Читать книгу Lill. Der Roman eines Sportmädchens - Rudolf Stratz - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеWer klopft denn da draussen? Mab? . . . Komm nur ’rein!“
Die spillerige Mab Immich schlüpfte durch den vorsichtig geöffneten Türspalt in das Hotelzimmer. Drinnen, auf dem Teppich, stand Lill auf dem Kopf, ein Handtuch unter dem hintenübergefallenen, dunkelblonden Schopf. Sie stützte sich, in einem eng anliegenden, schwarzen Badetrikot, auf den Nacken und die schmalen, ausgestreckten Arme und betrachtete aufmerksam von unten her ihre rosigen Fussspitzen. Ihr hübsches Gesicht war leicht von der Anstrengung gerötet. Es trug einen sachlichen Ausdruck. Ebenso fachmännisch kommandierte die dunkle Bine Herold, auch in knappem Schwarz, breitbeinig dastehend, Hüften fest, nachdem sie die Türe wieder verriegelt hatte:
„Kniee durchdrücken! . . . Energischere Rückenarbeit bis zum Darmbein! Besseres Gleichgewicht zwischen Kapuzenmuskeln und Schulterblättern . . . Du wackelst wie ein Meergreis . . .“
Lill atmete langsam und tief und reckte sich elastisch. Ihr gertenschlanker Körper stand wie der einer Akrobatin im Zirkus beinahe durchsichtig dünn in der Luft. Sie konnte die Mab nur mit einem vertraulichen Augenzwinkern vom Teppich her begrüssen, und die frug:
„Na — Dir geht’s ja, scheint es, wieder ganz gut, dass Du die Kerze machst!“
„Blendend!“ Lill kippte mit gereckten langen Beinen nach vorn, sass auf dem Boden, federte im Schlusssprung in die Höhe, stand. „Jetzt morgens, bei heller Sonne, kommt man sich ja nachträglich blödsinnig vor . . . Ich hab’ mich unter der kalten Dusche direkt geschämt, dass ich mich gestern abend so kindisch aufgeregt hab’! . . . Wozu denn eigentlich? Antreten, Bine! Jetzt kommst Du dran! . . . Ich hab’ gedacht, ich würde von den Verrückten träumen . . .“
„. . . und wie ich ’raufkam, schlief sie wie ’ne Ratte!“ Die weiche, kleine, dunkle Bine Herold stellte sich in Positur. Es war immer gut, wenn man sich beim Mensendiecken gegenseitig auf Fehler überwachte. Lill begann sich anzuziehen und drillte dazwischen energisch die andere. Ihre junge Stimme klang hell und laut.
„Los! Extrem energisierte Angriffsstellung! . . . Vornüber! . . . Äusserste vertikale Gleichgewichtsgrenze! Halt!. . .“
„Nun hört mal . . .“, begann Mab erregt. Lill befahl weiter:
„Zurück! Höchster Grad von Energisierung in vertikaler Richtung! Bauch ’rein — zum Donnerwetter — Bine!“
„Ich hab’ doch gar keinen!“ klagte Bine Herold vorwurfsvoll. Ihr weiches Kindergesicht mit den dunklen Rätselaugen glich einer weinerlichen, kleinen Heiligen.
„Aber eine verbrecherische Neigung dazu! . . . Rückkehr zur grossen Streckung . . . Normalstellung . . . Relaxiertes Kreisen um die Taille . . . Tut Dir sehr gut, meine Tochter!“
„Man kommt eben zu spät auf die Welt!“, sagte die schöne Bine, atemlos von dem Versuch, mit den Fingerspitzen rückwärts die Fersen zu erreichen. „Vor zehn Jahren wär’ ich noch richtig gewesen — mit Taille und Alles rund und weich, wie man eigentlich sein soll! Aber jetzt führen die blonden Heringe wie die Lill das grosse Wort! Es ist ein furchtbares Unrecht . . .“
„Du wirkst verheerend genug, wenn Du Dir Mühe gibst!“ sagte Lill, vor dem Spiegel mit ihren zerdrückten Dauerwellen beschäftigt.
„Und sie gibt sich immer Mühe!“ ergänzte die Mab, die wie eine schattenhafte Fledermaus zwischen den beiden schönen Mädchen hin- und hergeisterte und Lill bediente. „Aber nun sperr’ doch mal die Ohren auf: Also Orff hat doch der Bine gedrahtet, sie solle Punkt sieben unweigerlich zum Training am Plazt sein . . .“
„Das solt’ mir mal einer bieten!“ Lill musterte sich kühl und selbstbewusst im Spiegel. Aber sie griff, nachdem der Name Orff gefallen war, doch noch einmal halbzerstreut nach Brenneisen und Puderquaste. Es waren da noch so ein paar kleine Schönheitsreparaturen . . . So ein stilles: Klar zum Gefecht . . .
„Na — und was ist denn nun weiter?“ erkundigte sie sich. Die Mab wies geheimnisvoll und empört auf die schöne Herold.
„Die Bine? . . . Das Faultier hat bis jetzt gepennt! Nun bitte! . . Sie hat bis fünf getanzt! . . . Na — in der ihrer Haut möcht’ ich nicht stecken, wenn sie nachher dem Robby begegnet!“
„Dieser Robby fängt nachgerade an, mir fürchterlich zu werden!“ Lill stand, mit blossen Armen, in weissem, gefälteltem Tenniskleid und weissen Schuhen, eine weisse Stirnbinde um den blonden Kopf. „Also ich geh’ jetzt frühstücken!“
. . . Wenn man das Frühstücken nennen konnte. . . Lil sass in der warmen Herbstmorgensonne auf der Hotelterrasse und schob mit einer gewohnheitsmässigen energischen Bewegung des Abscheus die Zuckerschale und die Sahnenkanne wie Giftbehälter von sich. Sie scheuchte die kleinen Kellner, die Marmelade und Honig und andere Fettbildner heranschleppten, händeklatschend wie die Hühner und goss sich leeren, starken Tee ein. Ein paar Zwiebacke. Ein Kleckschen Butter, wie auf der Briefwaage abgemessen. Schluss!
Immer noch besser als die Bine mit ihrer Neigung zur natürlichen Wiener Taille und einer Hüftenfigur, die das Entzücken der Grossväter gewesen wäre! Die kleine schwarze Venus hatte ihre Nahrungsmittel-Tabelle neben ihrem Teller liegen. Sie betete in dem grauen Heftchen wie in einem Brevier und rechnete halblaut: 60 Kilo Körpergewicht bei 39,5 Kalorien — das gab 2368 auf den Tag . . .
„Das sagst Du doch schon im Schlaf rückwärts her, Bine!“
„Ja. Aber das gilt für leichte, mechanische Tätigkeit! Ich bin doch kein Zigarrenwickler! Da kommt heute Mehrbedarf dazu . . . mindestens eine Stunde schärfstes Tennis . . . das sind 585 plus . . . macht 2953 Kalorien . . .“
„Natürlich sollst Du den Energiequotienten . . .“
„Ich bin für die Rubnersche Formel!“ sagte Mab, die Spinne. „Du musst Deine Wasserverdunstung beim Spiel berücksichtigen!“
„Also rund dreitausend!“ Jetzt begann für Bine erst das arithmetische Problem. Sie zählte im Kopf:
„Ein Hühnerei 75. Zwei Semmeln 250. Ein Löffel Kuhmilch 65 . . . Ein Weinträubchen 100 . . .“
„Nu ist’s aber alle!“ Lill nahm ihr schonungslos alles Essbare vor der Nase weg. „Ich kenn’ Dich! Nachher verschlemmst Du den Rest von Deinen Kalorien zum Mittag, und abends sitzt Du vor dem leeren Teller und heulst vor Hunger . . .“
„Es schmeckt mir aber immer so gut!“
„Dann wirst Du eben dick!“ sagte Lill kalt und grausam.
