sporthitze.
,,Darf er denn das?“
„Natürlich nur zu wohltätigem Zweck — seinerseits! Er hat trotzdem die tollsten Scherereien mit seiner Sportbehörde! Aber wenn der Orff was will . . . der Kampf steigt ganz bestimmt. Ganz Berlin ist ja schon in Aufregung!“
„So? Nun — ich hab’ heute in der Stadt Besorgungen gemacht und fand das Strassenbild noch ruhig!“ sagte Frau Bödiger. „Lill — ich bin wirklich nicht so! Aber eine junge Dame der Gesellschaft gehört nicht in einen Boxmatch! Das ist Männersache!“
„Ja. Leider. Der einzige Sport, den wir Frauenzimmer nicht ausüben können!“
„Du bist jetzt zweiundzwanzig, Lill! Du kannst mit solchen Erzentrizitäten mal wirklich Deinen Heiratschancen schaden! Du bist doch schon, könnt’ man sagen, halb und halb verlobt . . .“
„Was bin ich?“ frug Lill schnell und gereizt und zwinkerte drohend mit den Augen.
„Mit dem jungen Heerklotz . . .“
„Das ist mein Freund . . .“
„Oder mit dem jungen Wiebe . . .“
„Das ist erst recht mein Freund!“
„Eben stakst Du eine Stunde im Stall mit dem Dr. Wendroth — einem geschiedenen Mann!“
„Das sind alles meine Freunde! Wir wissen schon selber, wann wir mal heiraten und wen wir heiraten! Das ist ’ne Sache für sich. Das hat mit unserer Kameradschaft draussen gar nichts zu schaffen! Wir wollen nur ein paar Jahre freie Menschen sein und nicht bloss Bähschafe auf dem Heiratsmarkt . . . Wir wollen uns erst mal selber körperlich und geistig finden und entwickeln, um mal ernsthaft zu reden! Für mich ist der Sport dasselbe wie für Dich Dein Salon . . .“
„Mein Gott — hindere ich Dich denn? Das hab’ ich längst aufgegeben! Wir Mütter alle! Es würde ja auch nichts helfen . . .“
„Na eben, Mama!“ sagte Lill versöhnlich. „Nun vertragen wir uns wieder! Sei unbesorgt! Mir tun die bösen Männer nichts. Ich kenn’ sie. Ich weiss genau, was ich zu tun hab’! Ich hab’ mich so fest in der Hand wie meinen Gaul! Und nun ist’s höchste Eisenbahn, dass ich ankurbele und nach Berlin hineinpace! Adieu, Mama!“
Lill drückte mit ihren roten Lippen der Mutter einen sanften Kuss auf die Wange. Es war eine mädchenhaft weiche, beinahe kindliche Bewegung. Sie stieg, in ihrem Männer-Reitanzug, vorsichtig die Treppe hinab, mit seitlings aufgesetzten Stiefeln, um nicht mit den Sporen am Teppich der Stufenkanten hängenzubleiben. Im ersten Stock war Radau um das Telephon. Die ganze Blase — das Baby, die Bine, der Frid, die Mab, der Bruder Geo wiederholte, die Muschel am Ohr, die Meldungen von den heutigen Nachmittagsereignissen im Concours hippique:
„Still doch, Baby — also Materialprüfung. Preis des Landwirtschafts-Ministeriums. Klasse I für Drei- und Vierjährige . . .“
Lill fesselte das nicht. Nur der Sport des Abends — das wilde Jagdspringen, mit Totalisator, Buchmacher, krachenden Hürden, Lärm. Sie liess das Gegacker am Fernsprecher hinter sich. Aber sonderbar — wie sie zum Erdgeschoss hinabstieg, tönte, durch den Spektakel oben, durch die tiefe Stille unten, eine gleichmässig laute, weiche, merkwürdig eindringliche Männerstimme. Die fremde Stimme sprach in einem fort. Niemand unterbrach sie . . .
