Читать книгу Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz - Страница 4

I

Оглавление

Draussen, vor den zum Schutze gegen die Kälte sorgfältig mit Papierstreifen verklebten und mit dicken Watteschichten ausgepolsterten Doppelscheiben war das tiefe Winterschweigen Moskaus. Und wenn Marja Michels in ihrer hochgelegenen Wohnung auf der Insel zwischen dem Moskwaflusse und dem Kanal an eines der Fenster trat, um nachzusehen, ob ihr Mann noch nicht bald aus seinem Kontor oder vom Neubau seiner Baumwollspinnerei zurückkäme, dann erblickte sie vor sich dasselbe stille nordische Bild — alles weiss in weiss, in trüben, frostigen Tönen — fahlgrauer niedriger Himmel mit leisem, kaum merklichem Geriesel träger Flocken, schwere, zähe, eisgraue Luft, die auf kurze Entfernung hin schon in undurchsichtigen Nebel überging, grauweisser Schnee am Boden, auf den Dächern, auf den Strassen und Brücken, auf dem Eis des Flusses — Schnee überall. ...

Und doch schimmerte es da drüben grellbunt, unwahrscheinlich wie eine Sinnestäuschung des Südens in dieser bleichen nordischen Welt. Auf dem hohen Hügel zur anderen Seite des Flusses stand es und bedeckte ihn weithin mit seinem phantastischen Gewirr von Palästen und Kathedralen, von Türmen und Zinnen, von Zugbrücken und Klöstern und Toren. Dort ragte der Kreml, die heilige Stadt des heiligen Moskau, hoch über das weisse Häusermeer. Die Michelssche Wohnung lag ihm gerade gegenüber, ganz vereinzelt zwischen den Magazinen und Warenlagern der „Insel“ und abgeschieden von den eigentlichen Vierteln der Deutschen und Deutschrussen im Osten um die evangelischen Kirchen herum.

Und doch liebte Marja ihre Wohnung — gerade wegen des Ausblicks auf den Kreml. Der tat den Augen so wohl in dem langen Moskauer Winter, der ihr, der geborenen Reichsdeutschen, noch endloser und eintöniger erschien als ihrem Mann und ihren anderen schon halb verrussten Landsleuten hier. Das war ein wie durch Zauber hierher verpflanztes Stück Orient oder Indien, wie ein Traum aus tausend und einer Nacht ... ein Bagdad im Schnee ... Still, mit einem halben Lächeln auf den klaren, jugendlich schönen Zügen stand sie da und lugte durch das Loch, das sie in die Eisblumen der Scheiben gehaucht. Draussen hatte der bisher bleigraue Himmel an einer Stelle eine zarte, milchig-bläuliche Färbung angenommen. Ein schwacher Mittagsonnenstrahl blinkte da hindurch und wo er unten, im Schnee und Nebel den Kreml erreichte, da leuchtete es überall geisterhaft dagegen auf. All die lautere Golddachung des Kirchen- und Heiligenreichs auf dem Berghügel flammte und funkelte, noch halb von Nebelschleiern umsponnen, in blitzenden Lichtern zwischen dem Weiss des Bodens, dem Grau der Wolken, und unter ihr schimmerten gleich einem ausgeschütteten Farbenfüllhorn von Tönen die Riesenmassen der weltlichen Gebäude, der Kathedralen und der Klöster — da zartrosa Wände mit weissen Säulen, grüne Spitzgiebel, ein Haufen tief sattblauer Tulpen um eine mächtige, goldstrahlende Zwiebel, himmelblaue Fensterfronten mit schneeigem Arabeskenwerk und hellgrünen Dachreitern, weisse, mit bunten Heiligenbildern bemalte Steinrondelle unter goldenen Mützen, eine gigantische, ochsenblutfarbene Wölbung wie die Riesenkuppel einer Stambuler Moschee, ein seegrüner, vornübergeneigter Moskowiterpalast, ein nadelscharf aufschiessendes kalkweisses Minareh, hinter ihm ganze Schwärme weisser Türme mit taubengrauer Kuppelung und dem goldenen Erlöserzeichen auf der Spitze — alles überragend der goldgekrönte Riese, der Turm Iwan Weliki, und neben ihm der zitronengelbe Flimmer des ebenso riesigen Winterpalais und neue blaue Schnörkel und grüne Firste und goldene Hauben hinter dem Altersgrau der bemoosten viertelstundenlangen Mauern und Gräben und Brückenköpfe aus der Mongolenzeit.

Und immer heller schien die Sonne und immer neue Mengen kreuztragender Kuppeln, ganze Nester zwiebelförmiger Goldmassen wuchsen funkelnd und blitzend hinter dem Weiss der Kathedralen auf, die, wieder auf weissen Schneeflächen stehend, mit ihren weissen Türmen das Durcheinander der Töne dämpften, es beinahe in einen feierlichen Gleichklang von Weiss und Gold verwandelten, wie drüben, aus nebelumsponnener Weite, in bleichem Glanz, anscheinend halb durchsichtig gleich einer Luftspiegelung von phantastischer Grösse das zweite Wahrzeichen Moskaus, die weissgoldene Erlöserkathedrale, herüberdämmerte.

