Читать книгу Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz - Страница 5

II

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Vor dem vereisten Bürgerpfad, auf den das Ehepaar hinaustrat, harrte ihrer ein Lichatsch, einer der bunt geputzten Luxuslohnkutscher Moskaus und liess, als Iwan Michels mit seiner Frau eingestiegen war und ihm sein übliches: s’Bogom! Mit Gott! ... zugerufen hatte, seinen Traber ausgreifen und in sausender Fahrt ging es längs des Flusses dahin, durch das Menschen- und Schlittengewimmel der Moskwarezkijbrücke und auf der andern Seite steil empor und über den riesigen, jetzt weiss verschneiten „Roten Platz“.

Man war hier im Herzen Moskaus. Zur Linken trotzten wieder, jetzt ganz nahe, altersgrau und vermorscht die mächtigen Mongolenmauern des Kreml mit ihren moosschwarzen Türmen, ihren von Kirchenbildern und brennenden Heiligenlämpchen überhöhten Eingangstoren und davor auf dem roten Platz stand als ein phantastisches Spukgebilde aus Stein und rotgrünem Farbenglanz und irrem Geschnörkel die Kathedrale Iwans des Schrecklichen, „der lächerliche Palast“ im Volksmund, unheimlich, wie ein Fiebertraum, gebuckelt, verkrüppelt, gerillt und geschuppt mit seinen ananas- und zwiebelförmigen Auswüchsen, die, ein ineinander geschrumpftes Bündel, ein Rattenkönig schillernder Missgeburten am Körper der Kirche hingen und diese eigentlich ausmachten. Wenn Marja diese orientalisch-drachenartige, groteske Schöpfung sah, erschien sie ihr wie ein Gleichnis der dem Westeuropäer doch ewig fremden Welt, die sie hier umgab — in der sie, still und zurückgezogen in ihrem Winkel, mit ihrem Mann und ihren Kindern lebte — ein Gleichnis für die Vermählung des Morgen- und Abendlandes, die sich hier in Moskau vollzog. Denn überall lugte hier, trotz Schnee und Winterkälte, der Orient in die alte Zarenstadt hinein — ja, diese selbst war ein Stück Asien und war eigentlich gar keine Stadt — es war eine ganze Reihe von Städten — jede von der andern durch Bewohner, Sitten und Treiben verschieden — oder eigentlich: es waren auch keine Städte — es waren Dörfer — ungeheure steinerne und hölzerne Dörfer — alle mit hunderten von bunten Kirchen und Kathedralen, von goldenen Kuppeln und grünen Klöstern und weissen Glockentürmen und amerikanischen Wolkenkratzern geschmückt, und diese Dörfer waren durch weite freie Plätze voneinander geschieden, auf denen wieder mächtige Paläste standen, oder sie gingen ineinander über, sie verschmolzen sich zu Vorstädten, Riesenhaufen elender Bretterbuden, in Schmutz und Brandschutt, schon am Rand der Föhrenwälder. Und hinter diesen Baumgruppen zeigten sich neue verschneite Dächer, neuer goldener und weisser Glanz in der trüben Luft, das Qualmen vieler Fabrikschornsteine, und so ging das weiter und weiter und nahm kaum ein Ende. Hiess es doch, dass ein rüstiger Fussgänger zwei Tage brauchte, um um Moskau herumzuwandern. Wenn Marja sich das vorstellte, dann kam sie sich wie in einen riesigen Kerker gebannt vor, der einem allen Spielraum liess und doch kein Entweichen gestattete. Man musste schon, wie ihr Mann, in Moskau geboren und aufgewachsen und halber Russe geworden sein, um sich hier heimisch zu fühlen. Und Iwan Michels betrachtete sich als Russen. Bereits sein Vater war russischer Untertan geworden. Ihm war die Zugehörigkeit zum Zarenreich das ganz Natürliche. Er hatte für die Enge deutscher Verhältnisse, wie er sie ansah — es lebten ihm noch viele Verwandte, meist in dürftiger Lage, im Königreich Sachsen — nur sein stilles, gutmütiges Lächeln.

Jetzt sass er die ganze Zeit stumm, der versprochene Besuch bei Wieprecht drückte ihn, die bevorstehenden kaufmännischen Auseinandersetzungen — alles, was mit den Geschäften zusammenhing. Er schaute, während sie über den roten Platz fuhren, nicht wie sie nach dem Kreml und der bizarren Kathedrale vor ihm, er blickte zur Rechten. Auch da erhoben sich Mauern — neue Türme und Zinnen — und hinter diesen finsteren Bollwerken des Mittelalters, an denen einst die Stürme der Tatarenhorden gebrandet, nur durch enge, menschenwimmelnde Tore mit der Aussenwelt verbunden, lag seine Welt, lag Kitai-Gorod, die „Chinesenstadt“, der Mittelpunkt des ganzen Moskauer Handels und Wandels. Hier war die City für die russischen wie für die deutschen und französischen, die englischen, amerikanischen und dänischen Firmen, für die sibirischen Kaufleute und die Perser und Tataren und Armenier, hier waren die Börse, die Warenlager und Musterräume und Bureaus. Des Nachts starb diese ganze Stadt aus. Dann blieben, ausser den Wächtern, nur noch die Priester und Mönche der vielen Kirchen und Klöster zurück, die sich von altersgrauen Zeiten her mit ihrem Glockenklang und Weihrauchdunst, ihren ewigen Lampen und wundertätigen Bildern friedlich zwischen den blau und rosa getünchten Kaufmannshöfen, den finsteren Stapelhallen und Schreibstuben erhalten hatten.

Und hier, in der Iljinkastrasse, hatte auch Iwan Michels sein noch wenig in Anspruch genommenes Kontor. Das sah er jetzt und sagte, das lange Schweigen brechend, zu seiner Frau: „Es wird jetzt auch Zeit, dass ich mich da ordentlich einrichte!“ und dann blieb er wieder still und seufzte, bis der Schlitten durch die Iberische Pforte glitt. War schon bisher das Kennzeichnende an dem ganzen Strassenleben das unaufhörliche sich Bekreuzigen und mit abgenommener Mütze sich Verbeugen vor unzähligen sichtbaren und unsichtbaren Heiligenbildern, Kirchen und geweihten Stätten gewesen, so sah man jetzt vor der winzig kleinen himmelblauen, mit grossen goldenen Sternen geschmückten Iberischen Kapelle überhaupt kaum mehr einen bedeckten Kopf. Dichte Menschengruppen drängten sich da vor dem heiligsten Heiligtum Moskaus und sanken drinnen vor dem Kerzengeflimmer zu Boden, schwarzgekleidete Nonnen standen almosensammelnd in einer Reihe davor und daneben waren leere wartende Schlitten in Menge aufgefahren, ein leiser bläulicher Wirbel von Wohlgeruch zog aus dem Innern der Kapelle heraus in die Winterluft und um die gebeugten Stirnen der da im Schnee Knieenden, und mit ihm umwob ein eigener Hauch frommer Inbrunst das stillbewegte Strassenbild.