Ein Geschäftsfreund von Papa? So lange hörte der ja gar nicht zu. Ausserdem kam er immer erst kurz vor Tisch mit achtzig Kilometer aus Berlin angetöfft. Besuch für Mama? Aber die sass ja oben. Also wer schwang denn da eigentlich eine Volksrede und vor wem? Auch noch etwas von Sport — schien es . . . Lill horchte. Die Männerstimme verkündete langsam und deutlich:
„Was war das Schicksal der klassischen Heimat aller Leibesübungen? Was wurde aus Hellas? Nun — dies unerreichte Vorbild körperlicher Harmonie erwies sich — die Perser ausgenommen — als hilflos gegen jeden äusseren Feind. Griechenland seufzte durch mehr als zwei Jahrtausende ununterbrochen unter dem wechselnden Joch der Makedonier, Römer, Byzantiner, Franzosen, Spanier, Venezianer und Türken.“
Wo kam denn das Gequatsche her? Lill schaute sich um. In der Diele war keine Menschenseele. Es fing wieder an.
„Die deutsche Unsterblichkeit liegt in dem Faust von Goethe und nicht in der Faust des Boxers. Muskelrausch, Athletenvergötterung, Kniefall vor dem Körper waren immer Anzeichen dafür, dass eine Zeit ihren kranken Geist aufgab. An seine Stelle tritt dann der gesunde Leib. Aber er ersetzt ihn nicht. Nie wird der Diener den Herrn, der Leib den Geist ersetzen!“
Das Gekolke kam aus dem leeren Tanzsaal nebenan. Lill lief hinein und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirne. Na natürlich: Wie das Telefon oben bimmelte, war die ganze Gesellschaft vom Tanz weg zu den Sportnachrichten hinaufgestürmt und hatte verschwitzt, das Radio abzustellen. Nun war da inzwischen die Teemusik zu Ende, und es hatte ein Vortrag begonnen.
„Was ist Spanien von seiner Weltherrschaft geblieben? Nur das Stiergefecht als Totenfest!“ tönte es aus dem Lautsprecher. Lill schaute mit krauser Stirn hinein. Diese weiche, sanfte Stimme erschien ihr auf einmal bekannt. Eine Erinnerung kam ihr. Sie trat zum Tisch, blätterte das Wochenprogramm auf. Richtig: Heute — von 18 Uhr ab bis 18 Uhr 25 Minuten Vortrag des Dr. med. Ludwig Hormuth: „Die kranke Zeit.“
„Die Krankheit unserer Zeit heisst Abzehrung im Geist. Wir haben unser geistiges Erbe ausgeschlagen, weil wir nicht mehr an dies Erbe, an die überkommenen Tafeln der Gesetze, glauben. Der neue heilige Geist aber will uns nicht erscheinen. Inzwischen löst sich der Körper von der Kette. Daher die Massenflucht aus der seelischen Sahara in das trügerische Mekka der Muskeln . .“
„. . . ach was . . .“ Lill tippte, den Blick schon nach dem Auto draussen, mit dem Zeigefinger auf den Kopf. Plötzlich war alles still.
Um den Dr. med. Ludwig Hormuth in seiner Zelle, vier Treppen hoch in der Potsdamer Strasse, war überhaupt schon die ganze Zeit hindurch alles still. Er stand und sprach in die geheimnisvolle, faustgrosse, längliche weisse Kapsel vor ihm. Er vernahm nur seine eigenen Worte. Er wusste nicht, hörten Hunderte zu, Tausende, Zehntausende? In Berlin? In Deutschland? In Europa? Es kam kein Widerhall aus der grossen Leere.
Der Jrrenarzt machte eine grosse Pause. Er wandte über die etwas zu hohe rechte Schulter das feine, blasse, kränkliche Gesicht mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart zu dem Stoss seiner winzig bekritzelten Manuskriptblätter und nahm das nächste. Er las weiter, den zartgeschnittenen Mund gegen das Mikrophon, die dunklen Augen auf den Zeilen. Von oben überspiegelte das elektrische Lämpchen die hohe, mächtig gewölbte Stirn und den für den dürftigen Körper zu grossen, kahl schimmernden, nur seitlings von schwarzem Kraushaar umkränzten Schädel.