Und still war es — totenstill. Kein Laut drang aus den bunten Zauberhäusern herüber, über den Fluss, in die Stadt hinein. All diese Farben schwiegen. Die grossen Glocken hingen schlafend in ihren offenen Holzstühlen. Nichts regte sich. Nur an einer Stelle stürzten weisse Brocken lautlos in die Tiefe. Da fegten Mönche den Schnee von einer Goldkuppel ihres Klosters. Dann hörte auch das auf. Die Ruhe war wieder da und Marja Michels wandte sich langsam vom Fenster ab und sagte mit einem freundlichen, aber noch ein wenig leeren und verträumten Lächeln auf den Lippen zu dem eingetretenen Fräulein: „Sind Sie endlich zurück mit den Kindern? Wo bleibt ihr denn nur so lange?“

Sie bemühte sich, die ruhige Heiterkeit ihrer Züge ein wenig in Strenge zu verwandeln. Aber sie konnte es nicht recht, während sich ihr kleiner Sohn und seine Schwester erhitzt, mit roten Backen, hereindrängten und Grischa, der ältere, gleich zu berichten begann — erst russisch, dann auf ihren Verweis: „Grischa — wie spricht man mit der Maminka?“ in einem drollig von den Kinderlippen klingenden harten Deutsch, in dem ihn, wo ihm die Worte noch fehlten, das Fräulein unterstützte. Er war in grosser Aufregung. Sie hatten am Ende ihres Spazierganges, auf dem Platz, wo sie gewöhnlich einen Schlitten nahmen, um zurückzufahren, den Timofei, ihren Leibkutscher, nicht getroffen, und die anderen Iswoschtschiks hatten alle gelacht, und einer, mit einem ganz grossen roten Bart, hatte gesagt, der Timofei sei betrunken und zur Polizei gebracht worden. Dort müsse er drei Tage bleiben. Da habe das Fräulein den Rotbärtigen gefragt: „Nun — und du? Bist du nüchtern? Kann man mit dir fahren?“ und er habe gesagt: „Belieben Sie! Ich bin ja Timofeis Freund!“ und sie seien ganz, ganz schnell gefahren — viel schneller als mit dem Timofei — und der Fuhrmann habe gesagt, falls sie künftig ihn statt des Timofei nähmen, dann würde er zu Ostern, wenn er in sein Heimatdorf ginge, ihnen von dort ein Eichhörnchen mitbringen — ein rotes oder ein graues — und nun müsse man immer mit dem neuen Fuhrmann fahren — des Eichhörnchens wegen ...

„Das Eichhörnchen wird dich beissen!“ sprach Marja und schob die ganze Gesellschaft ins Nebenzimmer. Aber Grischa widersprach: „Nein — nein — Mama! Er sagt: ja, die Iltisse ... die beissen ... aber die Eichhörnchen nicht so sehr! Die Tanja natürlich ... die hat jetzt schon Angst ...“

Die junge Frau beugte ihre schlanke Gestalt zu ihrem Töchterchen nieder und strich ihr sanft über das Haar. „Sei nur ruhig ... es tut dir niemand was! Und nun macht und zieht euch schnell um zu Tisch. Der Papa wird gleich kommen!“

Allein geblieben trat sie wieder zum Fenster und schaute hinaus. Die Strasse unter ihr war still, von grauem Schnee bedeckt, selten einmal von einem Wanderer im Pelz, einem lautlos gleitenden Schlitten belebt. Und still lag der Fluss davor, zugefroren und beschneit, von schmalen dunklen Wegspuren überkreuzt. Grosse blaue Barken staken unbeweglich, ausgestorben in seiner Eisdecke. In der waren an einzelnen Stellen Löcher geschlagen. Da knieten Weiber und wuschen in dem schwarzen, rauchenden Wasser und weiter hinaus standen vermummte Männer und angelten. Das alles war eintönig und alltäglich. Aber da drüben, hinter den steil abschiessenden weissen Hängen, den verwitterten und verwetterten Mauern standen wieder die bunten Geisterschlösser und grüsste ein die Augen beinahe schmerzendes Gewirr und Gewimmel von Gold. Und blickte man zu beiden Seiten des Kreml weiter über die nebelumsponnenen Dächer der Stadt, so flimmerte es auch da überall von schwebendem Gold und durchbrach, im Widerschein der Sonne aufblitzend, den feinen Dunst und Rauch der Winterkälte mit zuckenden Lichtern und baute sich hunderttürmig in schattenhaft in der Ferne sich wölbenden Kuppeln, in grünen Glockenstühlen und steinern ragenden Warten aus unzähligen Kathedralen und Kirchen und Klöstern über der heiligen Stadt auf.

Marja Michels hatte die Türe zu dem Balkon geöffnet und trat hinaus. Das hatte sie sich, als sie vor sieben Jahren ihrem Mann aus Deutschland nach Moskau folgte, ausbedungen, dass wenigstens ein Zugang zur frischen Luft auch im Winter in der Wohnung offen bliebe. Die Kälte war auch an einem Tage wie heute, bei Sonnenschein und Windstille, auf ein paar Minuten gar nicht unangenehm, sondern wirkte wie ein erfrischendes Bad. Und nun hörte sie auch statt der bisherigen Todesstille in der Stube einen Laut des Lebens von aussen — das ferne, vielstimmige Krächzen der Krähen vom Kreml, die als Hunderte von schwarzen Punkten die Dome und Fürstensitze, die Zeughäuser und Einsiedeleien da oben unablässig umflatterten.