Iwan Michels hatte, wenn er sich auch als Russen betrachtete, doch die Mütze nicht vom Kopf genommen. Er ging alle vierzehn Tage in die evangelische Kirche, wie es sein Vater und Grossvater schon in Moskau getan; darin blieb er fest. Aber er schaute doch aufmerksam nach dem kleinen blauen Gnadenort mit dem kindlichen Sternendach hinüber und sagte dann lebhafter als bisher zu Marja: „Davon hängt’s nun ab, Duscha Maja, an welchem Tage ich werde die Fabrik eröffnen können!“

„Von der Iberischen Mutter Gottes?“

Er nickte. „Von der Iberskaja!“

„Also willst du sie wirklich zur Einweihung bestellen?“

Ihr Mann zündete sich mit geübter Hand trotz der raschen Fahrt eine Papyros an und warf das Streichholz seitlings in den Schnee. „Ich will nicht, Seelchen ... ich muss! Vergiss nicht, dass alle meine Arbeiter rechtgläubige Russen sind — zum Teil aus ganz weltentlegenen Dörfern hergeholt. Die würden es einfach nicht begreifen, dass irgend ein Unternehmen ohne den Beistand der Iberischen Mutter Gottes eingeweiht werden kann. Ich muss dieser Tage gleich Schritte tun und anfragen, zu wann ich die Iberskaja bekomme ...“

„Aber das wird eine Menge Geld kosten!“

„Kanietschno!“ sagte ihr Gatte. „Natürlich! Das geht jetzt schon in einem hin. Was liegt daran, wenn ein ganzes Vermögen auf dem Spiele steht? Mein Schicksal liegt nicht hier, sondern in New York — an der Börse, wo dieser Ascott in seinem Irrsinn die Baumwollpreise weiter und weiter in die Höhe treibt!“

Damit war er wieder beim Geschäft und sprach davon wie ein Mann, den stets dieselbe, nie weichende Sorge drückt. Sie hörte ihm zu. Aber es war nichts neues — immer das alte Lied. Die Worte verklangen ihr im Ohr. Still sass sie da und hielt mit einer Hand den Bibermuff vor den Mund, um sich vor der Kälte zu schützen, und griff zuweilen mechanisch mit der andern nach der Deichsel eines zu nahe herankommenden fremden Schlittens und schob sie zur Seite, wie es alle hier Fahrenden taten. Denn jetzt, wo sie die Twersche Strasse erreicht hatten, war um sie herum alles voll Leben und Getümmel. Schwärme von winzigen, niederen Schlitten schossen schnell wie die Schwalben den steilen Hang der Fahrbahn über den Schnee dahin, der hier hellbraun und ganz locker und trocken war, kreuzten einander, wichen sich aus, überholten sich, alles ohne Streit, ohne Schellenklang und Peitschenknall, nur mit unaufhörlichen halblauten Zurufen: nach rechts! — nach links! — Und ebenso friedlich schoben sich auf den viel zu schmalen Bürgersteigen die Menschen aneinander vorbei, in rastlos neuen, farblosen, einförmigen Wellen, fast ohne Unterschied der Stände und der Kleidung. Es waren immer wieder dieselben, gebückt und langsam unter der Last des Pelzes in schweren Galoschen schreitenden Gestalten, dieselben Männer in Kaftan und hohen Stiefeln, dieselben bärtigen Bauern in umgedrehten Schaffellen und Bastschuhen, dazwischen ein Pope, die Frau am Arm, langhaarig und bebrillt, Generale und Offiziere, auch sie bis zur Unkenntlichkeit in Fellwerk vergraben, tatarische Althändler, den Sack über dem Rücken, Perser, an ihren hohen schwarzen Kegelmützen kenntlich, selten einmal das zottige Weiss einer mächtigen, tscherkessischen Kopfbedeckung und ein blutrotes Faltenspiel unter flatterndem Mantel — und wieder Braun und Grau und Schwarz. Dumpf und gleichmässig spülten die Menschenwogen dahin und riefen doch wieder durch die fast völlige Abwesenheit aller europäischen Modekleidung das Bild des Orients, wenn auch eines lichtlosen, wintertrüben, wach, mit immer denselben bärtigen Gesichtern unter den schwarzen Lammfellmützen.

Und ebenso seltsam, dem Westen fremd, war der Unterschied der Häuser — der stete Wechsel niederer Hütten und vielstöckiger Zinsgebäude, elender Kramläden und glänzender Magazine, stiller Klosterfronten und mächtiger Kron- und Adelspaläste, und auch in diesem Nebeneinander und Durcheinander der verschiedensten Menschenwohnungen zeigte sich wieder das fatalistische Gleichheitsgefühl des nahen Asiens, als dessen äusserster Vorposten auf seiner kleinen, Europa genannten Halbzunge hier das heilige Moskau die meilenweit sich senkenden und hebenden Bodenwellen der russischen Steppe bedeckte. Aber allmählich überwogen doch die dürftigen Bretterhäuschen, die winzigen Warenverschläge auf den immer schmutziger und breiter und öder werdenden Strassen — das eigentliche Moskau nahm hier ein Ende, dies Riesennest, das überall kleinstädtisch war und gleich darauf wieder barbarisch gross, alle Masse Europas überflügelnd und sich doch nie zu einheitlicher Wirkung zusammenfindend, sondern alles da stundenweit verzettelt, dort wieder in die enge Schranke mittelalterlicher Mauern und Türme hineingezwängt, so dass zum Schluss aus all dieser Mannigfaltigkeit, diesem bunten Widerspruch der Dinge, dieser Welt mit ihren Hunderten von Kirchen, ihren sich andächtig überall auf freier Strasse bekreuzigenden bärtigen Menschen, ihrem Glockenklang, ihrer ganzen, geheimnisvoll atmenden russischen Volksseele nur der Eindruck des Grenzenlosen übrig blieb.