Nun hatte er geendet. Er öffnete die Polstertür seines Verschlags, schritt über die dicken Teppiche des Ganges, an dessen Wänden in grossen Lettern das Wort „Ruhe!“ leuchtete, langte im Künstlerzimmer seinen Mantel aus dem Schrank und fuhr im Lift hinunter in das lichterhelle, abendliche Gewoge Berlins.
Auf der Strasse kaufte er sich eine Abendzeitung und setzte sich damit in ein Kaffeehaus am Potsdamer Platz. Er konnte von da das Zifferblatt der Normaluhr sehen. Sein Gepäck war schon auf dem Bahnhof. Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zur Heimfahrt. Er schaute auf den Berliner Betrieb hinaus. Auf dem Verkehrsturm wechselte farbiges Licht. Die Schupos unten müllerten. Die Strassenbahnwagen, Autos, Fuhrwerke schoben sich wie grosse Käfer dahin. Schwarze Ketten von Fussgängern kribbelten schnell, gleich Ameisen auf der Wanderschaft, zwischen ihnen durch. Der kleine, blasse Herr beobachtete es längst nicht mehr. Er hielt die Zeitung vor die Augen. Er las das Programm für den letzten, heutigen Abend des Concours hippique. Ross und Reiter wurden hier in Randbemerkungen gewürdigt. Da stand auch: „Inwieweit ,Zappelphilipp’ unter Fräulein Bödiger, der bisher unerwartet gut abschnitt, in dieser hohen Klasse etwas zu suchen hat, wird ja der Verlauf der Dinge lehren . . .“
Nun mahnte die Normaluhr: Zeit zum Zug. Dr. Hormuth sprang hastig auf, zahlte, winkte draussen einen Taxameter . . . Zögerte . . .
„Wissen Sie eigentlich, wo heute abend der Concours hippique ist?“ frug er den Chauffeur. Der Mann nickte. Wartete. Und steuerte, da der Gast wortlos einstieg, den Wagen durch die Brandung des Potsdamer Platzes zum Westen, in der Richtung zum Pferdeturnier.
Als eine kleine Reitbahn in irgedeinem Tattersall mit einem schütteren Kranz wohlwollender Sachverständiger und Familienangehöriger umher — so ungefähr hatte sich der Arzt aus der Provinz den Tummelplatz eines Concours hippique vorgestellt. Er stand am Eingang einer beinahe unabsehbaren, unwahrscheinlich sich in der Ferne verlierenden kirchenhohen Raumwölbung. Er sah auf ein Meer von Tausenden von Köpfen bis hoch zu der bläulich umwölkten Galerie. Die Riesenhalle schwamm in einer Flut von Licht. Sie war von schmetternder Musik überrauscht, von Stimmengewirr wie vom Summen eines Bienenschwarms durchbraust. Wo kamen alle diese Menschen her — alles gut angezogene Herren und Damen, die ruhig und gesittet, mit gespannten und befriedigten Gesichtern, in ihren Logen und auf ihren Sesselreihen sassen! Was verstanden die Berliner von Gäulen? Aber da war ein jähes Händegeprassel, begeisterte Bravorufe um einen jungen Reichswehr-Offizier, der wie ein grauer Blitz plötzlich auftauchte, in einem Zug über ein Dutzend Hürden oder mehr dahinschoss und ebenso schnell wieder verschwand. Ein Tosen von Beifall hinterher. Eine reine Freude an Mann und Ross und Tat bei all diesen unzähligen Leuten, von denen nur die allerwenigsten je auf einem Pferderücken gesessen haben konnten. Der Jrrenarzt ahnte plötzlich etwas von der weltwerbenden Macht des grünen Rasens, des gelben Sandes, des weissen Schnees, der Matte und des Rings über die neuen Menschen. Er hatte bisher den Sport nur als den Drillmeister für eine Handvoll Fussballkönige, Meisterjockeis, Boxerchampions, Tenniscracks, Autorennhelden betrachtet. Nun sah er ihn als Seelenfänger für hundert- und tausendmal so viel ganz unbeteiligte, im Geist mitlebende Menschen.