Ihre Züge erhellten sich. Unten vor dem Tor hielt ein Schlitten und in ihm sass ein Wesen, das einem grossen Bären am meisten glich. Denn man sah nichts von ihm als einen mächtigen zottigen, hellbraunen Pelz, der, mit der Haarseite nach aussen gewendet, alles, selbst den Kopf des Trägers, zwischen seinen hochgestülpten Schulterklappen verbarg. Jetzt stieg der aus und gab dem Kutscher sein Geld. Und im selben Augenblick warf die junge Frau oben, nachdem sie genau, mit lachendem Auge gezielt, einen rasch vom Balkonsims gegriffenen Schneeballen auf den Bären hinunter. Sie traf so gut, dass die eine Seite des Pelzkragens aufstäubte. Der wurde daraufhin schnell zurückgeschlagen. Ein gutmütiges, halb unter einem grossen, rötlichblonden Vollbart begrabenes Antlitz schaute so treuherzig und verblüfft herauf, dass sie wieder laut lachen musste, ebenso wie der Iswoschtschik unten. Dann hatte ihr Mann sie erkannt und stimmte in ihre Heiterkeit ein und machte eine drohende Bewegung, als wollte er sagen: „Wart’ nur, ich komme!“ und lief in das Haus hinein. Das sah drollig aus. Denn er stolperte unbehilflich in dem Biberpelz und den hohen Galoschen, aber als sie selbst die Flurtüre aufmachte, war er schon halbwegs oben, freilich ein wenig atemlos, und tupfte sich noch in Eile die Eisstückchen aus dem Bart, ehe er den Arm um sie legte und sie nach russischer Sitte dreimal hintereinander auf jede Wange und auf den Mund küsste.

„Brr!“ sagte sie und trocknete sich die Lippen. „Du bist noch ganz nass ... oh Mischa — du Bär ... wahrhaftig wie ein Brummbär hast du unten im Schlitten gesessen ... ich hab’ nicht anders können ... ich musst’ dir einen Schneeballen auf den Kopf werfen ... wart’ ... ich helf’ dir den Pelz ausziehen ... so ... nun sag nur um Gottes willen ... wo bist du wieder so lange geblieben?“

Iwan Michels wickelte, während er hinter seiner Frau in das Wohnzimmer trat, ein Seidenpapierpaket auf und reichte ihr einen Strauss frischer blühender Rosen und auf seinem Gesicht war dabei eine Mischung von schlauer Gutmütigkeit und stillem Schuldbewusstsein. Er sah voraus, sie erzürnte sich über die Verschwendung — Treibhausblumen im Moskauer Winter! — und freute sich doch darüber. Und so sagte sie denn auch zwischen Lachen und Ärger, aber mit einem warmen Schimmer in den hellbraunen Augen: „Mischa ... schämst du dich denn nicht? Denkst du denn nicht an unsere Kinder? Was muss denn das nun wieder gekostet haben?“ Und er verteidigte sich, ein wenig unsicher, aber immer mit seinem herzlichen, das ganze, sonst nicht eben vielsagende Antlitz sonnig erhellenden Lächeln, das trotz der rotblonden Bartmassen beinahe etwas Kindliches an sich hatte: „Duschinka, mein Seelchen ... sei nicht bös ... Es ging nicht anders. Ich konnte nicht an dem Blumenladen vorbei ...!“

Jetzt musste sie selbst über seine kläglich-durchtriebene Miene lachen. „Das kannst du ja nie! Jeden Tag schleppst du etwas Neues ins Haus! Ich weiss schon kaum mehr, wohin damit — und die Kinder auch!“

Sie reichte ihm die Stirne zum Kuss und ordnete dann die Blumen in einer Vase. Er sah aufmerksam zu. „Ich hab’ sie die ganze Zeit unter dem Pelz gehalten, damit sie nicht erfrieren!“ sagte er. „Obwohl — es ist heute nicht sehr kalt draussen ... kaum sechzehn Grad ... na ... und — posluschaî — höre ... wo sind denn die Kinder?“

Er ging dabei, sich die grossen frostigen Hände reibend, im Zimmer auf und ab und machte wieder ein sehr schlaues und geheimnisvolles Gesicht, das sich noch mehr verklärte, als Grischa und Tanja, die Kleinen, mit ihrem Fräulein auf der Schwelle erschienen. „Da kommt mal her, ihr Spitzbuben ... du greif mir rechts in die Tasche, Grischa ... du links, Mädi ... guten Morgen, Fräulein ... da haben Sie auch ein paar Veilchen ... sonst werden Sie zu neidisch auf die Blumen, die meine Frau gekriegt hat ... Nun, was schreit ihr denn?“ Er brach seine in dem harten Moskauer Deutsch des eingeborenen Deutschrussen gesprochenen Worte ab und schaute vergnügt auf seine Sprösslinge, die sich ihre Geschenke hervorgeholt hatten ... je eine hölzerne, hübsch bemalte Gurke und Birne, die, oben mit einem Schlitz versehen, eine Sparbüchse vorstellten. „Das hab’ ich in den Kaufmannsreihen für euch eingehandelt, damit ihr euch beizeiten an Sparsamkeit gewöhnt!“

„So wie euer Papa!“ Marja musste lachen. „Ich glaube wirklich, Mischa — du gäbst deinen letzten Rubel her, um andern eine Freude zu machen!“