Dick! . . . Lieber tot! Die Mädchen schauderten. Bine Herold seufzte.
,,Die Männer haben’s zu gut! Das sind doch eigentlich erst die richtigen Menschen! Die haben nicht all diese Hemmungen! Der Wilm hat vorhin hier gesessen und geradezu unanständig gefuttert — ich hab’s vom Fenster aus gesehen: — In aller Herrgottsfrühe schon Ham and Eggs wie für ’ne Kompagnie . . . Was der Mensch dabei bloss so nebenbei an Hörnchen vertilgt hat . . .“
Die Mädchen schauten neidisch nach dem leeren Schlachtfeld auf dem Nebentisch. Mab reckte sich auf und rief von der Terrasse nach dem Weg hinunter.
„Rix . . . Renn doch nicht weg! . . . Frühstück’ doch erst!“
Aber die blauäugige, hellblonde, überschlanke Rix Grusemann, die lang, flüchtig, vornübergebeugt unten vorbeifegte, schwenkte als Antwort in der erhobenen Rechten einen angebissenen Apfel, zum Zeichen, dass sie heute ihren allwöchigen Abmagerungs-Obsttag, unter Ausschluss sonstiger Nahrung, habe. Unter der linken Achsel stak ihr das Schlägerfutteral. Der weisse Tennisrock schlug ihr handbreit um die weit ausgreifenden, dünnen Knie. Die weisse Sportkappe sass schief auf dem an den Ohren und im Genick ganz kurz wie bei einem Primaner gekappten Haar. Halboffenen Mundes, mit der regelmässigen, jugendlichen Herbheit ihres Profils, sah sie von der Seite wie ein sehr hübscher, junger Mann im Weiberrock aus. Den ahmte sie auch in Haltung und Gang nach. Die schöne Bine sprang plötzlich auf und rannte mit ihr dahin, als ob es brennte.
Die beiden andern schlenderten hinterher mit ihren Schlägern durch den Kurpark, fast lautlos auf den Gummisohlen der langen, absatzfreien, weissen Tennisschuhe. Mab nickte düster.
„Die Bine treibt das böse Gewissen! Jetzt ist’s gleich zehn! Die kriegt ihren Senf vom Orff. Na — ich danke . . .“
„Eigentlich ist’s doch zum Stiefelausziehen!“ sagte Lill. „Da rast das gute Binchen wie ein gescheuchter Hase aus Angst vor ’nem Mann . . . Wisst Ihr — wir müssen darin wirklich logischer werden . . .“
„Wenn es der erste beste Mann wäre! Aber Orff . . .“
„Orff . . .“, äffte Lill gereizt. „Orff . . . Na wenn schon Orff . . .“
„Du kennst ihn nicht . . .“
„Na — ich werde ihn ja jetzt gleich geniessen . . .“ Lill lächelte rosig-gletscherhaft, in kühler Selbstsicherheit. „Gott — nun seht nur diese Masse von Zuschauern — jetzt schon — auf dem Tennisplatz! Alle Bänke gesteckt voll . . .“
„Na — was denkst Du denn: Wenn Orff antritt . . .“
„Herrgott — schon wieder der Orff!“ schrie Lill und hielt sich die Ohren zu. „Der kommt mir schon zum Halse ’raus!“
,,So ’ne grosse Kanone sehen die Provinzialen hier doch nur alle Jubeljahre mal . . .“
„So eilt Euch doch! Das Gemischt-Doppel geht gleich los! Der Schiedsrichter klettert schon auf die Leiter.“
Die Sonne schien hell vom blassblauen Himmel auf das von buntfarbigen Sonnenschirmen überflockte, summende Gewimmel. Lill bahnte sich höflich und entschieden eine Gasse durch die Menge zu den Rohrstühlen der Auserwählten innerhalb des Spielplatzes: „Bitte, meine Herrschaften! Wir gehören zum Bau! Ohne uns stockt der Betrieb!“
Der Betrieb stand wirklich still: Auf der einen Seite des Netzes war das Paar — Herr und Dame — angetreten und wartete in stoischer Ruhe, den Blick nach den Herbstwölkchen, als ginge sie die ganze Sache nichts an. Aber die andere Hälfte des Platzes lag leer. Bine Herold kam von dort, mit langen, wütenden Schritten, den Kopf im Genick, blass vor Zorn, die Augen feucht. Sie stürmte rücksichtslos in das Publikum hinein, das sie teilnehmend ansah, machte sich mit ihren spitzen Ellenbogen Luft und gewann trotzig das Freie. Mab starrte ihr nach:
„Die läuft ja heim!“
„Sehr einfach: Orff schickt sie weg, weil sie heut früh nicht zur Stelle war!“ sagte Rix Grusemann, das blonde Mannmädchen. „Das ist die Strafe! Das hat sie nun davon! Damit schmeisst sie glücklich die ganze Veranstaltung! Er weigert sich, mit ihr anzutreten!“
„Ist er denn überhaupt da?“
,,Dort drüben steht er ja in Lebensgrösse! Der Vorstand — der Kurdirektor — unser Hotelvater — der Bürgermeister — alles tanzt um ihn ’rum und beschwört ihn . . .“
,,Aber da kennen sie Robby flach!“ Mab schüttelte mitleidig das magere, grossäugige Vogelköpfchen. „Wenn der sich mal was in den Kopf gesetzt hat.“
Lill guckte neugierig nach der Ecke hinter dem weissen Strich der Grundlinie.
„Was ihr daran nun findet . . .“, sagte sie dann gedehnt und enttäuscht. Dort drüben stand ein Mann wie hundert andere auch, zu Ende der Zwanzig, in Tennisweiss — breitbeinig, gesucht nachlässig, die Hände in den Hosentaschen, in blossem, igelkurz geschorenem Kopf. Er war sehr hager, mittelgross, mit schmalen, nach englischer Art etwas vorhängenden Schultern.
„Ja. Das ist er!“ sagte Rix und starrte ihn an. Lill zuckte nachsichtig die Achseln. Jetzt wandte Robby von Orff, mit einer gelangweilten Bewegung, als wollte er die Männerchen um ihn her abschütteln, ihr voll das Gesicht zu. Das war glattrasiert, scharf ausgeprägt, mit beweglichen, sarkastischen Linien. Zwei ironische Querfalten um die dünnen Mundwinkel. Die trockene Überlegenheit eines Europäers unter Wilden lag darauf. Nervöse Furchen auf der Stirn. Die Hand vor dem Mund, mit dem Gähnen eines an die Öffentlichkeit gewöhnten Hofschauspielers. Ein grausames Lächeln in den Augen, während er sich zu dem verstörten, kleinen Bürgermeister niederbeugte.
„Ich kann doch nicht mit einer völlig rohen, untrainierten Dame Bälle in die Natur hinausschlagen“, sprach er gedämpft und vertraulich. „Wir wollen doch hier Tennis spielen — nicht?“
„Aber Fräulein Herold . . .“
„Sie ist ja schon weg!“ stöhnte der Vorstand.
„Um so besser . . . lassen Sie sich nicht stören . . .“ Robby Orff bot, heiter wie ein Yankee, den Herren die Hand. Der Kurdirektor hielt sie krampfhaft fest.
„Herr von Orff . . . Seien Sie doch lieb — seien Sie doch nett — verderben Sie uns doch den Tag nicht! Wir hatten doch so viel Kosten!“
„Es sind doch noch andere Damen da, die gut Tennis spielen!“ schaltete, von seinem Hochsitz herabgestiegen, der Schiedsrichter ein.
„Es gibt Damen, die Tennis spielen können?“ Der Crack schaute erstaunt über Platz und Menschen wie durch leere Luft — so, als wäre das das erste, was er im Leben hörte . . .
„Wer ist denn die beste Spielerin unter den Damen?“ rief der Schiedsrichter. Der Turniervorstand spähte aufgeregt umher.