Die Halle, in der die Bevölkerung einer deutschen Kleinstadt Platz fand, war so gut wie ausverkauft. Ludwig Hormuth bekam noch eben hinten in einer Loge einen Stuhl. Vor ihm sass ein braungebrannter Herr mit Frau und Töchtern. Agrarier. Er staunte über diese Familie. Sie brachte es fertig, auf den ersten Blick ein Pferd vom anderen zu unterscheiden! Sobald ein neuer Gaul ganz im Hintergrunde erschien, stellten sie, ohne einen Blick in das Programm, einstimmig und halblaut fest, dass es sich um „Geisterkönig“ vom „Minnesänger“ aus der „Maus“ oder um „Rumpelstilzchen“ vom „Taugenichts“ aus der „Sachsenliesel“ handelte. Ludwig Hormuth erfuhr von ihnen, dass man sich mitten in der zweiten Abteilung befand. Er dankte und bemühte sich, ebenso interessiert zuzuschauen wie die andern. Aber er konnte deren Neugier nicht begreifen. Es war ja immer dasselbe: Jrgendein Herr — Reiterinnen schien es vorläufig nicht zu geben — jagte in einer Eile, als würde er verfolgt, über die Hürden. Manchmal warf er sie um. Manchmal nicht. Dann kam der nächste. Zugleich erschienen oben an der Querwand riesige, zu Namen aneinandergereihte Pappbuchstaben und geheimnisvolle Ziffern von Minuten und Sekunden. Und viele Leute schrieben sich das stirnrunzelnd in ihre Programmhefte und rechneten halblaut.
Lill Bödiger sollte erst in der dritten Abteilung kommen. Gott mochte wissen, wann die dran war. Der kleine, blasse Mann in der Loge ertappte sich auf der Frage: Was tust Du denn eigentlich hier? Mit Deiner verwachsenen Schulter? Dir sieht doch jeder an, dass Du kein Sportsmann bist und sein kannst — obwohl das Publikum ringsum viel zu wohlerzogen und höflich ist, um darüber auch nur mit der Wimper zu zucken . . .
Plötzlich stand er auf und schritt hinter den Zuschauerreihen dem Ausgang zu. Er kam an einer Art von Postschaltern vorbei, hinter denen Beamte sassen. Der Totalisator. Man konnte da auf die Springpferde wetten. Er wusste nicht, wie man das anfing. Er ging weiter. Seitlings lehnten einige Männer, mit dicken, umgehängten Ledertaschen, Notizbücher und Tintenstifte in den Händen. Auf einer Schiefertafel dahinter waren mit Kreide Pferdenamen und rätselhafte Zahlen angemalt. Da stand auch „Zappelphilipp“.
Ein junger Herr trat heran und sagte nachlässig zu einem dicken Mann: „Legen Sie mir mal zehn Emmchen auf ,Pharao’!“
Hier war es also ebenfalls möglich, zu setzen. Ludwig Hormuth empfand plötzlich eine unbezwingliche, herzklopfende Lust zu diesem Abenteuer. Er näherte sich dem Buchmacher, der ihn geschäftsmässig frug:
„Was soll es sein, Herr?“
„Ich möchte hundert Mark auf Fräulein Bödiger wetten!“
Die Leute umher lachten. Er wusste nicht, warum. Der Buchmacher frug seinen Gehilfen am Tisch.