Der grosse, etwas schwer und breit gebaute Mann neben ihr hörte nicht darauf. „Schüttelt einmal!“ sagte er eifrig zu den Kindern. „So! Hört ihr’s klappern? In jeder Büchse sind zehn Kopeken drin — die hab’ ich als Heckpfennig hineingetan ... was, Grischa — ein Griwennik ist dir zu wenig? ... Du willst einen Rubel drin haben? Liebes Kind ... zehn Kopeken sind viel Geld! Wie euer Urgrossvater nach Moskau gekommen ist — das sind jetzt bald hundert Jahre — da hatte er nicht mehr als das in der Tasche und war ein blutarmer Chemnitzer Webergeselle, mit vielen hundert anderen, und hat sich’s sauer genug werden lassen, bis er etwas vor sich gebracht hat und schliesslich Werkmeister in der Spinnerei geworden ist. Und euer Grossvater — der war schon so weit, dass er sich selbst eine Spinnerei gebaut und eingerichtet hat ... die war freilich noch klein und einfach im Vergleich zu heutzutage ... und wenn ihr artig seid und nächsten Sonntag mit spazieren fahren dürft, dann zeige ich euch, ganz draussen vor Moskau, die schöne, grosse neue Fabrik, die euer Papa jetzt gebaut hat ... mit fünf Stockwerken und mehr Fenstern, als ihr zählen könnt, und blitzblanken grünen Dächern ... und dann müsst ihr euch denken, dass das alles von dem Zehnkopekenstück kommt, das damals der alte Urgrosspapa als Handwerksbursche dreimal in der Tasche umgedreht und nicht ausgegeben hat, wie er zum erstenmal von den Sperlingsbergen aus hat Moskau vor sich liegen sehen ...“

Und ernster geworden, setzte er, zu seiner Frau gewendet, hinzu: „Also, Duscha maja, meine Seele ... deswegen komm’ ich heute so spät. Ich war wieder bei den Behörden. Die letzten Schwierigkeiten mit der Fabrik sind erledigt. Jetzt kann ich sie aufmachen und mit der Arbeit anfangen!“

„Gott sei Dank!“ sagte die junge Frau, und die freudige Überraschung liess ihr zartgeformtes, schmales Gesicht mit den grossen braunen Augen noch mädchenhafter als sonst erscheinen. Seit vier oder fünf Jahren, seit dem Tode ihres Schwiegervaters, war von nichts mehr die Rede gewesen als von dem Neubau der Baumwollspinnerei, einem Unternehmen, das ganz auf der Höhe des zwanzigsten Jahrhunderts stehen und drei-, viermal so gross werden sollte als der ererbte, etwas rückständige und veraltete Betrieb. Das ganze Vermögen war in den Bau hineingesteckt, es hatte lange, bange Monate und Jahre des Sorgens und Mühens gegeben — nun endlich war man so weit, dass der mächtige rote Backsteinkasten da draussen in der verschneiten Ebene sich beleben und aus hohem Schlote atmen und mit Hunderten von surrenden Rädern und Tausenden von tanzenden Spindeln sich regen und endlich Geld hergeben würde, statt immer neues zu verschlingen.

Sie war ganz andächtig gestimmt. Sie wollte ihrem Gatten die Hand drücken, ihm etwas sagen, was dieser Minute entsprach. Aber sie merkte: er war gar nicht so froh gelaunt. Er hatte wieder Sorgen — viele sogar, zu viele, grosse und kleine, um sich der festlichen Stimmung des Augenblicks hinzugeben. Eher schien er ihr sogar, wie schon oft in diesen letzten Wochen und Monaten, von einer inneren Unruhe, einer ganz im Widerspruch zu der frohlaunigen Gutmütigkeit seines Naturells stehenden Gereiztheit verfolgt, die er nach Kräften vor ihr zu verbergen suchte.

Er rieb sich daher hungrig-behaglich die Hände, schmunzelte, als er hörte, dass es zu Tisch Boeuf à la Stroganoff, sein russisches Leibgericht aus gedünsteten Pilzen, Fleischstücken und Kartoffeln, geben sollte und goss sich unterdessen zu den Heringschnitten als Vorspeise, am Seitentisch stehend, ein Schnäpschen und dann ein zweites und nach kurzem Besinnen mit seinem gewöhnlichen: „Bog ljubit troizu!“ — Gott liebt die Dreizahl! — ein drittes ein, ehe er sich mit den Seinen an die Tafel setzte und gehörig, mit echt Moskauer Appetit, einhieb. Aber seine Stirn blieb jetzt, wo die Rede einmal auf die Fabrik gekommen war, doch umwölkt. Seine Gedanken waren bei dem Geschäft. Und Marja, gewohnt, die Sorgen seines Berufs mit ihm zu teilen, brachte nun selbst das Gespräch darauf. Es wurde ihm vielleicht leichter, wenn er davon reden konnte. „Wie ist denn heute der Markt gegangen?“ frug sie, indem sie ihm ein Glas krimschen Rotwein eingoss.