„Fräulein Bödiger — sind Sie da?“
„Lill steht hier!“ verkündete Mab begeistert. Wilm Heerklotz und Yo Wiebe riefen gleichzeitig:
„Lill!“
„Lill“ wiederholten Leute, die gar nichts davon verstanden. Aus dem Hintergrund hoben sich hoffnungsvolle Stimmen.
„Lill! . . . Fräulein Bödiger . . .!“
„Lill an die Front!“
„Lill — so mach’ doch!“ Mab gab ihr einen Puff. Die Rix lächelte still vor sich nieder. Aber Lill rührte sich nicht. Sie hielt sich sehr straff, den Kopf fühl im Genick, die Hände auf dem Rücken verschlungen, den Schläger lose zwischen den Fingern. Orff sah sie an. Sie ihn auch. Er wartete, mit einem ungeduldigen Augenzucken, dass sie vortreten würde. Lill stand mit dem Ausdruck absoluter Wurstigkeit auf dem hübschen Gesicht.
„Lill — sei nicht so pomadig! Vorwärts!“
Lill antwortete nicht. Sie und Orff schauten immer noch aufeinander. Der Champion zwinkerte missvergnügt. Ihre Züge blieben unverändert. Nun drehte er sich kurz auf der Ferse um.
,,So, das hast Du nun von Deinem Stumpfsinn!“ zischte die Mab. „Da schiebt er wirklich ab.“
Aber Orff, der Crack, machte nur ein paar Schritte. Dann blieb er stehen und kam eilig, als hätte er etwas vergessen, zurück — gerade auf Lill zu. Dicht vor ihr machte er halt. Er sah ihr scharf ins Gesicht und frug brüsk, ohne Einleitung:
„Können Sie denn überhaupt Tennis spielen?“ „Nein!“ sagte Lil laut.
,,So? Dann ist’s gut! . . . Also los!“
„Sie haben mich ja noch gar nicht gefragt, ob ich überhaupt . . .“
„Sie an’s Netz! Ich Grundlinie! . . . Herrgott — Reden Sie doch nicht! Sie sehen doch: die Leute warten!“
„. . Kann ich dafür?“
„Nur keine Launen beim Sport! Grässlich, wenn sich die Leute haben! Tun Sie das ja nicht, wenn wir Freunde bleiben wollen!“
„Freunde . . .?“ Lill machte grosse, unschuldige, blaugraue Augen. „Wir?“
„Fix! . . . Fix! . . . Fix!“ Orff fasste sie ungeduldig, ohne Umstände, am Arm und führte sie auf die freie, gelb in der Sonne flimmernde Sandfläche. Sie musste mit. Jetzt hätte Widerstreben lächerlich ausgesehen. Händeklatschen rings umher. Lill fühlte sich auf einmal stolz. Sie ging ans Netz und schüttelte der Gegenpartei die Hände.
„Fertig?“ frug der Unparteiische.
Lill drehte sich nach Robby Orff um. Er kniete, ohne zu antworten, auf dem Boden. Er hatte einen Meterstab aus der Tasche gezogen, klappte ihn auf und mass stirnrunzelnd, ob der Abstand zwischen der Aufschlags- und der Grundlinie auch auf Haaresbreite stimmte. Eine entsetzliche Stille in der Runde. Ein Aufatmen: Gott sei Dank — ja . . . Es waren die vorschriftsmässigen 5,485 Meter . . .
Herr von Orff trat auf den Turnierplatz zurück, blickte zum Himmel — ein gelangweilter Cäsar — schüttelte plötzlich kummervoll den Kopf und warf den Schläger auf den nächsten leeren Spielerstuhl.
„Was hat er denn nu wieder?“ schrie Lil vom Netz. Sie brannte jetzt vor Kampflust.
Ein paar Herren stoben im Laufschritt davon. Am Eingang des Festplatzes, gerade in der Spielrichtung, wehte im Wind eine Fahne. Ihr Geflatter beirrte die Zielsicherheit des Tennis-Cracks. Die Fahne wurde eingezogen. Orff beobachtete den Vorgang. Er stand, ein übelgelaunter Halbgott, mit über der Brust gekreuzten Armen, neben Lill.
„Warum kauen Sie denn so?“ frug er schroff. „Aus Nervosität? Kauen ist eine grässliche Angewohnheit!“
„Gott . . . Ich hab’ ein Drop im Mund!“
„’runter damit! Los! Ohren steif, Lill!“
„Ich heisse Fräulein Bödiger.“
„Glauben Sie, ich hab’ beim Spielen Zeit, fünf Silben auszusprechen? . . . Mein Gott — was erlebt man so alles, wenn man auf die Dörfer geht . . .“
„Sie sind wirklich ein merkwürdiger Mensch!“ sagte Lill mit verächtlich geschürzten Lippen. „Na — in Gottes Namen!“
Orff sprang hinter die Grundlinie zurück. Es waren, auf der hartgewalzten Fläche, die lautlosen Riesensätze eines Tigers. Sein Gesicht änderte sich jäh. Es versteinerte in sportlicher Sammlung. Die Augen verglasten stählern starr wie bei einem grossen Raubvogel. Sein Körper wurde, unter dem fliegenden Flanell, ein einziger Wellenschlag ineinander spielender, trockener, harter Muskeln, die der Nervenfunke des Willens trieb.
Lill lauerte am Netz, gespannt wie ein Schiesshund, mit halboffenem Mund, breitbeinig, die Knie etwas gebogen, den Oberkörper vorgebeugt. Ihre Augen überwachten jede Bewegung der Feinde. Hart an ihrem Ellenbogen vorbei sauste Orffs Ball lang, wunderbar flach, haarscharf über den Rand des Netzes, mit einer unerhörten Wucht. Mein Gott — hatte der Mensch Kräfte . . . So was hatte sie noch nicht erlebt . . .
Die drüben waren aber auch nicht von Pappe. Der feindliche Champion stürmte an das Netz. Orff stürzte Lill zu Hilfe. Er lief nicht mehr. Er glitt ganz merkwürdig, mit flachen Sohlen, windschnell über den Sand. Der Kampf wirrte, dass man einander das Weisse im Auge sah. Der kleine graue Gummiball tanzte über dem Netz in der Luft zwischen dem zitternden Geflecht der Schläger. Aber dazwischen schickte ihn Orff doch jäh hinüber auf den Sand des Gegners . . . 15 zu 0 . . . Er war hinten. — Er war vorn — 30 . . . Er flog über das Feld . . . 40. . . Er schwatzte unaufhörlich . . halb laut . . . Aus Nervosität . . . oder um den Gegner zu verwirren . . . Er liess kein gutes Haar an Lill . . . Er zischte wütend: „Laufen! . . . Laufen! . . . Aufpassen! . . . Schneller . . . zum Kuckuck . . . hinüber . . . Herrgott — ist das ’ne Spielerei . . .“
Lill schüttelte es ab wie ein Pudel. Sie kämpfte leidenschaftlich. Man war schon dicht am ersten Sieg. Aber da kam von drüben, schräg herüber, ein ganz gefährlicher Schlag.