Weiss und rot schimmernd, das Sechsgespann der Siegesgöttin auf dem Sims, stand da die Triumphpforte. Hinter ihr leuchtete der Schnee nicht mehr grau wie in der Stadt, sondern blendend weiss. Zwischen Landhäusern und Gärten begann da der Petersburger Heerweg. Kahle Baumkronen ragten in die schon langsam gegen Sonnenuntergang sich grau trübende Luft und zwischen ihnen sah man, der Stadt entronnen, in die Weite: in den weissgrauen Winterhimmel, an dessen Horizont sich violette Schneewolken ballten und ein kalter Silberglanz allmählich mit seinem Dunst von Frost und Nacht die unsichtbare, drüben sich dehnende Ebene Russlands mit ihren Wäldern und Steppen überzog.

„Stoi! Halt an!“ rief Iwan Michels dem Kutscher zu, wickelte sich aus den Decken und stieg schwerfällig aus dem Schlitten. Dabei erwiderte er den Gruss eines vorbeifahrenden baumlangen, in einen kostbaren Biberpelz gehüllten Herrn, dessen glattrasiertes Mephistogesicht mit dem funkelnden Einglas zahlreiche vernarbte Schmisse deutscher Hochschulen aufwies und der, die Zigarette schief zwischen den verwegen lächelnden Lippen, ihm herüberschrie: „Mahlzeit, Iwan Antonowitsch ... ich komm morgen mal bei Ihnen ran!“

„Geht’s nicht heute?“

„Nee ... zu viel zu schuften ... die Neuyorker sind ja rein verrückt ... Liverpool wieder zehn Punkte höher ... jetzt werden sogar hier gewisse Schlafmützen aufgerappelt ... na ... da, swidanje ...“

Er winkte mit der Hand und verschwand und Marja frug: „Wer war denn das nun wieder?“

„Das? Ein gewisser Etzel! Ein Garnmakler!“

„Und mit dem Menschen machst du Geschäfte?“

Ihr Mann lachte. „Na ja ... er ist so ein bisschen ... man weiss ja auch nichts rechtes von ihm ... Er muss lange in Amerika gewesen sein ... er kennt Neuyork genau! Was er vorher in Deutschland getrieben hat und warum er von da weg ist — darüber schweigt er sich aus.“

„Mir wäre der unheimlich!“

„Ja — Seelchen ... ich kann mir die Leute nicht so aussuchen. Dieser Charles T. Etzel ist ein fixer Kerl ... ein Gewaltmensch ... mit allen Hunden gehetzt ... man kommt mit ihm vorwärts ... wot ... das hab ich gern!“

„Mir ist’s lieber, du gehst jetzt zu Wieprecht!“

„Nun — Gott will es!“ sagte Iwan Michels ergeben. Ein Haufen Iswoschtschis war, den vornehmen Mann im Pelz erblickend, mit dem vielstimmigen Geschrei: „Poschaluite, barin! — Belieben Sie, Herr!“ auf ihn zugestürzt. Er suchte einen aus und rief seiner Frau noch einmal ein zärtliches und etwas zorniges: „Auf Wiedersehen, Duschinka!“ zu. Dann fuhr er nach links und sie geradeaus. Und Marja fühlte wieder, nunmehr allein, das angenehme leise Gleiten der Kufen auf dem harten Schnee, das lautlose Vorüberhuschen bereifter Bäume und Sträucher, vereister Vorgärten und halb unter der Wucht der Flocken begrabener Sommervillen, die schweren, kalten Windstösse der freien Ebene, die erlösende Empfindung, endlich einmal Moskau entronnen zu sein, das Auge in die Weite schweifen zu lassen.

Nun lenkte der Kutscher in das Gehölz ein, in die stillen, vielverschlungenen, von mächtigen Baumgruppen überragten Wege des Petrowskiparks. Blau, rosa, weiss getönte Holzhäuser standen verstreut da und dort inmitten der winterlichen Einsamkeit. Nur in einem, vor dem jetzt der Schlitten hielt und schon ein anderer wartend stand, kräuselte sich Rauch aus den Schornsteinen und die Gartenpfade waren sauber gefegt. Äusserlich machte das niedere Holzgebäude mit seinen kleinen Fenstern, seinen Wänden aus langen, in den Fugen mit Moos verstopften Balken einen düsteren, beinahe bäuerlich-hinterwäldlerischen Eindruck. Aber der schwand, sobald man, wie jetzt Marja, das Innere betrat. Da wiesen dicke Perserteppiche über den Parkettböden, schweres Familiensilber auf dem Sims, rotglimmende Kamine, kostbare Ölgemälde und kaukasische Waffen an den Wänden auf breit sich auslebenden russischen Reichtum und liessen es begreiflich erscheinen, dass Iwan Michels’ Mutter sich nach all den Abenteuern und Wechselfällen ihres vielbewegten und liebereichen Lebens weltmüde in diese klösterliche Stille zurückgezogen.

Die alte Salonlöwin lag, als Marja eintrat, fröstelnd in ein Eisbärenfell gehüllt auf dem Sofa. Sie schaute sehr bleich aus und auch ohne das waren ihre zu hart und stark gewordenen Züge unter dem grauen Haar nicht mehr schön zu nennen, wie sie es einst gewesen. Auch ihr Lächeln hatte sich gegen früher geändert. Es war jetzt bösartig — stiller Humor darin — nach dem Sturm und Schiffbruch ihrer drei Ehen. Sie sah jetzt die Dinge ohne Schminke und nannte sie so, unbekümmert, was irgend ein anderer Mensch auf der Welt dazu meinte.

„Ah, vous voilà, ma chèra ...“ sagte sie, eine dicke Papyros rauchend und ohne ihre Lage zu verändern, zu ihrer Schwiegertochter. „Setz dich, Goluptschik! — mein Täubchen! Dank, dass du gekommen bist! Petruscha langweilt mich schon die ganze Zeit. Nun — das tut er ja jeden Tag!“

Der als Hausfreund neben ihr sitzende kleine, peinlich sauber gekleidete Herr mit weissem Haar und Spitzbart, der sich inzwischen erhoben hatte und Marja mit etwas umständlicher, altfränkischer Höflichkeit begrüsste, war ihr Verwandter, Petruscha van Bibber, ursprünglich seiner Abstammung nach ein Holländer, der sein in Russland eingewanderter Vater auch wirklich gewesen. Aber er selbst war in Moskau geboren und aufgewachsen, hatte dort die deutsche Schule besucht und verstand kein Wort mehr von der Sprache des Landes, dessen Staatsangehöriger er immer noch war und das er zärtlich liebte und doch nie mit Augen gesehen hatte. Denn er hatte sich nie entschliessen können, sein Geschäft, die grosse Baumwollagentur, auch nur auf ein paar Wochen einem anderen anzuvertrauen. Seit man ihn kannte, stand er auf dem Punkte, in nächster Zeit nach den Niederlanden zu reisen und sich dort ein Häuschen am Meer zu kaufen und alle Baumwollsorgen aus dem Kopf zu schlagen. Er kam aber nie dazu, und inzwischen wusste der alte holländische Junggeselle eigentlich selbst nicht, wohin er in Moskau gehörte, ob zu den Deutschen oder zu den Russen.