„Fräulein Bödiger . . . August: Geht der ,Zappelphilipp’? Ja? Bitte — hier, mein Herr! . . . Danke!“
„Na — Sie kriegen ja schön lange Odds!“ sagte der junge Sportfreund von vorhin. Der kleine Arzt wusste nicht, was das hiess und ob lange Odds eine Schmeichelei für Lill und ihr Pferd bedeuteten. Es schien ihm eigentlich nicht der Fall. Er kehrte auf seinen Platz zurück. Er fühlte sich auf einmal tief befriedigt. Innerlich gehoben. Aus der Vereinsamung erlöst. Mit Lill und dem Treiben umher und der ganzen Menschheit im Saal durch ein gemeinsames Band verflochten. Alles wegen eines Stückchens Papier in der Tasche. Er kannte sich selber nicht mehr. Aber er lächelte still. Er setzte sich erwartungsvoll zurecht.
Denn nun begann die dritte Abteilung. Völlig anders als bisher. Es ritten hintereinander ein Dutzend Reiter und mehr in den Raum. Sie dachten nicht daran, zu springen. Sie lenkten ihre Pferde im Schritt hin und her, durcheinander, wie Kraut und Rüben. Der blasse Kleine Arzt sah Herren in Zivil, ein paar Husaren und Kürassiere in den bunten, schon sagenumwobenen Attilas und Überröcken der alten, grossen deutschen Armee, einen ausländischen Offizier in fremdartiger Uniform — aber eben nur Männer. Er war verstört. Sein Herz stand still. Er hielt es nicht aus. Er beugte sich vor und frug den Ostelbier vor ihm.
„Verzeihen Sie: Sollte jetzt nicht auch eine Dame mitreiten?“
„Ja. Die Bödiger!“ rief eine von den Töchtern vorn.
„Aber sie ist ja nicht da!“
„Die Lill?“ Das junge Mädchen schien sie zu kennen. „Dort drüben hält sie ja! Nun zieht sie weiter!“
Ein schmalschulteriger hübscher junger Herr, die schwarze Melone über dem kühl sachlichen, gesammelten Gesicht, mit hohem Stehkragen und schwarzer Binde, ritt langsam heran. Er trug einen, in langen Schössen beiderseits herabfallenden schwarzen Taillenrock. Die dünnen, geschmeidig dem Pferdeleib angelegten Beine staken in langen, schwarzen Hosen. Die beiden, Herr und Tier, hielten vor jeder Hürde inne und betrachteten sie genau.
„Sehr gut, dass sie ihrem Gaul noch einmal die Hindernisse zeigt!“ brummte der Agrarier. „Der Katze war die Angelegenheit gestern schon zu hoch!“
„Das Tier ist nervös, weil die Bödiger nervös ist! Sie zeigt’s nur nicht!“ sagte das eine junge Mädchen.
Lill war jetzt ganz nahe. Der Irrenarzt sah auf wenige Schritte das jugendliche, ein wenig herbe Profil mit dem halb offenen Mund, die dunkelblonden Haarwellen hinter dem Ohr, die allein, in dem Männeranzug, ihr Geschlecht verrieten, den gertenschlank im Sattel aufgerichteten Oberkörper. Lill blickte nicht herüber. Sie hatte kein Auge für das Publikum. Sie war nur damit beschäftigt, ihrem unruhig die Ohren spitzenden „Zappelphilipp“ Mumm für die grünen Tannengeflechte und losen Stangen der Hindernisse beizubringen. Dann legte sie leise die dünne, linke Wade an das Pferdehaar, verkürzte die linke Faust und sprengte in verhaltenem Galopp dem Ausgang zu. Die Glocke läutete. Die Bahn leerte sich.
Dr. Hormuth begriff: Jetzt ging es erst los. Sein Herz hämmerte. Mit Ungeduld empfing er den ersten Reiter: einen langen Grafen in feuerrotem Parforcefrack und schwarzer Samtkappe, der stürmisch auf einem riesigen Gaul über die Hürden fegte. Es krachte hinterher ein bisschen . . .
Dann ein schnurrbärtiger Stallmeister — ein schöner Mann. Er streifte zweimal mit den Hufen seines Schimmels die Hindernisse und ritt ab.