„Lill Pass’ auf!“ schrie Orff. Sie rannte schon. Sie rief fast gleichzeitig: „Mein Ball!“ fing ihn mit Rückhand. Landete ihn drüben. Die Stimme des Schiedsrichters von seinem Hochsitz: „Spiel und Satz: 1 zu 0. Bödiger-Orff führt!“
Lill atmete triumphierend auf. Dann klang ihr plötzlich Orffs Zuruf im Ohr. Sie ging mit ihm nach hinten und fragte dabei kalt:
„Was heisst denn das: ,Pass’ auf’? Ich kann mich gar nicht erinnern: wann haben wir eigentlich miteinander Brüderschaft getrunken?“
Robby Orff würdigte die kindische Frage kaum einer Antwort. Er prüfte aufmerksam seinen Schläger und versetzte dabei zwischen den Zähnen, so als belehrte er ein kleines Mädchen:
„ ,Passen Sie auf!’ sind zwei Silben mehr! Inzwischen ist der Ball längst beim Bösen!. . . Vorwärts — der zweite Satz . .“
„Jetzt nehmen die drüben fürchterliche Rache!“ sprach Rix Grusemann verwundert zur Mab neben ihr. „Schau’ nur: Die Lill verschustert ein Spiel nach dem andern!“
„Sie ist wie ausgewechselt — das arme Tierchen. Geo, schämst Du Dich nicht, dass Deine Schwester so miserabel spielt?“
„Was hat das Kamel denn nur?“
„Der Orff rast!“
„Er schneidet Grimassen wie ein Satan!“
„Schmeicheleien sagt er ihr nicht beim Spiel!“
An Lills Ohren fauchten, im Wirbel des Spiels, Robby Orffs wütende, halblaute Zurufe: „Laufen! . . . Aufpassen! . . . Herrgott — schon wieder verpatzt . . . da spieľ ich lieber mit meiner Grossmutter . . . da . . . krieg’ ihn, Lill . . .“
Aber Lill kriegte den Ball nicht. 1 zu 5! Der Satz stand auf der Kippe. Noch eine Galgenfrist: der Gegnerin drüben war ein Stäubchen ins Auge geraten. Sie musste das Spiel für kurze Zeit unterbrechen. Orff behandelte in der Pause Lill gereizt als Luft. Er sah auf die Uhr. Er erkundigte sich über die. Platzschranke hinweg: „Wann geht denn eigentlich der nächste zug?“ und dann leise, zornig zu Lill: „Was ist Ihnen denn in die Krone gefahren?“
„Ach — ich bin so aufgeregt! Ich war gestern im Irrenhaus . .“
,,Auch das noch!“ sagte Herr von Orff gottergeben zu Yo Wiebe und Wilm Heerklotz, die besorgt herangetreten waren. „Das erklärt allerdings manches!“
„Nein — nein — — ich bin ganz bei Trost! . . . Aber es waren da eine Masse Verrückte . . .“
„Ja — Wo sollen die Leute denn sonst sein?“
„. . . und einer von ihnen — der Gefährlichste von allen — der immer zwei Wärter hinter sich hatte — seht Ihr drüben den kleinen Herrn mit dem kränklichen Gesicht und der zu hohen Schulter? — ja — der mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart und den unheimlichen, grossen, dunklen Augen — das ist er!“
„Besondere Ehre für uns . . .“
,,Der ist seinen Wärtern irgendwie ausgekniffen und steht nun da schon die ganze Zeit und guckt zu. Das irritiert mich in einer Weise — das ruft mir fortwährend den wahnsinnigen gestrigen Abend vor die Augen . . . Ich kann gar nicht aufpassen . . . Gott weiss, auf was der schreckliche Mensch drüben noch verfällt! Er schaut mich immer so durchdringend an!“
„Na — da müssen wir doch das Spiel mal unauffällig einen Augenblick unterbrechen!“
Lill lehnte, lang und weiss, am Geländer und nagte unstet an der Unterlippe. Orff stand zwei Schritte abseits. Er redete keinen Ton. Er gähnte nur alle paar Sekunden, als ein Zeichen „an alle“, dass er die ganze Sache bis hierher habe. Viele Blicke richteten sich von den Zuschauerbänken auf das verzankte Paar. Hinter diesen Menschenreihen war der entsprungene Irre verschwunden. Die Stelle, wo er gestanden, leer. Aber irgendwo da im Hintergrund musste er noch sein Wesen treiben. Denn eine ganze Expedition hatte sich dorthin in Bewegung gesetzt: der Turniervorstand, der Bürgermeister, der Kurdirektor, der Geo, der Wilm, der Yo, der Fips. Nun kamen sie zurück. Sie lachten aus vollem Hals . . . .
„Jetzt seid Ihr wohl alle zusammen übergeschnappt?“ erkundigte sich Lill feindselig.
„Also Du — das ist einfach gottvoll . . .“
„Wenn ein gewalttätiger Geisteskranker frei herumläuft . .?“
„O Lill . ., Du holde Einfalt — Du . . .“
„Das ist doch weiss Gott nicht so wahnsinnig komisch!“
„Doch, verehrtes, gnädiges Fräulein! Es ist wirklich komisch!“ Der Kurdirektor hatte ganz feuchte Augen. „Dr. Hormuth selber musste, bei allem seinem sonstigen Ernst, laut lachen!“
„Worüber?“
„Na — über Dich!“ sprach Lills Bruder freundlich.
,So? Na! . . . Wer ist denn der Dr. Hormuth?“
„Der Direktor des Irrenhauses selber! Eben der kleine, verwachsene schwarze Herr drüben, der Ihnen solche Angst einflösst!“
Ach — verulkt mich gefälligst nicht!“ sagte Lill gereizt. „Ich kenn’ den Irren doch von gestern! Der und der Direktor! Pah!“
„Wirklich und wahrhaftig der Direktor! . . . Eine wissenschaftliche Grösse in Fachkreisen!“ bestätigte der Stadtvater. Der Kurvorsteher beteuerte:
„Eine weitbekannte Persönlichkeit! Er steht im Konversationslexikon!“
„Er hat schon mehrfach Universitäts-Professuren ausgeschlagen, weil er seine freie Forschung nicht aufgeben will. Er ist sehr viel auf Kongressen und Vorträgen unterwegs. Er leitet die Anstalt nur wegen des Studiums, an dem Patienten-Material.“
„. . .und ist selber einer von den Patienten!“ Lill stampfte mit dem Fuss. „Ich weiss doch, was ich weiss! Wart Ihr in der Klinik innen darin? Nein! Aber ich! Nun also: Zwei starke Männer marschierten immer dicht hinter ihm her . . .“
„Gewiss, gnädiges Fräulein, damit Dr. Hormuth als verantwortlicher Anstaltsleiter sofort Leute bei der Hand hatte, falls ein Kranker durch die Aufregung des Festabends unruhig werden sollte!“
„Lill — mache nur kein zu geistreiches Gesicht!“ riet ihr Bruder.
„Zu toll . . .“, sagte Lill nach einer Pause langsam und betreten. Sie schüttelte den Kopf und schaute nach der leeren Stelle in der Menschenmauer . . .
„Herr Dr. Hormuth hat, in seiner stillen Art, sehr viel Takt, meine Gnädigste!“ erläuterte der Kurdirektor. „Man sieht ihn sonst fast nie unter Menschen. Er war nur ganz ausnahmsweise gekommen, um Sie zu sprechen und wahrscheinlich noch einmal wegen des Missverständnisses gestern um Entschuldigung zu bitten!“
„Wäre er doch bei seinen Kostgängern geblieben!“ sprach Lill matt. Dann hätt’ ich nicht hier die Nervenpleite gekriegt, und wir ständen jetzt nicht 1 zu 5!“
„Herr Dr. Hormuth hat sich sofort zurückgezogen, als er hörte, dass sein Anblick Sie störte! Sie werden ihn sicher während des Spiels nicht mehr zu Gesicht bekommen!“
„Wenn er noch bleibt, wartet er im Hintergrund!“ versicherte der Bürgermeister. Lill sah ihn starr aus ihren grossen Augen an.
„Seit ich hier bei Ihnen bin, mache ich lauter Dummheiten!“ sagte sie erstaunt. Dann reckte sie sich jäh aus den schmalen Hüften in die Höhe und klatschte sich ungeduldig mit dem Schläger auf den Schenkel. „Herr von Orff — leben Sie eigentlich noch? . . Vorwärts! . . . Das zweite Spiel ist ja noch gar nicht perdü . . .“
„Das nennt sie nämlich spielen!“ erklärte Robby müde den Umstehenden und wippte hoffnungslos seine Waffe.