„Asseyez-vous, mon enfant!“ wiederholte die Frau des Hauses, und schaute Marja, während sie Platz nahm, aufmerksam an. „Wie geht’s daheim? .. die Kinder wohl? Was macht Iwan?“

„Er wollte heute mitkommen. Aber ich dachte ...“

„Nein. Heute haben wir miteinander zu reden!“ sagte die alte Weltdame energisch und brachte eine neue Zigarette, die sie sich aus einem silbernen Tuladöschen gedreht, zwischen die Lippen. Sie hatte sich jetzt, nachdem sie wie gewöhnlich anfangs zwischen mehreren Sprachen geschwankt, entschlossen, deutsch zu reden, in der Erinnerung, dass ihre Schwiegertochter ja eine Reichsdeutsche sei. Für sie selbst, die geborene Russin, die von einem deutschen Gatten, Iwans Vater, geschieden war und dann zwei andere Männer, einen Franzosen und einen Dänen, begraben hatte, war der Begriff der Nationalität im Lauf der Zeit ebenso fragwürdig und unbestimmt geworden, wie bei Petruscha van Bibber.

„Nein,“ wiederholte sie, „deswegen hab ich dich ja hinaus in die Wüste gebeten — zu einer unnützen alten Frau und zu dem Onkel Petruscha, den du wahrscheinlich ja ebensowenig ausstehen kannst wie ich ...“

Der alte Herr erwiderte nichts, sondern warf nur Marja einen leidenden und entschuldigenden Blick zu, der etwa hiess: „Du weisst ja, wie sie ist. Sie nimmt nichts ernst, was sie sagt, wir kennen sie ja ...“ Madame Mascha Westrup hatte inzwischen heftig geraucht und versetzte jetzt tiefsinnig: „Ach ja — meine Liebe! Ich bin krank ... sehr krank ... die Ärzte morden mich ... zollweise ... nun, das ist ihr Handwerk ... Gott schuf sie ... zum Glück tu’ ich nicht, was sie wollen ...“

Sie goss ihrem Gast Tee ein und sagte dabei ganz geschäftsmässig: „Wenn ich tot bin, müsst ihr mich vom Strastnoy Monastir, vom Leidenskloster in der Twerskaja aus, begraben. Seit zehn Jahren bitte ich darum. Aber ihr werdet’s ja doch nicht tun. Ihr ärgert euch zu sehr, dass ihr nichts erbt. Mein Geld reicht gerade noch so weit wie ich ...“

Seit sie die Fünfzig überschritten — seit einem guten Jahrzehnt, sprach sie mit Vorliebe von ihrem demnächstigen Ende und war auch wirklich krank und wusste es und die anderen wussten es auch und sahen nur noch um Mund und Augen des gealterten Weltkindes durch die scharfe und spöttische Leidensmaske hindurch die Spuren einstiger Schönheit. Aber jetzt lächelte sie schadenfroh über die langen Gesichter ihrer Erben, und frug den Onkel Petruscha, der, obwohl er keine Familie hatte, doch für sehr geizig und für sehr geldgierig galt: „Warum schauen Sie mich denn so kläglich an?“

„Ich mag nicht, dass man immer vom Sterben spricht!“ versetzte der kleine Holländer verdriesslich, und diesmal lachte sie herzlich. „Was hilft’s? Wir müssen alle ’mal weg ... wir beide sogar recht bald ... und ein anderer wird Ihre blauen Baumwollpaketchen sortieren und es wird sein, als hätten sich der Mynheer van Bibber und die Mascha Nicolajewna Westrup niemals in ihrem Leben geliebt — es ist ja auch ganz gleich ... es wird allmählich langweilig ... meine Bekannten sind teils tot, teils sind es Dummköpfe ... und das einzige ist nur,“ sie wandte sich an ihre Schwiegertochter und während sie die Zigarette weglegte, wurde sie ernst: „Ich hab’ doch nur den einen Sohn — deinen Mann. Wir haben uns ja nie so recht verstanden — er und ich ... er ist ganz auf die andere Seite geschlagen, nach dem Vater, von dem ich mich ja nach wenigen Jahren wieder hab’ trennen müssen — und ich bin eben Russin geblieben — wenn auch ein wenig Deutsch und Französisch und Dänisch auf mich abgefärbt ist — durch die Ehe. Lieber Gott — man ist nicht umsonst von einem Mann geschieden und hat zwei andere begraben. Der Iwan aber ... der ist dir vielleicht zu russisch — mir zu deutsch. Wir haben uns ja auch so wenig im Leben gesehen. Früher eigentlich fast gar nicht. Jetzt nur selten. Aber ich will nicht klagen. Es ist ja meine Schuld. Wenn er kommt, ist er immer respektvoll und küsst mir die Hand und erzählt mir das halbe Stündchen, das er schon anstandshalber da sitzen bleibt, allerhand Nettes von euch und von seinen Baumwollgeschäften ...“

Sie wurde plötzlich lebhaft und richtete sich halb auf. „Ja — aber nun, erbarmt euch — was ist das nun für eine Geschichte mit seiner neuen Fabrik ...? Alle schütteln darüber den Kopf und zucken die Achseln: Das Unternehmen sei für ihn zu gross. Und wie ich ihm das neulich einmal gesagt hab’, hat er mir das übelgenommen, und ist seitdem nicht mehr gekommen — und weiss doch, dass ich krank bin — dass drei Ärzte mich vergiften ... der Weihrauch ist vielleicht schon im Kessel, den die Popen bei meinem Begräbnis verbrennen werden — und das einzige, was mich jetzt auf der Welt noch manchmal beunruhigt, das ist doch nur der Gedanke an ihn. Er ist ja nun einmal mein einziger Sohn ...“

„Ja — ich verstehe von seinen Geschäften so wenig!“ sagte Marja bedrückt. Onkel Petruscha aber räusperte sich und begann mit grosser Bestimmtheit, — denn das war sein Fach:

„Ich hab’s Ihnen schon oft auseinandergesetzt, Mascha! Aber Sie hören ja nie ordentlich einem Menschen bis zu Ende zu. Die Sache ist die: Was Iwan von seinem Vater geerbt hat, das hat er in die Manufaktur hineingesteckt — und noch bedeutend mehr ... an Schulden ... denn unter einer halben Million kann man heutzutage eine Spinnerei in Moskau nicht einrichten — das alles muss nun herausgewirtschaftet werden. Vor anderthalb Jahren hat er mich gefragt, ob ich ihm das Geld vorstrecken wolle. Ich hab’ ihm geantwortet: Vorstrecken nicht — aber ich bin bereit, mich damit an der Firma zu beteiligen. Ich übernehme die kaufmännische Leitung, du die technische Aufsicht in der Fabrik. — Das schlug er rundweg ab. Er sei lange genug von seinem Vater gegängelt worden. Er wolle nicht schon wieder einen Vormund über sich haben! Nun — dabei blieb’s und wenn wir uns seitdem sehen, dann schütteln wir uns die Hand und reden vom Wetter — aber nicht mehr von Geschäften ...“

„Aber einen Rat könnte man ihm doch geben!“

„Erstens hat er keinen verlangt ...“ Der grämliche, kleine Baumwollagent hüstelte dabei trocken, mit einer leichten Empfindlichkeit über diese unverdiente Nichtachtung. War doch seine Warenkenntnis in der ganzen Branche berühmt. „Und zweitens würde es nichts helfen. Es gibt Leute, die nur durch Schaden klug werden. Zu denen wird er, wenn mich nicht alles täuscht, auch gehören. Die Geschichte wächst ihm über den Kopf — in einer Zeit wie jetzt ... wo wir alten, ausgepichten Kaufleute an der Börse kaum mehr aus und ein wissen ...“

Und nach einer Weile fügte er seufzend hinzu: „Ich warte auch nur noch, bis diese Krisis vorüber ist. Dann ziehe ich mich endgültig zurück — nach Hause — nach den Niederlanden. Ich fürchte nur, in Scheveningen wird es mir auf die Dauer zu windig sein. Ich schwanke jetzt zwischen Delft und Utrecht.“

Dies holländische Projekt kannte man. Darauf antwortete niemand mehr. Es trat ein kurzes Schweigen ein. Mascha Westrup lag auf dem Sofa und rauchte und schüttelte leise, wie eine Fliege abwehrend, den Kopf über die Grillen des Alten und seine finanziellen Sorgen. Sie persönlich war in Geldsachen stets der Leichtsinn selbst gewesen und hatte das Vermögen zweier Männer — des Franzosen und des Dänen — durchgebracht, ohne sich darüber ein graues Haar wachsen zu lassen. Der Silberglanz auf ihrem Scheitel, der kam von anderen Dingen — vom Gram darüber, dass sie ihr Leben nicht noch einmal von vorn anfangen konnte, wie sie es so gerne genau ebenso noch einmal getan hätte.

„Nun — mit Gott, Petruscha!“ sagte sie unvermittelt und hielt dem alten holländischen Deutschrussen, der noch gar keine Anstalten zum Aufbruch gemacht hatte, die Hand zum Lebewohl hin. Daraufhin erhob sich Petruscha van Bibber und verabschiedete sich in umständlicher Weise — die Höflichkeit und Behutsamkeit selbst. Er war nicht böse auf Madame Westrup, dass sie ihn wegschickte. Das hatte sie den Menschen ihrer Umgebung allmählich abgewöhnt. Draussen auf dem Flur dauerte es noch eine geraume Zeit, bis er mit Hilfe der Hausmädchen in all seinem Pelzwerk, Schals und hohen Filzstiefeln verpackt war. Dann hörte man vor dem Fenster, wie er den Kutscher ermahnte, nicht wieder so unvernünftig schnell zu fahren, und endlich wurde es wieder ganz still in der tiefen Ruhe des winterlich verschneiten Parkes um das einsame Haus und in diesem selbst. Man hörte förmlich die Dämmerung, den langen dunklen Abend kommen und auf leisen Sohlen durch die niederen menschenleeren Zimmer schleichen und ihren launischen Luxus behutsam mit grauen Schleiern verhüllen.

Mehr noch als sonst hatte Marja ihrer Schwiegermutter gegenüber, die sie so selten sah, eigentlich kaum kannte, das Gefühl des einander ewig Fremd- und Fernseins. Das waren zwei zu verschiedene Welten — die grosse, in der jene gelebt und geliebt — die kleine, die sie selbst umfing — es lag zu viel dazwischen, als dass man sich je verstehen konnte. Und Marja wollte das auch eigentlich gar nicht. Sie in ihrer heiteren Ruhe empfand ein Unbehagen vor einem Leben, vor solchen Erinnerungen, wie sie jetzt wohl hinter der blassen, übergrauten Stirne da drüben wohnen mochten.

Auf dieser Stirne vertieften sich die Furchen. Mascha Westrup wickelte sich fester in das Eisbärenfell. Dann sprach sie halblaut, im Dämmern, wie zu sich selbst: „So liegt man da nun ... Abend für Abend ... und denkt ... und denkt ... nichts Gescheites ... wozu auch? ’s ist nicht der Mühe wert ... nichts auf der Welt ... Ihr werft mir immer meine Menschenverachtung vor. Aber mit der fang’ ich bei mir selber an ...“

Der zierliche Rauchringel eines Papyroswölkchens stieg von der Stelle, wo ihr Kopf in den Seidenkissen ruhte, empor und zerfloss in der sich trübenden Luft. Dann murmelte sie weiter: „Ich hab’ schon Grund dazu, meine gute, kleine Marja ... aber lassen wir’s ... Das wär’ doch nichts für dich ... und ich bereue auch nichts ... nichts ... nichts ... bloss mit der einen Ausnahme ... das quält mich jetzt immer ... jetzt erst, wo ich krank bin und mein Doktor mir bald den Rest geben wird: ich bin deinem Mann nie eine rechte Mutter gewesen ...