Der Schwede in der Arena. Eine schnelle, ganz lautlose Angelegenheit. Kein Poltern von Holz in der Totenstille. Keine Strafpunkte. Höfliches Händeklatschen.
„Die Bödiger ist aufgeregt!“ sagte vorn in der Loge sachkundig die eine der beiden jungen Ostelbierinnen. Der kleine, blasse Herr hinten hätte sie für die Bemerkung prügeln mögen. Aber auch der agrarische Papa zuckte umständlich seinen Bleistift zum Notieren.
„Kinder — ich fürchte, jetzt gibt’s Holzauktion! Na ja — da haben wir’s schon . . .“
Lill war losgeritten. Im Hui über die ersten Hindernisse. Hinter ihr prasselte allerhand zu Boden.
„Umwerfen mit den Hinterbeinen: drei Fehler unter Brüdern!“ murmelte die etwas knarrende Stimme vom Lande.
Lill schwenkte ein. Sie kam schräg über die Bahn. Auf eine neue Hürde zu.
„Gut!“
„Bravo!“
„Immer feste! Ganz nett macht sie’s! Ganz nett!“ sprach beifällig der alte Kavallerist und Rennreiter. „Nun kommt sie an uns vorbei! Herrgott: Hintern Hoch! So!“
Lill flog vor Dr. Hormuths starren, dunklen Augen über die Hürde. Sie duckte sich, mit hochgezogenen Knieklammern frei im Sattel vornüber wie eine Katze, die Fäuste hart an den Pferdeohren. Ihre Miene war wild und entschlossen. Nur noch zwei Sprünge. Das erste schwache Beifallklatschen. Eine jähe Bewegung . . .
„Herrgott — das Luder von Gaul bricht aus . . . Hände ’ran . . .“ Der Ostelbier hob sich halb vom Stuhl.
„Sie schmeisst ihn noch ’rüber, Papa!“
„Nein! Er refüsiert! . . . Um Gottes willen . . . Sie fällt . . .“
„Plumps — da haben wir’s . . . Solo über den Hals weg übers Hindernis!“
Ein Gepolter. Stimmengewirr. Vereinzelte Rufe.
,,Da sitzt das arme Kind auf dem Sand! Macht fünf Fehler.“
,,Ach wie schade . . .“
„Aber sie hält die Zügel . . .“
„Sie helfen ihr auf! . . Respekt! . . . Sie krabbelt weiss Gott wieder auf ihre Ziege! Nu aber feste!“
Eine atemlose Stille. Ein Brausen der Enttäuschung.
„Diesmal ist der ,Zappelphilipp’ hoffnungslos mit ihr abgeschrammt!“
„Im Bogen über die halbe Bahn!“
„Zweimaliges Verweigern hintereinander vor demselben Hindernis schliesst aus! . . Nichts mehr zu machen! Schluss!“
,,Da reitet sie ja auch schon geknickt im Schritt aus der Bahn.“
„Ach Gott — sie blutet ja! Sieh mal, Papa: Ihr Stehkragen hinten ist ganz rot!“
Lill war am Ausgang. Sie klatschte, ohne den Kopf nach rückwärts zu wenden, dem „Zappelphilipp“ ein paar erbitterte Hiebe mit der Reitpeitsche über den rechten Hinterschenkel und bog um die Ecke.
„Wütend ist sie . . .“, sagte das eine Fräulein vom Land in der Loge. Und ihr Vater:
„Pech! . . . Und so nett — die Mariell, in ihren Höschen . .“
„Leopold . . .“, mahnte die Mutter matt. Die andere Tochter lachte.
„Ich glaub’, die Lill hat einen stillen Verehrer hier in der Loge sitzen gehabt . .“
„Hörst Du’s, Leopold? Deine eigenen Kinder . . .“
„Nein. Ich mein’ nicht den Papa, sondern den kleinen, verwachsenen Herrn hinter uns! Gleich nach der Katastrophe ist er verstört aufgesprungen und nach hinten gerannt . . .“
Am Eingang zu den Ställen und Kabinen wehrte ein Mann mit einer Armbinde dem Dr. Hormuth.