„Wir schaffen’s noch!“ rief Lill entschlossen, so laut, dass es jeder hören konnte, und lief nach dem Netz. „Zeigen Sie sich jetzt mal in Ihrer ganzen Grösse, Orff! Höchste Form! Ich tu’ auch, was ich nur kann! Ich schwör’ es Ihnen! Grosses Ehrenwort!“
Orff, der Crack, war auf einmal neu belebt. Er lächelte. Er schritt auf federnden Fussspitzen, elastisch den Körper wiegend, auf den Sand hinaus. Das war eine Aufgabe, die ihn amüsierte: einen derart verkorksten Satz noch zu retten . . . .
„Aber schlaf nicht wieder, Lill! Nun geht’s um die Wurst!“ murmelte er in einer unheilverkündenden Ruhe. Er schaukelte mit unwahrscheinlich weit gespreizten Beinen sprungbereit auf den Fussspitzen, den Arm mit dem Schläger nach hinten abwärts gestreckt. Er tat einen Satz über die halbe Fläche, fing den Feindesball, feuerte ihn zurück, machte Finten, fegte um die Ecke, hatte immer noch Atem, rastlos, gegen allen Turnierbrauch, zu schwatzen wie eine Elster, Lill mit dem Zähnefletschen einer Rothaut zu elektrisieren: „Da kommt er, Lill Töť ihn, Lill . . . Töte ihn . . . Gut so!“
Lill tötete den Ball. Sie schüttelte den fliegenden, dunkelblonden Schopf. Sie tanzte blutdürstig längs des Netzes. Das musste noch ganz anders kommen . . . so . . . und so! . . . Bewegung auf den Bänken der Zuschauer . . . Stimmengewirr . . . die treue kleine Mab schlug strahlend die mageren Hände zusammen.
„Lill kommt blendend! Hurra, Lill!“
„Die andere drüben spielt dabei eigentlich viel besser!“ sagte Rix Grusemann.
„Ja . . . schon . . . aber dafür Orff . . . Wie er der Lill hilft — sieh nur . . . sieh nur . . . Herrgott . . Orff . .“
Händeklatschen. Rufe: „Bitte sitzenbleiben!“ Geo, Lills Bruder, nickte mit der Erfahrung eines schon dreiundzwanzigjährigen Fachmanns.
„Ich kenn’ doch den Orff! Der ist unberechenbar wie ’ne Primadonna! Jetzt hat er seinen guten Tag . . .“
„. . . Weil ihm Lillchen gefällt . . .“
„Meinste?“
,,Auf Anhieb. Sonst hätt’ er doch gar nicht mit ihr gespielt — so blasiert wie er ist! Ihr Frauenzimmer verzieht ihn ja. Eine doller als die andere!“
„Jetzt ist Sport und nicht Flirt! . . . Donnerwetter ja: Orff und Lill holen auf, was das Zeug hält!“
„Drei Spiele hintereinander! So was sieht man selten!“
„Die anderen lassen nach! Die sind schon ganz nervös! Besonders sie!“
„Kein Wunder, wenn Orff derartig aus sich herausgeht . .“
Das nächste Spiel . . . Ein Schrei über den Platz . . „Einstand!“ . . . Die Stimme des Schiedsrichters: „Bödiger-Orff 5 zu 5.“ Die Partie stand gleich. Jetzt siegten einmal die drüben. Aber das galt noch nicht zum Gewinn des Satzes. Gleich darauf holten wieder Orff und Lill den Vorsprung ein. Abermals Einstand! Nochmals Sieg Orffs und Lills, und nochmals ein neues Spiel: Lills Schatten, die Mab, zitterte vor Aufregung. Das war, wenn es gut ging, die Entscheidung.
„Lill und Orff führen sechs zu fünf!“ keuchte sie. „Noch ein einziges Spiel und sie haben das Turnier gewonnen.“
„Na — den Ball da nimmt die Lill nicht!“ sagte die Herold hoffnungsvoll. Der Ball nahte in einem hohen Bogen über das Netz. Orff war hinten ganz in der anderen Ecke.
„Hopla, Lill!“ keuchte er. Lill nahm alle Kraft zusammen. Sie schnellte, den Kopf im Nacken, wirbelnd in die Höhe. Sie renkte den Arm mit dem Schläger fast aus dem Schultergelenk. Sie fasste den Ball oben in der Luft und setzte ihn steil abwärts über das Netz dem heranstürmenden Gegner glatt vor die Füsse. Ein Brausen. Zwei Sätze gewonnen. Endgültiger Sieg für Orff und Partnerin.
Lill stand lachend und aufgeregt, einen weissen Flauschmantel umgehängt, mit zerzaustem Haar, nasser Stirn und heissen Backen, und schüttelte rings Hände. Der einzige, der sie nicht beglückwünschte, war Robby Orff selber. Der sagte nur freundschaftlich und vertraulich, halblaut:
,,Sie sollten wirklich ’mal Tennis spielen lernen, Fräulein Bödiger! Es ist ein so gesunder Sport!“
Lill antwortete nicht erst. Sie ging verächtlich fort.
„Das ist ’n Kerl!“ sagte sie zu ihren Freundinnen. „Den möchť ich ausgestopft zu Weihnachten! Ich hätt’ ihm eben am liebsten die Zunge ’rausgesteckt! Aber man muss so Leute nicht verwöhnen!“
„Das heisst: boxen möchť ich mit ihm nicht!“ Sie schmiss sich lang auf einen Strohstuhl und streckte erschöpft die Beine von sich, so weit sie konnte. „Dem sein Bizeps — na danke! Das merkt man schon an seinem Tennisschlag . . . . Jesus: Ich hab’ doch gedacht, der Unglücksmensch wär’ weggegangen!“
„Wer? Orff?“
„Ach wo! Der Tollhausdirektor! Aber der hat’s auf mich abgesehen! Da kommt er!“
Lill sprang auf. Quer über den Rasen nahte der kleine, unscheinbare Herr von gestern abend, mit dem für den dürftigen Körper zu grossen Kopf und der etwas zu hohen rechten Schulter. Er war unauffällig, ganz dunkel, gekleidet. Er lüftete den breitrandigen Schlapphut von dem mächtig gewölbten Schädel, dessen Glatze ein schwarzer Kräuselkranz umbuschte. Sein fein geformtes, kränkliches Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbärtchen lächelte still und humoristisch. In den grossen, dunklen Augen blieb dabei ein ernster, merkwürdig wissender Ausdruck. Er schien erst Mitte der Dreissig. Aber er musste wirklich schon berühmt sein. Alles sah sich nach ihm um.
Lill ging ihm zögernd entgegen. Sie wurde flüchtig rot und dadurch auf einmal besonders hübsch. Sie lachte halb und verwirrt. Sie bot dem Irrenarzt liebenswürdig die Hand.
„Verzeihen Sie nur, dass ich Sie für verrückt gehalten habe!“ sagte sie schnell und herzlich.
Der kleine Herr vor ihr lachte auch. Es stimmte nicht zu seinen etwas müden, zarten Zügen und den frühen, grüblerischen Fältchen auf der hohen, gebuckelten Stirn.
„Ich Sie ja auch!“ sagte er mit einer weichen und leisen, etwas leidenden Stimme, während er Lill freundlich die Rechte drückte. Es fiel ihr auf, was er für eine schöngeformte, kleine Hand hatte. Er fuhr gedämpft fort: „Es war da, wie immer in solchen Fällen, ein Rattenkönig von Missverständnissen. Wir erwarteten die Ankunft einer neuen Patientin. Ich bildete mir ein, das wären Sie . . .“
„Tausend Dank, Herr Doktor! Aber ich hab’ noch Zeit!“
„. . . und nahm mich Ihrer an, bis mir mein Assistent ins Ohr flüsterte, Sie seien ein unbekannter Eindringling . . .“
,,Rauchen Sie?“ Lill klappte ihr Silberdöschen auf.