„Wie immer jetzt!“ sagte Iwan Michels düster und mit vollen Backen. „Bei uns in Zentralasien sind die Leute vernünftig — mit Indien und Ägypten liesse sich auskommen ... da ist doch noch ein gewisser Sinn in der Preisbildung ... man könnte einigermassen den Markt überschauen ... sich eindecken ... aber was hilft das, wenn die Yankees alles auf den Kopf stellen!“ Sein bärtiges Gesicht rötete sich vor Zorn. Seine Rechte ballte sich unwillkürlich auf dem Tischtuch zur Faust. „Dass es dagegen keine internationalen Gesetze gibt wie gegen Seeräuber oder Pestgefahr — gegen solch einen Haufen gewissenloser amerikanischer Spekulanten, die ohne jede Rücksicht auf Konjunktur, Statistik und Ernteaussichten mit den Baumwollpreisen spielen — auf reines Glück hin, als sässen sie vor der Roulette in Monte Carlo — und den ganzen Weltmarkt in Fieber und Ungewissheit stürzen, um für sich und ihre Hintermänner, diese Wallstreetmillionäre, Geld herauszuräubern! Ich möchte nur einmal diesen Mister Ascott — diesen Neuyorker Hauptfaiseur — unter vier Augen treffen und ihm meine Meinung über seine Praktiken sagen. Da sollte dieser Gentleman sich wundern!“

„Kaufen sie denn noch immer auf?“

„Die alte Geschichte: sie haben in Neuyork einen Ring gebildet und kaufen alle Baumwolle zusammen, die sie auf der Welt kriegen können, um nachher uns Spinnern die Preise zu diktieren. Die Preise steigen unaufhaltsam — wahnsinnig — über jede Möglichkeit eines Verdienstes hinaus — jetzt schon sind in den Vereinigten Staaten eine ganze Anzahl Spinnereien bankerott oder geschlossen, weil sie das Rohmaterial nicht mehr zahlen können — Tausende von Arbeitern liegen auf dem Pflaster — aber das ist den Kerlen ganz egal ... wenn sie nur räubern können ... der Corner mordet weiter ... gestern ist Liverpool wieder um zwanzig Punkte gestiegen.“

Er schwieg eine Weile und sagte dann dumpf: „Schau, Marja — deswegen freu’ ich mich gar nicht so, wie du denkst, über die Eröffnung der Fabrik. Mach’ ich sie auf, so muss ich auch zu spinnen anfangen — das heisst, ich muss Baumwolle einkaufen und Garn daraus herstellen und das Garn verkaufen. Wie will ich das aber, wenn jetzt — dank diesen Neuyorkern — die Baumwolle fast teurer ist als das fertige Garn?“

„Da würde ich jetzt lieber überhaupt noch nicht anfangen, sondern warten!“

„Ja, Kind — wenn das so ginge! Aber nun ist die Fabrik gebaut. In den nächsten Wochen kommen die Arbeiter aus ihren Dörfern, die ich fest in Lohn genommen hab’ — Hypothekenzinsen, Steuern, Gehälter der Angestellten — all die vielen Kosten laufen weiter — ob ich spinn’ oder nicht!“

„Aber was machen denn die anderen? Die sind doch in gleicher Lage?“

„Nein, Duschinka! Denn sie arbeiten eben schon längere Zeit — sie haben die Möglichkeit gehabt, sich früher mit billigeren Einkäufen einzudecken — sie bekommen auch bessere Vorschüsse auf Garnabschlüsse als ich, der sozusagen nun von vorne anfängt und von dem Leute, wie mein Exfreund Sascha Wieprecht, unser grosser Baumwollmann, behaupten, ich wäre zwar ein guter Fabrikant, aber nichts weniger als ein Kaufmann! Ja — siehst du, diese grossen Firmen haben es leichter. Wenn ich ein Karsinkin wäre oder ein Morosow oder ein Baron Knoop“ — es lag eine unwillkürliche Ehrfurcht in seiner Stimme, während er die mächtigen Moskauer Handelshäuser nannte, und namentlich den von Bremen aus die Welt umspannenden Namen Knoop — „oder wenn ich wie Wieprecht an der Spitze einer riesigen Aktiengesellschaft, wie es die ehemals Spiridionowschen Manufakturen sind, stände — nun — da lässt sich solch eine Sturmzeit ertragen. Man manöveriert eben und das Wetter geht vorüber. Aber ich komme jetzt im unseligsten Augenblick hinein ... weisst du ... ich schlaf’ doch sonst so gut, Marja ... aber in letzter Zeit ... da wach’ ich immer auf und liege still und denke und rechne und weiss nicht, was ich tun soll.“

Er liess bekümmert den Kopf sinken und Marja blieb stumm. Sie verstand zu wenig von diesem täglich schwankenden, mit Hilfe des elektrischen Funkens über die ganze Erde, von Merw bis Liverpool, von Bremen bis Neuyork, von Kalkutta bis Alexandria, geführten Kampf zwischen Baumwollhausse und -baisse. Sie begriff nur: die Fabrikanten, die Spinner, waren überall von der Preisbildung der Börsen abhängig und ihre Hauptkunst bestand darin, sich richtig „einzudecken“, sich das Rohmaterial so billig zu sichern, dass ihnen beim Verkauf des Fabrikats ein Nutzen blieb. Und dazu musste man freilich ein guter Kaufmann sein.