„Hier ist kein Einlass für das Publikum, mein Herr!“
„Aber ich bin doch Arzt! Die Dame hat sich doch bei dem Sturz verletzt.“ Der Jrrenkliniker drängte sich hastig an dem Beamten vorbei. Er kam in den Vorraum, in dem die Turnierreiter auf ihr Klingelzeichen warteten. Er geriet mitten unter die Pferde. Die Tiere hatten zum Teil Lampenfieber. Ein Gaul stieg unter einem ReichswehrWachtmeister kerzengerade in die Luft. Ein anderer keilte nach hinten aus, dass die Brocken flogen. Ludwig Hormuth rettete sich durch einen Seitensprung und streifte das Bein eines Herrn, der sich mit seinem wild wiehernden Fuchs im Kreise drehte. Der Herr bat freundlich:
„Machen Sie mir den Hengst nicht ganz verrückt! Das Biest hat schon gerade an den Stuten genug . . .“
„Gehen Sie lieber weiter, wenn Sie mit Pferden nicht vertraut sind!“ riet, aus dem Sattel herab, ein anderer Herr auf einem schweissnassen, von Schaumflocken weiss gefleckten Rappen. „Sie kriegen sonst womöglich noch was ab!“
Ludwig Hormuth stand jetzt in einer Art von breitem Stallgang. Hier ging es ruhiger zu. Es sah aus wie hinter den Kulissen eines Zirkus während einer Galapantomime. Oder wie auf einer Parade Friedrichs des Grossen. Offiziere, bezopft, mit Dreispitz, in den Uniformen des Siebenjährigen Krieges, zwischen ihnen, auch hoch zu Ross, ebensoviel gepuderte Damen in blauen Armeefräcken über schwarzen Reitröcken, mit zitronengelben und karmoisinroten Aufschlägen und goldenen und silbernen Borten. Ein wilder, schwarzbärtiger Zietenhusar mit hoher Bärenmütze, in scharlachrotem Dolman, ein Gewimmel von Schlangenköpfen auf Zaum- und Sattelzeug, beugte sich von seiner Tigerdecke nieder:
„Ach bitte — dieser Platz ist zur Versammlung der Quadrille nachher reserviert.“
Der Arzt hatte auch das hinter sich. Vor ihm waren jetzt nur vereinzelte ledige Pferde, Stall-Leute, Gruppen von Herren und Damen — die meisten im Reitanzug. Da stand auch Lill unter ihren Freunden . . .
Ihr schwarzer Herrendress war über und über bestaubt. Die schwarze Melone hatte eine tiefe Delle. Die schwarze Binde sass schief. Der weisse Stehkragen war zerknittert und an einer Seite blutbefleckt. Sie bemühte sich, kühl und gleichgültig auszusehen und sogar zu lachen. Aber ihr hübsches Gesicht war doch noch sehr blass. Unter dem linken Ohrläppchen klebte ihr, mit einem dünnen Heftpflasterstreifen befestigt, ein kleiner Wattebausch.
Erst erkannte sie den Arzt nicht, der auf sie zutrat, und schaute ihn erstaunt aus ihren graublauen Augen an. Dann kam in die ein feindseliger Ausdruck.
„Gott — Sie sind das . . .“, sagte sie. „Ja — jetzt begreif’ ich alles . . .“
„Haben Sie sich etwas getan, gnädiges Fräulein? Ich wollte mich auf alle Fälle zur Verfügung stellen. Ich bin Arzt . .“
„Denken Sie denn, wir hätten hier keinen?“ frug ein hagerer, glattrasierter Herr in weiten Breeches, der wie ein Jockei aussah. „Der kleine Riss am Ohr ist schon bepflastert, wie Sie sehen! Danke sehr!“
„Was geht denn das Dich an, Fips?“ Lill stampfte mit dem Fuss, dass das Sporenrädchen klirrte. Dr. Hormuth merkte: Sie war in einer schrecklichen Laune. Gereizt und nervös, bis in die Fingerspitzen . . . .