„Danke! Ich bin gegen alle Kulturgifte! Daraufhin ging ich . . .“
„. . . und überliessen dem anderen Herrn meinen Hinauswurf! . . . Erlauben Sie, dass ich meinen Schornstein aufmache?“ Lill knipste geübt Feuer aus dem Benzinbüchschen. „Nach dem Spiel hat man nämlich so ein Kribbeln in den Nerven!“
„Bitte, gnädiges Fräulein! Mein Erstes war natürlich heute, mich bei Ihnen zu entschuldigen! Man wies mich in Ihrem Hotel hierher!“
„Wir müssen Ihnen doch grässlich vorkommen, wie wir hier so in einem fort ’rumhopsen — nicht?“ frug Lill und wehte besorgt, gleich einer Krankenpflegerin, mit ihrer langen, weissen, nervigen Sporthand den Rauch von dem bleichen Kopf des kleinen Doktors.
,,Ich versteh’ davon nicht das geringste! Ich bekam nur einen neuen Schrecken, als ich hörte, dass mein Anblick Sie beim Spiel störte!“
„Ja — nicht wahr? Ich hab’ anfangs den zweiten Satz gespielt wie ein Affe!“
„Es tut mir wirklich furchtbar leid! . .“
„Aber nachher kam ich ja gerade in Form“, Lill warf begeistert in weitem Bogen den Zigarettenstummel in das Gras, ihr hübsches, junges Gesicht strahlte, „. . . und hab’ der Mitwelt gezeigt, wie man Tennis spielt! Es ist keine Kleinigkeit, mit Orff zusammen zu gewinnen!“
„Wer ist denn Herr von Orff?“
„Gott — so ein Kraftmensch! Ich kenn’ ihn nicht näher! Hab’ auch kein Verlangen! . . . Aber Ihnen bin ich wirklich dankbar, Herr Doktor! Ich steh’ jetzt gross da!“
„Nun — da wünsche ich Ihnen auch weiter gute Erfolge!“ sagte Dr. Hormuth und stand auf. Lill schüttelte ihm die Hand. Es war ein Druck, fest und frisch wie von einem zutraulichen Knaben.
„Nun kommt bald der Winter!“ sagte sie. „Da hat’s mit dem Tennis so ziemlich geschnappt.“
„Und was machen Sie dann?“
„Na — ich reite doch! Haben Sie niemals meinen Namen als Turnierreiterin in der Zeitung gelesen?“
„Leider nicht, gnädiges Fräulein! Ich habe andere Interessen.“ Der kleine, verwachsene Mann schaute ihr sanft lächelnd in das rosig-glatte Gesicht.
„Na ja — das war auch wieder ’ne geistreiche Frage von mir!“ Lill ging neben dem Irrenarzt über den Platz. „Ja . . . Turnierreiterin . . .Wissen Sie — nicht so Dressurprüfungen und so zahme Sachen, sondern Hindernisspringen — tüchtig . . .“
„Ist das nicht sehr gefährlich?“
„Das sagte mein alter Herr auch! Der war wahnsinnig zäh und murmelte immer was von einziger Tochter und mal Genick brechen . . . Aber zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag — vor ’nem Jahr — hab’ ich ihm doch ein Springpferd abgebettelt . . . den ,Zappelphilipp’ vom ,Kraftmeier’ und der ,Zirkusprinzessin’ . . . ein sechsjähriger, brauner Hengst — ein Kerlchen wie Gold — — Gescheiter als wir alle! Also süss! Wir lieben uns so sehr!“
„Und auf dem reiten Sie . . .?“
„Natürlich reiť ich im Jungensitz! In drei Wochen ist in Berlin wieder der grosse Concours hippique! Wenn ich nicht zuviel Kleinholz mit der Hinterhand mache . . . Warum lachen Sie denn?“
„Weil ich mich über Sie freue . . .“, sagte der kleine blasse Gelehrte und hielt noch einmal ihre Rechte zum Abschied fest. „Sie sind so jung — so gesund — so kräftig — so lebensfroh — genau das Gegenteil von dem, was ich tagaus, tagein zu sehen bekomme . . .“
„Dann kann es Ihnen doch nicht gefallen?“
„Doch. Sehr!“ Der Irrenarzt nickte und schaute ihr noch einmal warm und freundlich ins Gesicht. „Hier bei Ihnen draussen sind die gesunden Körper. Und ich komme von den kranken Seelen! Es ist ein merkwürdiger Gegensatz. Er ist mir selber eine Offenbarung.“
„Ich glaube wirklich, Sie sind ein guter Mensch, dass Sie uns auch gelten lassen!“ sagte Lill. „Sie haben so was Mildes . . . der Sport macht einen so dickfellig!“
„Ich habe wenigstens keinen Neid.“ Der kleine Herr mit der zu hohen Schulter knöpfte still seinen Mantel zu, den er trotz des warmen Herbstwetters trug. „Nun gehen Sie zu Ihren Sportfreunden zurück, gnädiges Fräulein, und denken Sie nicht mehr an den Spuk von gestern abend, und vergessen Sie mich und die Meinen! So Sachen sind nichts für Gesunde!“
,,Ach — das Tolle ist nur dabei — und das will mir gar nicht aus dem Kopf,“ Lill schaute unwillkürlich nach der Richtung, in der die Anstalt des Dr. Hormuth lag, weit von hier, ausserhalb des Badestädtchens, durch das bunte Herbstlaub des Kurparks dem Blicke entzogen, „es ist — wenigstens auf den ersten Eindruck — so furchtbar wenig Unterschied zwischen denen drinnen und denen draussen! Es kommt einem vor, als wären es ganz die gleichen Leute! Schliesslich bildet man sich ein, man wär’ selber verrückt und die andern bei Trost!“
„Glauben Sie, dass ich das nicht oft denke?“ Der Dr. Hormuth nickte plötzlich sonderbar und unergründlich. Seine magnetischen Augen richteten sich mit einer merkwürdigen, durchdringenden Kraft auf das flotte und trotz der spielheissen Wangen selbstsicher-kühle Mädchengesicht vor ihm. Er schien Lill plötzlich wieder unheimlich dem vermeintlichen Irren von gestern ähnlich — auf der Grenze zweier Welten — da und dort zu Haus. Auch seine leise Stimme hatte einen geheimnisvollen Klang:
„Mein Vogelhaus dort drüben,“ sagte er langsam, „das ist die Welt verkleinert gesehen, wie unter dem Mikroskop — aber perspektivisch richtig — mit ihren Königen, Millionären, Mördern, Gottsuchern, Liebhabern, Harpagons, Magdalenen und Propheten und Ophelias. Es ist die grosse und die kleine Welt — draussen das grosse Irrenhaus — drinnen das kleine. Nur dürfen wir — das heisst: meine Patienten — ehrlich sagen, dass wir verrückt sind, und Ihr nicht!“
„Wir sind hier gesund!“ rief Lill heftig. „Wir stählen unsern Körper!“
„Was heisst denn Körper? Körper sind eine Einbildung: Eine Spiegelung. Sie trainieren Luft. Bei uns gibt es wenigstens noch Geister — wenn auch kranke.“
„Ach — hören Sie auf — Es wird einem ja ganz seekrank zumut!“
„Man darf eben nicht anfangen, nachzudenken! Das ist, als stiege man eine dunkle Kellertreppe hinunter. Immer tiefer . . Immer tiefer . .“
„Nee. Ich kletter’ nicht mit ’runter! Das ist mir zu hoch!“ Lill hielt erbittert dem Arzt den schmächtigen, blossen, weissen Arm unter die Nase. „Glauben Sie, ich bilde mir den blauen Fleck da pon dem Fehlball vom Orff vorhin ein? Danke! Kriegen Sie mal von dem mit seiner blödsinnigen Kraft — aus Versehen! — was ins Kontor — ich schwör’ Ihnen: da merken Sie, dass Sie ’ne Epidermis haben . . .!“
Der kleine Irrenarzt im Schlapphut lachte auf einmal leise und herzlich.