„Ich hab’ ihn seinem Vater überlassen müssen. Wie ich von dem geschieden war, da war mein Zorn so gross — damals war ich anders wie jetzt — da war ich noch jung und ich verstand ordentlich zu lieben und zu hassen — da wollt’ ich nichts von ihm haben, was von ihm war ... kein Geld und kein Kind — und später war es zu spät. Mein Sohn ist mir fremd geblieben — vielleicht wär’ er es auch ohne das geworden, mit seinem deutschen Blut. Wenn er kommt und dasitzt, dann wundere ich mich oft und denke: Der da und du — die sind einmal ein Leib und ein Mensch gewesen — und versteh’ das nicht recht. Und trotzdem — manchmal jetzt — des Nachts besonders — aber lach nicht, Marja ...“

„Wie sollt’ ich denn?“

„Des Nachts, wenn ich nicht schlafen kann ... da wird die Mutter in mir wach ... in mir, der Mascha Westrup! ... Da bang’ ich mich um den Iwan ... ihm selbst kann ich das nicht sagen ... er würd’ es jetzt nicht mehr verstehen ... also da lieg’ ich und hör’ den Diener draussen vor der Türe schnarchen — und denk’ mir immer wieder: wenn du nun stirbst — Herrgott im Himmel ... was wird aus dem Iwan? Er wird sicher Dummheiten machen ... er wird sein Vermögen verlieren ... Alle sagen’s ... auch Sascha Wieprecht, der gescheiteste von euch allen — der einzige, mit dem man überhaupt ein vernünftiges Wort reden kann ...“

„Iwan ist eben bei ihm!“

„So? Was hilft’s? Soll das Unglück kommen, so kommt’s! Und das möcht’ ich nicht, dass der Iwan dann plötzlich so dasteht wie jetzt ich — ganz allein auf der Welt — ohne eine Menschenseele. Dazu ist er viel zu weich — er ist ja wie ein grosses Kind ... das hält er nicht aus ...“

„Aber dazu bin ich doch da!“ sagte Marja ruhig.

Die gegenüber richtete sich halb aus ihrer liegenden Stellung auf. Man konnte ihr Gesicht in der zunehmenden Dämmerung kaum mehr unterscheiden. „Siehst du — das ist’s eben, was ich wissen möchte. Ich kümmere mich sonst um nichts mehr ... ich hab’ mich auch um eure Ehe nie gekümmert — ich war eine sehr bequeme Schwiegermutter — das wirst du mir zugestehen ...“

„Leider haben wir nie viel von dir gehabt!“

„Aber was ich so von euch gesehen hab’!“ Madame Westrup zündete sich eine neue Papyros, die zehnte oder zwölfte in dieser Stunde, an. Das Tischchen vor ihrem Lager, das Bärenfell, der Boden war mit Stummeln bedeckt. „... da hatt’ ich immer den Eindruck, als ob ihr wirklich glücklich miteinander wär’t ...“

Die junge Frau musste unwillkürlich ein wenig lachen. „Nun ja — unsere Ehe ist auch glücklich!“

„Und wie kommt denn das?“

„Ja — was soll ich dir denn um Gottes willen darauf antworten? Es ist eben so, Gott sei Dank!“

Eine Sekunde waren beide still. Daun sagte Marjas Schwiegermutter: „Du musst mir die Frage nicht übelnehmen. Die tu’ ich nicht etwa, weil ich von mir auf andere schliesse ... ich war dreimal verheiratet und es war doch ungefähr immer dasselbe Unheil — so oder so ... also das mag an mir gelegen haben und mich lass’ ich ganz aus dem Spiel ... ich schau nur euch beide an. Und da wundere ich mich eben immer: ihr seid doch so verschieden!“

„Das macht doch nichts.“

„Ja — meinetwegen — wenn der Mann die Frau geistig überragt — was ich von meinen drei Seligen gerade nicht sagen kann. Aber wenn das Umgekehrte der Fall ist — sieh: der Iwan ist ja mein Sohn und du siehst selbst, wie ich mich jetzt um ihn sorge. Aber deswegen kann ich doch die Augen nicht zumachen vor den Dingen, wie sie sind, und behaupten: Er ist ein grosser Geist. Ein seelenguter Mensch gewiss — wo er das her hat, weiss Gott! Von mir nicht — aber im übrigen ist er dir doch nicht gewachsen — in allem, was Urteil und Bildung betrifft — und Kenntnisse und Geschmack und überhaupt ... du hast doch einen ganz anderen Gesichtskreis als er ...“

„Nun — dafür hat er eben den seinen ... das Geschäft und was damit zusammenhängt ...“

„Ach ... lass mich doch mit dem Geschäft zufrieden!“ sagte die alte Weltdame verächtlich. „Geschäft heisst Geld verdienen. Geld verdienen heisst Scheuklappen rechts und links tragen — auf nichts sehen als auf sein bisschen Vorteil da vor der Nase ... einen weiten Blick bekommt man erst vom Geldausgeben — drum seh’ ich jetzt auf meine alten Tage viel schärfer als mir lieb ist,“ sie seufzte ... „und seh’ auch genau, dass ihr beide ... sage, Kind, darf ich mit dir darüber reden?“

„Wenn es dich beruhigt, dann rede nur!“

„Ja. Ich schlaf’ dann vielleicht heute Nacht besser! Ohne Morphium. Darum hab’ ich dich ja hier heraus in meine Schneegrube gebeten. Es kommt sonst nie ein Mensch, ausser dem alten langweiligen Petruscha ... der ist der einzige Anhängliche — der ist nun schon seit dreissig Jahren in mich verliebt und muss tun, was ich will — also höre ... oder soll ich erst die Lampe bringen lassen ...?“

„Nein — ich sitze ganz gern so im Dämmern.“

„Schön. Nun antworte mir einmal ganz ehrlich, Marja ... Du bist so merkwürdig ehrlich. Dir glaub’ ich: Wie du den Iwan hast kennen lernen ... in irgend einem deutschen Badeort, wo du mit deinen Eltern warst — dein seliger Vater war doch da irgend so ein grosser Tschinownik — ein hoher Beamter bei euch ...?“

„Ja. Bei Gericht.“

„Also ... wie ihr euch da verlobtet, hast du da den Iwan so gesehen, wie er nachher wirklich war ... als Gatte war ... ganz genau so ...?“

„Ganz genau so.“

„Du hast dir gar keine Illusionen über ihn gemacht ... er war nicht nachher eines schönen Morgens ein ganz anderer Mensch, wie es mir mit meinen Seligen immer gegangen ist ...?“

„Nein. Ich hab’ gewusst, wer er war — und dabei ist’s gottlob geblieben!“

„Ja — und was war er denn nun für dich?“

Die junge Frau hob den Kopf und sagte mit unwillkürlich etwas lauterer, aber ganz ruhiger Stimme: „Wie er und ich uns damals näherkamen, da hatte ich ein einziges unbeirrbares Gefühl: ‚So wie jetzt und so wie von dem da wirst du nie mehr in deinem Leben geliebt werden!‘ Und dabei ist’s geblieben! Wir sind jetzt sieben Jahre verheiratet und er ist wie am ersten Tag — die Güte und Freundschaft selbst ... er trägt mich und die Kinder auf Händen ... er verwöhnt uns viel zu sehr .., ich sag’s ihm oft ...“

„Nun — dafür kann man wohl dankbar sein!“ Es war ein hinterhaltiger Klang in der Stimme der alten müden Weltpilgerin, wie sie so dalag und durch das verwehende Zigarettenwölkchen hinaus in das Winterland schaute, um dessen kahles Geäst als das einzig Lebende auf weisser Flur die krächzenden Raben strichen.