„Natürlich — wenn Sie da sind . . .“, sagte sie und wandte sich zu dem andern. „Nun weiss ich wenigstens, marum ich so niederträchtig abgeschnitten hab’ . . .“
„Aber, gnädiges Fräulein . . .“
„Ja. Sie! Immer, wenn ich in letzter Zeit was verschustere, dann stehen Sie da und geistern mich an! Neulich, beim Tennis-Turnier, wo ich anfangs wie ein Waisenknabe gespielt hab’ . .“
„Fräulein Bödiger . . .“
„Ach — lassen Sie mich in Ruhe . . . Vorhin, wie ich hierherfahren wollte, da redeten Sie auf einmal durch das Radio und machten mies . . .“
„Ich kann doch nicht wissen, dass Sie . . .“
„. . . und jetzt, wo ich mich glücklich vor ganz Europa blamiert hab’, da waren Sie wieder der Huckebein! . . . Das ist ja grässlich mit Ihnen! . . Was hab’ ich Ihnen denn getan? Warum verfolgen Sie mich denn?“
„Ich meinte es gut . . .“
„Immer verpetern Sie mir den Sport! . . Sie haben doch ein ausverkauftes Haus voll Verrückte! Warum bleiben Sie denn nicht bei denen?“
„Sie haben sehr recht, gnädiges Fräulein, mich daran zu erinnern! Das werde ich auch tun!“
Der kleine Herr grüsste still und entfernte sich. Ein Ordner in der Nähe zeigte ihm, dass er, nach der anderen Seite hin, nur einen kurzen Weg bis zu einem Notausgang habe. Dr. Hormuth schritt schnell, die dunklen Augen am Boden, über die weiche, lockere, lautlose Lohe. Er war schon an der Tür. Er hörte hinter sich ein leises Laufen, ein rasches Atemholen. Er kümmerte sich nicht darum. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er drehte sich um.
„Haben Sie mir noch etwas zu sagen, gnädiges Fräulein?“ frug er ruhig.
Lills Züge waren jetzt ein wenig gerötet. Sie versuchte zu lachen. Sie kämpfte mit sich und hielt ihm dann, mit einer knabenhaften Freimütigkeit, ihre lange, schmale Rechte hin.
„Es war wirklich nicht nett von mir!“ sagte sie. „Ich hab’ es gleich hinterher bereut . . . Ich hatte mich nicht in der Gewalt . . . Ich bin nämlich tüchtiger hingepurzelt, als ich zugeb’! Mir brummt noch der Schädel . . .“
„Das dachť ich mir . . .“
„. . . Davon wird man so eklig . . . Nee — es war eklig! Es war gar nicht so gemeint! Da bin ich lieber noch schnell hinter Ihnen hergelaufen. Also seien Sie mir nicht böse!“
Dr. Hormuth hielt die magere, vom Stulp befreite Mädchenhand fest.
„Ich danke Ihnen herzlich, Fräulein Bödiger!“ sagte er.
„Sehen Sie . . . ich hab’s ja immer gesagt: Sie sind ein guter Mensch! . . . Man merkt’s, wenn Sie still zu lächeln anfangen — so wie jetzt!“ Lill nickte herzlich. „Also . . . guten Abend!“
„Gute Besserung . . .“
,,Danke! Vorläufig spür’ ich meine Knochen!“
„Gnädiges Fräulein . . .“ Der Arzt blieb noch einmal stehen.
„Ja?“
„Darf ich mich morgen einmal im Laufe des Tages nach Ihrem Befinden erkundigen?“
„Nötig ist’s nicht. Aber wenn es Ihnen Spass macht, anzubimmein . . . Herrgott . . . da drinnen kommt jetzt der deutsche Champion! Ich muss mich ein bisschen menschlich machen und zugucken! Adieu!“ Lill rannte, in langen Sprüngen wie ein junger Mann, den Gang hinab.