„Ich will Ihnen ja auch nicht weh tun!“ sagte er mit seiner weichen, warmen Stimme. „Ich rede eigentlich so, um mir selber Mut zu machen! Ihr habt mich überrumpelt — hier auf dem Sportplatz! Ich habe so ein animalisch gesundes Treiben nie gesehen! Ich bin immer unter Kranken . . . immer unter Kranken . . . dies Bild hier hat etwas eigentümlich Überzeugendes. Bezwingendes.“
„Na also. . .“
„Wenn Sie so dastehen — im weissen Kleid — unter dem blauen Himmel — den Schläger in der Hand — so selbstverständlich . . .“
„Es ist doch auch alles so furchtbar einfach . . .“
„Bewahren Sie sich nur diesen Glauben!“ sagte Dr. Hormuth, lüftete noch einmal still seinen Schlapphut und wandte sich zum Gehen. Über den Platz hin riefen helle Mädchenkehlen:
„Lill — Lill — wo steckst Du?“
Und dazwischen die gereizte Stimme des Turnierleiters.
„Fräulein Bödiger . . . Herrgott ja . . . Fräulein Bödiger . . . Bitte antreten zum Damen-Einzel!“
„Die Lill gewöhnt sich schon Star-Allüren an und lässt sich auf dem ganzen Platz austrompeten, damit nur jeder merkt: Nu kommt Fräulein Bödiger!“ Mab, die Spinne, fasste die hohe Freundin am Arm. Rix Grusemann, hinterher, mahnte:
„Eil’ Dich lieber, dass Du nicht gestrichen wirst, statt vorher für ausverkaufte Sitzreihen zu sorgen! Es strömt ohnedies schon alles zu Deinem Lawn!“
Lill liess sich mitschleppen. Sie strich sich mit der Hand über die grossen, graublauen Augen und schaute noch einmal über die Schulter nach dem Doktor zurück.
„Habt Ihr je so was von ’nem Hut gesehen?“ frug sie. „Doll — nicht? Aber es steht ihm ganz apart!“
„Lill — Du raffinierte Kröte . . .“
„Ich?“ Lill blieb stehen und riss die Augen auf. „Mab — Du schmeichelst . . .“
„. . . wie Du den Orff eifersüchtig machst . . .“
„Orff?“ wiederholte Lill staunend, als hätte sie den Namen nie gehört.
„Der brennt doch die ganze Zeit schon, mit Dir anzubandeln! Man muss ja lachen, wenn man ihn von einem Bein aufs andere treten sieht!“
„Grobheiten hat er mir verzapft!“ Lill ging weiter.
„Das ist doch seine Art von Flirt! Liebenswürdig ist er nur gegen Männer! Die neue Art des Verkehrs, sagt er . . .“
„Es ist unhöflich, gegen Damen höflich zu sein! Darin liegt eine Missachtung! behauptet er doch immer!“ bestätigte die kühle Blonde.
„Und Du stellst ihn kalt“, sprach Mab bewundernd. „Nein — so ’was? Einen Mann wie Orff . . .“
„Das ist das beste Mittel, ihn eifersüchtig zu machen!“ pflichtete die Grusemann bei. Und wieder die Mab:
„. . . wer es fertigkriegt. . .“
„Kinder — der Mensch ist mir doch völlig piepe! . . Hetzt einen nicht in so Unsinn hinein!“ Lill winkte dem auf seinem Hochsitz ungeduldig umherspähenden Schiedsrichter, dass sie im Anmarsch sei.
„So? Warum biederst Du Dich denn die ganze Zeit mit dem kleinen Irren-Onkel an? Der ist doch ein kümmerliches Spiel der Natur! Der zählt doch gar nicht!“
„Gegen Orff! Zweimal stand Orff hinter Dir und wollte Dich loseisen, und Du tatst, als sähest Du es nicht!“ rief die Rix. Lill zuckte die Achseln.
„Ich hab’ hinten wirklich keine Augen!“
„Aber für das Doktorchen schon!“
„Doktorchen!“ sagte Lill in Gedanken. „Hört mal: der ist gar nicht so harmlos, wie Ihr Euch einbildet! Der hat’s in sich wie die Maikäfer. Der hypnotisiert einen . . .“
„Stuss!“
„Der hypnotisiert einen! Bei dem möchť ich nicht Verrückte sein!“ Lill betrat elastisch den Kampfplatz. Frisch, frei und froh — alle Blicke auf sich fühlend. Sie ging fromm und ahnungslos, die Unschuld selber, dicht an Orff vorbei, ohne ihn scheinbar unter den vielen Zuschauern zu bemerken, und nickte ungewohnt warm ihren Freunden, dem Wilm und dem Yo, zu, mit jenem sinnenden Blick, mit dem sie zuweilen, in sanft temperierter Neigung, zwischen ihren beiden etwaigen Zukünftigen schwankte. Bernhardiner oder Dämon, Seide en gros oder Ministerium — das war die Frage. Der Bernhardiner — der breitschulterige Wilm Heerklotz mit seiner treuherzigen Hornbrille — war echt. Der Dämon — der düster-schöne, blasiert-schweigsame Yo Wiebe — war mehr Alpaka. Ersatz Berlin WW. Man durfte nicht zu sehr an seiner diabolischen Edelpatina kratzen. Sonst kam sein Urgrund von angeborener Philistrosität zutage . . . Es war nicht leicht . . . Lill schüttelte dem fremden weissen Fräulein übers Netz hin die Hand, und das Turnier begann.
Wegen dieses Matches war sie eigentlich gekommen. Das Spiel holte sie sicher. Das merkte sie bald. Sie brauchte sich gar nicht viel Mühe zu geben. Sie hatte dazwischen noch ein paar Mal Zeit, nach den Zuschauerbänken zu sehen.
Und musste lachen. Da war zwischen dem Gewimmel von Topfhüten und bunten Sonnenschirmen ein ganz unwahrscheinlicher, breitkrämpiger, schwarzer Schlapphut, und darunter ein kränkliches, feines Gesicht mit kleinem, schwarzem Schnurrbart. Der kleine, blasse, verwachsene Dr. Hormuth war immer noch da und schaute zu und liess Lill nicht aus seinen tiefen, sonderbaren, dunklen Augen.
Er hatte keine Ahnung, warum die beiden Damen so verzweifelt hinter dem kleinen grauen Kinderball her waren — warum der Schiedsrichter zuweilen „Aus!“ und „Set!“ rief, warum Lill und das feindliche Tennismädchen abwechselnd auf der rechten und auf der linken Seite ihrer Platzhälfte zum Gefecht aufmarschierten. Er sah nur Lill beim Spiel — beim freien Spiel. Jetzt, wo sie nicht wie vorhin als Partnerin am Netz klebte, gehörte ihr die volle Fläche bis ganz nach hinten. Sie tobte sich darin aus wie ein Füllen auf der Weide. Sie hatte wirklich etwas von einem Füllen — in den stürmischen Sätzen der flinken, langen Beine, dem hastigen Hüpfen der langen, weissen Schuhe über die rätselhaften, weissen Striche am Boden.
Der Seelenarzt beobachtete dies Körperspiel wie ein neues Problem der Wissenschaft. Er nahm es in stiller Andacht in sich auf: diesen selbstvergessenen, atemlosen Wirbel leiblichen Willens, bei dem diese junge Lill offenbar gar nicht mehr an die Zuschauer und an ihre Wirkung auf diese Männer und Frauen, sondern nur noch, wie in der Steinzeit, daran dachte, wer im Kampf die Stärkere sei — sie oder das ebenso wild herumflatternde andere Fräulein drüben . . .