„Freilich — er ist viel zu gut.“

„Aber Dankbarkeit ist noch nicht Liebe.“

„Doch. Ich hab’ ihn von Herzen lieb ...“

„Und das sagst du so friedlich, Täubchen ...“ Mascha Westrup lächelte schmerzlich. „Sei froh, dass du das kannst ... dasselbe Wort ... das brennt bei anderen wie das höllische Feuer ...“ Sie warf einen beinahe mütterlich-mitleidigen Blick auf die zarte junge Frau. „Ach Gott ... wie ein kleines deutsches Pensionsmädchen sitzt sie da ... so artig ... die Hände im Schoss ... ich beneide dich, Kind ... eine arme alte zerzauste Zigeunerin wie ich ... und ich beneid’ auch den Iwan ... Du bist gerade die Frau für ihn ...“

Marja wusste nicht recht, was sie erwidern sollte. Das Sprunghafte — Abgerissene — sich Widerstreitende in Wort und Klang, was ihr von da drüben in einer wunderlichen Mischung von Ironie und Sehnsucht entgegenwehte, war ihr unheimlich. Der ganze Mensch ihr gegenüber war ihr fremd, der sich aus einem reichbewegten Leben voll Liebe nichts in seine Einsamkeit hinüber gerettet hatte, als den resigniert mit allem spielenden Spott — und so wiederholte sie nur: „Ich hab’ Iwan von Herzen lieb und werd’ ihn immer lieb haben. Und wenn wirklich schwere Zeiten, wie du fürchtest, über uns kommen sollten, so wird das einzige Gute daran sein, dass ich das dann beweisen kann.“

Madame Westrup nickte. Eine Weile sassen die beiden Frauen stumm da. Dann machte die alte Dame plötzlich eine energische Bewegung, um das Zigarettendöschen aus erreichbarer Nähe wegzuschieben. Denn sie war fest entschlossen, nunmehr aus Gesundheitsrücksichten mindestens eine Viertelstunde nicht zu rauchen.

„Und die vielen Eigenschaften, die du hast und die der Iwan nicht hat ...,“ versetzte sie dabei ganz unvermittelt, „die bringt man doch mit in die Ehe ... was man eben ist ... Du bist doch viel gescheiter als der Iwan ... was machst du nun mit alledem, womit du über ihn hinausreichst ...? Denn dass du über ihn hinausreichst, das muss er doch selber merken ...“

„Nein. Er merkt es nicht,“ sagte Marja gleichmütig, beinahe heiter. „Wenn es überhaupt der Fall ist ... oder wenigstens merkt er’s nicht so, dass es ihn kränkt. Denn kränken würd’ es ihn nur, wenn ich dabei meine eigenen Wege ginge und ihn stehen liesse. Er ist ja so weich und leicht verletzt. Darum hab’ ich mich vom ersten Tag ab bemüht, ganz ihm gleich zu werden ... mich ganz auf den Boden von dem zu stellen, was er ist und worin er lebt.“

„Das hast du ganz bewusst getan?“

„Ja. Das hielt ich für meine Pflicht gegenüber einem Menschen, der mich so liebt, dass ich ihm wirklich alles im Leben bin — und das ist das ganze Geheimnis, warum wir so glücklich miteinander sind.“

„Da hast du ihm vieles geopfert, Marja!“

„Manches freilich ... oder geopfert eigentlich nicht. ... Es ist nur manches enger um mich geworden, kleiner, als ich mir das als Mädchen gedacht hab’! Man sieht jetzt mehr in die Nähe ... was jeder Tag mit sich bringt ... im Kommen und Gehen ... und das da draussen ... in der Ferne ... das vergisst man allmählich ... man hat gar kein Verlangen mehr danach ...“

„Und da bereust du nichts?“

„Nein — wahrhaftig nichts! Denn ohne das könnten Iwan und ich nicht so als gute Kameraden mit einander gehen. Wenn zwei verschiedenen Schritt haben, dann muss doch der Schnellere auf den anderen Rücksicht nehmen. Das hab’ ich mir von Anfang an klar gemacht ...“

„... auch dass ... ja, dass man da doch eigentlich geistig ein wenig einbüsst ... nimm mir’s nicht übel ... aber das ist doch notwendig damit verbunden ...“

„Gott ... ob man sich und anderen nun ein wenig gescheiter oder weniger gescheit vorkommt ...“ sagte die junge Frau und lächelte. „Es liegen eben dann einfach gewisse Strecken in einem brach ... sogar ziemlich viele und vielleicht auch ganz reiche ... eben alle die, von denen ich weiss, dass Iwan sie nicht mit mir teilen kann. ... Um die bin ich nun freilich ärmer geworden. Aber ich ertrage das mit grosser Philosophie. Ich hab’ dagegen so viel anderes eingetauscht ...“

„Und du sehnst dich auch nie danach?“

„Ach — manchmal, wenn ich allein bin — namentlich wenn ich am Fenster steh’ und drüben den bunten Kreml seh’ — wie ein Märchen im Schnee — dann lass ich einmal meine Gedanken fliegen — so ins Blaue hinein, wie man’s als Mädchen getan hat ... das ist gar kein unangenehmes Gefühl ... mehr eine Spielerei ... es ist ja auch alles so unbestimmt ... man kann sich gar nichts Rechtes mehr darunter vorstellen — und wenn man dann wieder daheim ist, dann fühl’ ich mich doppelt wohl — in meinen vier engen Wänden — mit meinen Kindern und mit Iwan ... und in unserer Ruhe ...“