Darüber dachte auch Iwan Michels rastlos nach. Als nach Tisch die Kinder und das Fräulein sich zurückzogen, küsste er aufstehend seiner Frau zuerst die Hand, dann zärtlich die Stirne und sagte dann, während er sich eine Zigarette — schon die dritte oder vierte, denn er rauchte auch zwischen den einzelnen Gängen der Mahlzeit — anbrannte, nach langem Schweigen ganz unvermittelt: „Vielleicht hat Wieprecht recht. Vielleicht bin ich wirklich nur für die Fabriksäle gut. Da macht mir keiner was vor. Ich höre, noch ehe ich die Türe aufmache, aus all dem Lärm heraus, ob drinnen ein Rad leerläuft und wo ... aber dies Treiben an der Börse ... diese Verhandlungen mit den Garnmaklern und Agenten — dies Aufundnieder der Kurse ... da kommt es nicht so auf Kenntnisse an, sondern das muss man in sich haben — so wie Sascha Wieprecht. Der vereinigt beides. Wie ein Räuber muss man auf der Lauer liegen — und um dich schreien sie dir die Ohren voll von: Liverpool so und so viel Punkte höher und Neils letzter telegraphischer Erntetaxierung und Eisklausel und cif und 6 Prozent und franko Bord und Alexandria, garantiert 28/30 Millimeter Mac Faddens Abladung und 10 000 Pud erste Sorte asiatische Baumwolle Knoops Abladung und wieder eine Kabel-Code-Depesche aus Neuyork, Ascott will mit Hilfe Wallstreets die gesamte Weltproduktion dieses Jahres mit fünfzig Millionen Dollars cornern, — bis sich einem der Kopf dreht, und dabei musst du den rechten Augenblick erwischen und ist der verfehlt: wot! da haben wir die Bescherung! Da hilft alle Arbeit in der Fabrik hinterher nichts mehr!“

„Und kannst du dich denn nicht mit anderen Kaufleuten darüber besprechen?“

Der Spinnereibesitzer schüttelte den Kopf und in seinen guten kleinen Augen war ein halbes Lächeln über die geschäftliche Unerfahrenheit seiner Frau. „Zur Konkurrenz gehen? Die würden schön lachen und mich übers Ohr hauen! Da muss sich jeder selbst helfen. Der einzige, der es unter seiner Würde halten würde, mich einzuseifen, das wäre Wieprecht. Davon bin ich überzeugt, obwohl wir uns ja seit vier Jahren nicht mehr kennen und auf der Strasse nicht mehr grüssen. Er ist anders wie die anderen. Er sieht das alles so mehr von oben herab an ... so abseits — er steht mit den Händen in den Hosentaschen da und spricht von der Oper und der neuesten Tänzerin und Gott weiss was und tut, als gäbe es gar keine Baumwolle auf der Welt — und dabei entgeht ihm nichts! Nun ja — wenn man wie er, als ganz junger, unerfahrener Mensch, das väterliche Geschäft so gut wie ruiniert übernommen und in den fünfzehn, sechzehn Jahren derart wieder auf die Beine gestellt hat und durch die Fusion mit den Spiridionowschen Manufakturen in eine Aktienriesenfirma verwandelt hat und da an der Spitze steht — alle Achtung — gewiss — das macht ihm nicht leicht einer nach ... und er ... er wirft seine Papyros weg und sagt: ‚Gospoda! ... Herrschaften ... redet mir von allem, nur nicht von Garn und Baumwolle!‘ Ein merkwürdiger Mensch ... Niemand wird aus dem klug ...“

„Und früher wart ihr doch so gut miteinander bekannt? Und du bist ihm doch für manches zu Dank verpflichtet!“

Iwan Michels schlürfte seinen schwarzen Kaffee und machte eine Bewegung mit den breiten Schultern, zwischen denen sein Kopf ziemlich tief auf stämmigem Nacken sass. „Poloshim! Wie man’s nimmt, Duschinka! In den vier Jahren, wo ich unter ihm in seiner Fabrik arbeitete, weil ich mich mit meinem Vater absolut nicht mehr vertrug — ein Mann zu Anfang der Dreissig, den er wie einen Schulbuben hielt — gewiss, da hab’ ich viel von ihm gelernt, obwohl er ja sogar ein bisschen jünger ist als ich. Jetzt noch nicht vierzig. Und auch dann, wie der Vater immer kränker wurde und mir schliesslich doch die Fabrik überlassen musste und ich nicht mehr bei Wieprecht war, da blieben wir doch in einem ganz freundschaftlichen Verkehr. Wenn wir uns mal auf der Strasse trafen, so sprangen wir aus den Schlitten und gaben uns die Hand. Ich weiss noch, wie er mir damals gratulierte, als ich ihm erzählte, ich hätte auf einer Geschäftsreise in Deutschland dich kennen gelernt und mich mit dir verlobt. Oder eigentlich kondolierte — man hat ja bei ihm immer das Gefühl, als mache er sich über die Menschen lustig und denke sich eigentlich das Gegenteil von dem, was er sagt ...“

Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. „Siehst du, Marja ... das ist es ja auch ... er ist mir nun einmal unsympathisch. Er war es mir immer. Wenn du ihn persönlich kennen lerntest, würdest du das verstehen. Ich bin nun einmal ein philiströser Mensch — ich hab’ keine grössere Freude, als Abends nach dem Geschäft bei euch daheim zu sitzen und mit dir zu schwatzen und mit den Kindern zu spielen ... und er ... man ist ja gewiss nachsichtig in solchen Dingen in Moskau und er ist ja auch Junggeselle — aber wenn ein Mann wie er, in seiner Stellung und doch nahezu vierzig Jahre alt, immer noch lebt wie ... wie wenn er gar keine Rücksichten auf die Gesellschaft zu nehmen hätte — oder vielmehr als ob er es darauf anlegte, sie vor den Kopf zu stossen ... Du weisst nicht, was man sich alles für Abenteuer von ihm erzählt! Ich habe keinen Sinn dafür und mag einen Menschen nicht, der, wie Alexander Wieprecht, alles in der Welt verneint, alles belächelt ... alles bespöttelt ...“