Immer mehr verlor sich das Auge des Jrrenarztes in das Bild dieses schönen, gesunden, jungen Körpers — dieses von der Aufregung geröteten, hübschen, leidenschaftlichen Gesichts mit der weissen Stirnbinde um die zerzausten, blonden Bubiwellen. Diese langen Katzensprünge der grauen Maus des Balls entgegen, dies lauernde Ducken — dies Rennen wie ein Windhund . . . Der kleine Mann mit der hohen Schulter sah und sann: Merkwürdig, wieviel Freude der Mensch am eigenen Körper haben konnte . . .
„Die Bödiger macht’s, wie sie will!“ hörte er neben sich eine Damenstimme. Und eine zweite: „Aber die andere lässt sie wenigstens tüchtig laufen!“ Nun — natürlich lief die Lill. Hauptsächlich fegte sie ganz rückwärts, hinter dem letzten weissen Bodenstrich hin und her . . . Dann stand sie wieder weiter vorn, den dünnen Arm ohne die geringste Knickung im Ellbogen wagerecht seitlings langgestreckt. Sie trieb den Ball. Dr. Hormuth ertappte sich darauf, wie er selbst in jäher Spannung, gleich der anderen umher, dessen Flug folgte. Der Ball kam zurück. Der Irrenarzt sah wieder auf Lill. Auf das rastlose Spiel ihrer aufgeregt glänzenden Augen in die Luft hinaus — auf den wilden Gesichtsausdruck mit dem halb offenen Mund — ein leidenschaftlicher Satz in die Höhe . . . Es war ein träumerisches, selbstvergessenes Wohlgefallen, dem allem zuzuschauen . . .
Männerstimmen . . Einige Herren von hinten. Ein hagerer Tennisspieler, glattrasiert, mit blossem Stoppelkopf, in zitrongelbem Mantel, schob sich zwischen die Sitzreihen und stand da, unbekümmert, dass er anderen die Aussicht versperrte. Es wagte auch niemand, etwas zu sagen. Das war Herr von Orff. Der Crack gähnte breitbeinig, ein in die Provinz verirrter weltstädtischer Halbgott, und blinzelte gelangweilt auf den Tennisplatz, als sei das ein Kindergarten.
„Was wird denn da wieder zusammengestöpselt . . . Nettes Tempo . . . Die feiern wohl Grosspapas Geburtstag . . .“, sagte er. „Wer ist denn eigentlich das lange, blonde Mädchen, das da herumkraucht?“
„Ein Fräulein Bödiger!“ sagte einer aus seinem Gefolge. „Geht auf den Namen Lill.“
„Weiss ich! Aber sonst? Vater bei Kasse? Fabrik-Konzern? Villa im Grunewald? . . Gott . . Eigentlich ein niedliches Tierchen! Können kann sie ja nischt . . .“
„Im Hauptberuf Turnier-Reiterin!“
„So Kinder sollt’ man auch nicht auf Pferde setzen!“ sagte Herr von Orff und zündete sich eine kurze Pfeife an. Der kleine Herr im Schlapphut vor ihm stand heftig auf, mit einem Stich im Herzen, dass man ihn so kaltschnäuzig aus seinem Traumgesicht riss. Er drängte sich, im Gegensatz zu seiner sonstigen leisen und milden Art, unsanft an seinem Hintermann vorbei. Er und Robby Orff schauten sich eine Sekunde in die Augen, der Krüppel mit einem feindseligen, der Athlet mit einem Ausdruck der Befremdung, dass jemand ihm zu nahe kam. Dann merkte er, dass der andere verwachsen war. Er lächelte plötzlich angelsächsisch, sonnig, förmlich um Entschuldigung bittend, und gab ritterlich, wie früher gegen eine Dame, den Weg frei. Der Gelehrte trat an dem Sportsmann vorbei auf den Rasen hinaus. Er schaute noch einmal nach dem Tennisplatz zurück. Lill stand da, bückte den schlanken Oberkörper, wippte den Ball mit der Schlägerfläche vom Boden und fing ihn mit der Hohlhand. Sie schwatzte dabei und schüttelte sich vor Lachen, mit heissen Backen und zerflattertem Haar. Sie war offenbar schon nahe an ihrem zweiten heutigen Sieg. Die Herbstsonne schien hell auf ihr weissflimmerndes, kurzes Kleid.
Das Badestädtchen lag in warmem Mittagsgold. Blau, rot, weiss brannten die Astern im Kurgarten. Farbige Orchideen sprenkelten das Grün der Wiesenflächen. An den Villen in der langen Vorstadtstrasse kletterte feurig rot der wilde Wein. Herbst. Der kleine Herr im Schlapphut, mit der hohen Schulter, ging über das raschelnde Laub am Boden, in einer sonderbaren Stimmung — von Abschiednehmen und Immerwiederkehr der Dinge — als hätte man das alles schon erlebt — oder nichts erlebt . . . Es war ja schon wieder alles vorüber . . .
Da ragte vor ihm das stille, grosse, weisse Haus mit den vergitterten Fenstern, fernab von den Menschen, im einsamen, buntscheckig wie ein Hanswurst gefleckten Park. Seine Welt. Er trat ein. Auch hier Herbstsonne und Herbstfrieden hinter den hohen Mauern. Die meisten von den Seinen bei dem schönen Wetter im Freien, eifrig in dem weiten Gemüsegarten bei der Arbeit. Der Kaiser von China zupfte Unkraut. Der General mit den vielen Orden buddelte Kartoffeln. Der Prinz schaufelte im Schweiss seines Angesichts. Der reichste Mann der Welt pumpte sich Brunnenwasser in die Giesskanne. Selbst Napoleon hatte sich beruhigt und fuhr Mist.
Auf einer Bank sass die gläserne Dame, das Stielglas vor den Augen, und las die Zeitung. Der Jrrenarzt setzte sich neben sie, ohne dass sie sich um ihn kümmerte. Er schaute schweigend in den Garten hinaus. Über dem stand blassblau, hoch der Himmel, mit kleinen weissen Wölkchen . . . .
„Neuer Tobsuchtsanfall auf Nummer II. Eine Subcutane . . .“, berichtete der Assistent, der herangetreten war. „Sonst nichts Neues.“
„Ja — gut . .“, sagte der Dr. Hormuth in Gedanken . ., „das heisst — eigentlich natürlich nicht gut . . . Wie? . . . Das war zu erwarten? . . Nun ja . . . . Wissen Sie: Vorhin sagte mir das Fräulein von gestern: ,Das ist doch alles so furchtbar einfach.’ Aber ich finde das nicht . . .“
„Hat sich die Dame von dem Schrecken erholt?“ Der Assistent lachte.
„Die? Die springt herum und ist kreuzfidel und haut einen Ball über das Netz — immer hin und immer her — Sinn hat das nicht. Aber vielleicht ist das der Sinn des Lebens . . .“
„Herr Doktor: dunkel ist der Rede Sinn . . .“
„Ja. Es ist vieles dunkel. Gerade bei Sonnenschein.“ Der Jrrenarzt stand auf. „Sie glauben nicht, wie glücklich sich die Leute dort alle fühlen, in ihrer unbefangenen Leiblichkeit. Wie heisst’s im Faust: ,Von Körpern strömt’s — die Körper macht es schön’ . . .“
„Ja —, und mit den Körpern wird’s zugrunde gehn’ — geht es weiter!“
„Was geht nicht zugrunde? Wir hier, mit unseren kranken Seelen . . .“ Der kleine Jrrenarzt wandte sich nach dem Hause. „Man denkt doch über mancherlei nach, wenn man mal herauskommt! Nun bin ich ja wieder hier. Im Hafen. Sagen Sie mal: Wann hab’ ich eigentlich den Vortrag über: ,Die kranke Zeit’ in Berlin?“
„Ich weiss nicht ganz genau, Herr Doktor! Aber etwa in drei Wochen. So um die Mitte Oktober.“
„So: Ich will mich doch lieber mal gleich hinsetzen und mit der Ausarbeitung anfangen! Ich brauche heute eine wissenschaftliche Ablenkung — auf das Wesentliche! Melden Sie mir, wenn etwas Besonderes passiert . . .“