Es war jetzt schon halbdunkel im Zimmer geworden und in dem Schatten der Portière über dem Diwan glimmte ein Feuerpünktchen auf. Madame Westrup hatte ihren Vorsatz der Entsagung aufgegeben und wieder nach der geliebten Tuladose mit bessarabischem Tabak gegriffen. „Ja ... die Ruhe ...“ sagte sie. „Es gibt zweierlei Art von Ruhe — die, die du hast — und die, die ich hab’ ... Ich hab’ alles durchgemacht ... das Leben, wie mir’s jetzt vorkommt, ist eine Art Krankheit, die man so und so oft hintereinander übersteht und sich ganz daran gewöhnt, bis man beim letzten Rückfall daran stirbt. Das ist das Ziel, das sich mein Doktor jetzt gesetzt hat, weil er begriffen hat, wie unnütz ich auf der Welt bin — er verlangt, ich solle das Morphium aufgeben, der Esel ... nun, Frauen, wie mich — die sollte man überhaupt nicht älter als neununddreissig werden lassen — der Rest ist Unsinn ...“

Sie brach ab, um ihre Gedanken zu sammeln, und fuhr dann fort: „Also ich bin ruhig, weil mir nichts mehr passieren kann. Du bist ruhig, weil dir noch nichts passiert ist. Du bist noch unberührt, du weisst noch nichts von der bösen Welt da draussen. Wie ein junges Mädchen bist du — gar nicht wie eine Frau, die schon ein paar dicke, kleine Kinder daheim hat. Aber sei auf der Hut, Täubchen! Wer meine Ruhe hat — der kann daliegen und Papyrosse rauchen und, was da will, an sich kommen lassen. Es tut ihm nichts mehr. Aber in deiner Ruhe — da ist noch die Gefahr ...“

Marja musste lachen. „Da sei unbesorgt. Ich geh’ meinen Weg ... da hat mich noch nichts nur einen Zoll breit von ihm gebracht ... und so wird’s bleiben ...“ Aber die ihr gegenüber schüttelte zweifelnd das blasse, graue, von den letzten Schönheitslinien durchzogene Haupt: „Du hast deinem Mann viel geopfert! Vielleicht zu viel. Und eigentlich nicht der Liebe, sondern der Dankbarkeit. Mög das nur nicht einmal zurückkommen und bei dir anpochen. Ich möcht’ ja so hoffen, dass das nicht geschieht ... ich möcht’ drum beten, dass der Iwan, der nie eine Mutter gehabt hat, bei seiner Frau gut aufgehoben und versorgt bleibt. Aber ich hab’ immer die Angst: Auf die Dauer kann ein Mensch nicht so viel in sich unterdrücken ... da wächst es und wird immer stärker ... ich wenigstens ... ich hätt’ das nie gekonnt ... ich hab’s freilich auch nie versucht. Ich hab’ mich immer ausgegeben, wie ich nun einmal war ...“

Voll einer für ihr leidendes Aussehen überraschenden Spannkraft erhob sie sich plötzlich von ihrem Lager und stand vor der jungen Frau, sie mit ihrer immer noch auffallend schönen, trotz ihrer sechzig Jahre schlanken und straffen Rassegestalt um ein paar Fingerbreit überragend. Sie nahm den Kopf Marjas, die geduldig stillhielt, in die Hände, und bemühte sich aufmerksam, in dem dämmerigen Halblicht ihr unbefangen lächelndes, jugendfrisches Antlitz zu ergründen. „Wenn nur die Augen nicht wären ...“ murmelte sie dabei gedankenvoll und liess den Blick nicht von den beiden ruhig zu ihr emporgerichteten braunen Pupillen. „... ganz, ganz dahinten steckt was ... da schläft was ... das bist noch nicht du ... wenn du nur nicht noch mal was siehst, was du jetzt noch nicht ahnst! Dann denk an mich ... nein ... denk nicht an mich, sondern was du mir eben gesagt hast ... und sei tapfer, du liebe Kleine ... halt aus bei unserem armen Iwan ...“

Marja hatte sich auch erhoben, entschlossen, das Gespräch abzubrechen. „Also nochmals ...“ sagte sie, „solange Iwan lebt und mich braucht, bin ich an seiner Seite. Das verspreche ich dir noch einmal heilig und feierlich — obwohl nach meinem Empfinden so viel grosse Worte gar nicht not tun. Denn mir erscheint das ganz selbstverständlich und ist es ja doch auch. Und nun will ich in die Stadt zurück. Sonst kommt Iwan womöglich noch vor mir von Herrn Wieprecht heim und findet die Wohnung dunkel ...“

Sie beugte sich über die Hand ihrer Schwiegermutter und die zog sie zu sich empor und küsste sie nach russischer Art auf beide Wangen und den Mund, und dabei fühlte Marja, dass das Antlitz der andern von Tränen feucht war. Und auch Madame Westrups Stimme zitterte von einer kränklichen Rührung. „Nun denn, mit Gott, Kind ... ich danke dir, dass du gekommen bist und mir das alles gesagt hast. Du hast mir Ruhe gebracht. Ich glaub’ jetzt an dich. Du bist besser als ich. Und ich wünsch’ dir nur das eine: mögst du all das nicht erleben, was ich jetzt mit mir ins Grab nehme ... sehr bald wahrscheinlich ... ich bin den Ärzten nicht mehr gewachsen ... erzähle das dem Iwan ... am Ende schaut er dann doch noch einmal nach mir, ehe es zu spät ist ... und grüss die Enkelchen von mir ... die kleinen Engel ... vielleicht seh’ ich sie gar nicht wieder ... vielleicht hat unser Herrgott schon in den nächsten Tagen endlich an mir genug ... Zeit wär’s! Und höre, Schatz ...“ rief sie ihrer Schwiegertochter nach, als die schon die Flurtreppe hinabschritt, „mach doch auf dem Heimweg den kleinen Umweg über die Schmiedebrücke — zu Boissonade ... du weisst, das Handschuhmagazin. Er soll mir doch endlich das neue Dutzend Mousquetaires schicken ... sag ihm, ich brauchte sie dringend ... wenn ich einmal nach den Fasten in die Oper fahren wollte ...“

Marja musste über die plötzliche Wandlung der alten Weltdame lachen. Das war wirklich wieder sie, die unverwüstliche Komödiantin, die bis zum letzten Atemzug auf der Bühne des Lebens draussen stand, so sehr sie es auch verachtete und so krank sie auch in Wahrheit war. „Gut — ich werd’ es besorgen!“ erwiderte sie, stieg in den Schlitten und fuhr nach Moskau zurück.

Du bist die Ruh!

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