„Aber du brauchst doch nicht gleich wieder mit ihm Freundschaft zu schliessen. Nur versöhnen sollt ihr euch! ...“

Iwan Michels unterbrach seine Wanderung im Zimmer und blieb vor seiner Frau stehen. „Oh Goluptschik!“ sprach er. „Mein Täubchen — das sagst du so! Und wer soll den ersten Schritt tun? Ich? Ich soll zu ihm hingehen und ihm sagen: hören Sie, Alexander Karlowitsch oder lieber Wieprecht oder wie ich ihn nun anreden will ... Sie haben zwar damals, vor vier Jahren, mich ohne Grund und Recht auf das bitterste gekränkt und nie ein Wort der Entschuldigung dafür gefunden ...“

„Aber, Mischa ... was hat er denn schliesslich so Furchtbares getan? Er hat dich nach dem Tode deines Vaters gewarnt, den grossen Neubau der Fabrik zu unternehmen, weil du der kaufmännischen Leitung nicht gewachsen wärest ...“

„Und wie hat er das gesagt! Mit was für Worten hat er mir dies Armutszeugnis ausgestellt, um mich nur recht zu demütigen und zu beschämen? Du kennst ihn nicht! Du hast ihn nie gesehen! Du weisst nicht, wie masslos schroff er in Geschäften sein kann, der sonst, im gewöhnlichen Leben, immer so leichthin und liebenswürdig ist. Er hat mir in aller Ruhe Dinge ins Gesicht gesagt, die ...“

„Das beweist doch vielleicht gerade, dass er es gut mit dir gemeint hat ...“

„Ich danke für eine gute Meinung, die einen so ... zum Hohlkopf, zum armseligen Menschen stempelt. Du hättest ihn sehen sollen, wie er da im Lagerraum gestanden ist, und während er sprach, ein paar Baumwollfäden aus dem Muster gezogen und betrachtet und dabei ganz beiläufig und gleichgültig geäussert hat: ‚Na — jedenfalls, lieber Michels — wenn Sie glücklich Ihr Vermögen bei der Geschichte verpulvert haben — ein Posten hier bei uns, wie Sie ihn früher hatten, soll Ihnen immer offen sein!‘ Da hab’ ich denn doch meine Galoschen gesucht und meine Pelzmütze aufgesetzt und ihm gesagt: ‚Ich danke Ihnen für Ihr Gnadenbrot im voraus und möchte Sie der Mühe überheben, einen Mann, von dem Sie eine so geringe Meinung haben, künftig auf der Strasse zu grüssen!‘ Und er hat nur die Achseln gezuckt und immer seinen Baumwollstapel gezogen: ‚Lieber Michels, es kommen und gehen so viel Leute um mich! Ich halte keinen! Da swidanje! Leben Sie wohl!‘ Und so sind wir geschieden und dabei muss es bleiben!“

Er hatte sich hingesetzt, weniger einen Ausdruck des Zorns, als den einer jahrelang eingewurzelten Kränkung und Verbitterung auf dem bärtigen, derb gesunden Gesicht. Seine Frau war hinter ihn getreten. Sie fuhr ihm mit der Hand leise beschwichtigend über das rotblonde Haar. Dabei erhellten sich wieder seine Züge. Er schaute lächelnd zu Marja auf, mit jenem dankbarfreundlichen Schimmer in den Augen, den er immer für sie hatte. Und nun fing sie an zu reden. „Oh Mischa!“ sagte sie strafend und streichelte ihm weiter den Scheitel glatt. „Du bist und bleibst ein Bär und gehst viel zu schwer und wuchtig durch dies Leben und nimmst alles viel zu tief. Das ist alles gar nicht so schlimm, wie du denkst!“ Sie beugte sich herab und flüsterte ihm ins Ohr. „Du bist nur viel zu empfindlich, Mischa! Das hab’ ich dir schon so oft gesagt. Immer viel zu leicht verletzt! Weil du selbst so ein guter Mensch bist, denkst du, die anderen müssten auch alle so sein, und wenn sie’s dann nicht sind, ziehst du dich von ihnen zurück und trägst es ihnen nach und verschliesst alles in dich hinein und kommst dann mit Entschlüssen heraus, die vielleicht nicht ganz die richtigen sind, weil kein anderer sie mitgeprüft hat. Wirklich, Mischa — du musst dir eine dickere Haut anschaffen! Sonst wird es noch dahin kommen, dass du überhaupt nur noch mit mir und den Kindern verkehrst!“

„Das ist mir auch ganz genug!“ sprach Iwan Michels hartnäckig.

„Für dich vielleicht — aber nicht für deine Fabrik da draussen. Da können wir dir nicht helfen. Jetzt werd’ nicht böse, Mischa, und bleibe ruhig sitzen und höre: Ich an deiner Stelle — ich würde einfach einmal bei Gelegenheit zu Herrn Wieprecht hingehen und ihm die Hand geben und sagen: Nun wollen wir die letzten vier Jahre auslöschen! Und dann ist’s gut!“

Ihr Mann erwiderte nichts. So fuhr sie fort: „Sympathisch ist er mir auch nicht — nach allem, was ich von ihm gehört habe. Ich möchte ihn nicht kennen lernen und hier in meiner Wohnung haben. Aber wenn du rein geschäftlich wieder mit ihm zusammenkommst — das kann dir doch nur von Nutzen sein. Weisst du, was ich täte: ich führe an deiner Stelle gleich heute nachmittag hin!“

Iwan Michels war aufgestanden. Seine Frau bat ihn eigentlich so selten um etwas. Sie war zu klug, die Liebe, mit der er sie umgab, zu missbrauchen. Deswegen war es ihm schwer, ja unmöglich, ihr einen Wunsch direkt abzuschlagen. So suchte er das Gespräch abzulenken. „Nun — nun, Dorogája!“ sagte er und sie merkte, dass er sie diesmal nur ‚meine Teure‘ statt wie sonst ‚mein Seelchen‘ nannte. „Das geht nicht so rasch ... das will bedacht sein. Heute nachmittag bleib’ ich jedenfalls hübsch daheim bei dir und den Kindern ...“

„Ich fahr’ aber jetzt gleich weg, Mischa!“

„Wohin willst du denn?“

„Nach Petrowski-Park hinaus!“

„Zu meiner Mutter?“

„Ja. Sie hat mir geschrieben, ich möchte sie recht bald einmal besuchen! Du weisst: solch eine Aufforderung ist bei ihr eine Seltenheit.“

„Nun — da geh’ ich mit!“

„Nein — Mischa — diesmal scheint mir: es ist besser, ich fahre allein zu deiner Mutter, und du begleitest mich bis zum Smolensker Bahnhof und nimmst von da einen Schlitten zu Herrn Wieprecht.“

Sie trat dabei schon in den Vorflur, wo die Pelze hingen, und während sie in die Galoschen schlüpfte, die ihr das knieende Hausmädchen hinschob, fuhr sie fort: „Sei vernünftig ... tu’s mir zu lieb! Wenn du dann Abends zurückkommst, ist alles gut!“

Ihr Mann wurde nicht unwillig, eher traurig, dass sie ihm keine Ruhe liess. Und er wusste, wenn sie einmal ihren Kopf daran gesetzt hatte, dann gab sie nicht so leicht nach. Er wickelte sie sorgfältig in den Pelz und schlüpfte dann selbst in die Bärenhaut, in der er vorhin gekommen — und während er sich die schwarze Lammfellmütze auf den rotblonden Kopf stülpte, sagte er, bei allem Trotz ein wenig unsicher: „Und wenn mich Sascha Wieprecht nun mit den Händen in den Hosentaschen empfängt — so wie er gewöhnlich in seinem Kontor umhergeht — mir nicht einmal die Fingerspitzen zum Willkommen reicht — mir sozusagen die Türe weist — wie stehe ich dann da?“

„Erstens wird er das nicht tun — denn du sagst ja selbst: er ist anders wie die anderen — und steht über solchen Dummheiten — und selbst wenn: dann hast du einfach dein möglichstes getan, um versöhnlich und vernünftig zu handeln — und bist die Geschichte, die dich doch im stillen schon so lange drückt, auch los, so oder so ...“

Sie stiegen die Treppe hinab und währenddessen murmelte er unschlüssig: „Nun — ich werd’ es mir noch durch den Kopf gehen lassen!“ Aber sie unterbrach ihn sofort: „Das wirst du nicht mehr, sondern heute noch tun, um was ich dich bitte und was das einzige Vernünftige ist. Das siehst du doch selbst ein!“ Und er wusste nicht, wie er weiter sich des Besuches wehren sollte. Denn dass jener ihn wirklich schroff abweisen könnte, das glaubte er in Wirklichkeit selbst nicht. Dazu nahm Alexander Wieprecht die Menschen seiner Umgebung gar nicht ernst genug. Blieben sie weg — gut! Kamen sie wieder — auch gut! Ihn, den viel Gefürchteten und viel Bewunderten, brachte das nicht aus seiner Gemütsruhe.

Unten hatte der „Schweizar“, der Haushüter, bereits das Tor geöffnet und stand mit abgezogener Mütze da. Ein Hauch eisiger Winterkälte drang in die Warmwasserluft des Treppengebäudes und mit ihm schwere einzelne Glockenschläge und ruheloses, hundertfaches Rabengekrächze vom Kreml, und durch den Türspalt sah man das Winterbild Moskaus — den blendenden weissen Schnee, das Funkeln der Sonne auf spitzen und runden, vor dem weisslich-bläulichen Himmel schwimmenden Goldmassen, das Regenbogenbunt der grau ummauerten heiligen Stadt drüben, über dem Eis des Flusses. Sie stiegen ein und dabei sagte Marja noch einmal, aber diesmal schon ihrer Sache ganz sicher: „Also abgemacht, Mischa — du machst jetzt den Besuch! Ihr braucht ja nicht gleich miteinander Brüderschaft zu trinken. Es ist doch nur eine Geschäftssache!“ Da seufzte er und gab endgültig nach. „Nun ja! sluschba nje druschba! Dienst ist noch nicht Freundschaft! — Ich will also in Gottesnamen jetzt zu Wieprecht fahren ...“

Du bist die Ruh!

Подняться наверх